Montag, 29. Oktober 2012

Wer oder was veränderte die Welt?



Wer oder was veränderte die Welt?
Von Heerke Hummel
(Erschienen in: „Das Blättchen“, Nr. 22/ 2012)
Nach John Reed waren es wohl vor allem zehn Tage, die vor nunmehr 95 Jahren die Welt erschütterten.  Dieser Aussage des amerikanischen Journalisten und Arbeiterführers, der die Oktoberrevolution in Russland (Beginn 7. November nach dem derzeit gültigen Gregorianischen Kalender) hautnah miterlebte und auch Lenin kennenlernte, ist auch heute, in Kenntnis des dann folgenden Verlaufs der Weltgeschichte, nicht zu widersprechen. Aber was würde ihm und den führenden Akteuren der großen Welterschütterung alles durch den Kopf gehen, könnten sie aus dem Grabe steigen und erfahren, was aus ihrem damaligen Werk von „zehn Tagen“ geworden ist?
Sie fühlten sich als Erben und Vollstrecker des philosophisch-politischen Werks von Karl Marx. Der hatte 1845 in seinen „Thesen über Feuerbach“ angemahnt, die Philosophie möge die Wirklichkeit nicht nur anschauend, betrachtend erfassen, sondern sie – wie er es in seiner neuen, dialektisch-materialistischen Weltanschauung tat – praktisch tätig werdend zu ihrem Betätigungsfeld machen. Prägnant  formuliert wird das in der berühmten 11. These: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“
Karl Marx, dessen Standpunkt „die menschliche Gesellschaft, oder die vergesellschaftete Menschheit“ (These 10) war, schlussfolgerte daher aus seiner ökonomischen Analyse der bürgerlichen Gesellschaft im „Kapital“ auf die historische Mission des internationalen Proletariats, seine Klassendiktatur zu errichten und im Ergebnis einer revolutionären Umwälzung der Produktionsverhältnisse, insbesondere der Eigentumsverhältnisse, eine neue Gesellschaftsordnung mit einer neuen, gesellschaftlichen Produktionsweise – im Unterschied zur alten, privat-kapitalistischen – zu schaffen. Für die Erfüllung dieser Mission schien W. I. Lenin der Zeitpunkt gekommen zu sein, als die Völker Europas in dem schlimmsten aller Kriege ihrer Geschichte dem Kapital einen dreijährigen, bis dahin nicht gekannten Blutzoll geleistet hatten und russische Soldaten kriegsmüde die Schlachtfelder verließen.
Heute, fast hundert Jahre danach, scheint der dann folgende, sieben Jahrzehnte  lange Kampf der Völker des ehemaligen Zarenreiches gegen eine ungeheure kapitalistisch-imperialistische Übermacht, scheinen alle Not und das ganze Elend, alle Entbehrungen einer verzweifelten ökonomischen und militärischen Aufholjagt vergeblich gewesen zu sein. Denn die da immer schon litten und nach der Oktoberrevolution weiter gelitten haben, sie sehen sich nun, nach jener nochmaligen Umwälzung vor rund zwanzig Jahren in der gleichen sozialen Situation wie ihre „Klassenbrüder“ in der westlichen Welt – als Diener und Ausbeutungsopfer einer herrschenden Oberschicht von Reichen. Deren Charakterisierung als Kapitalisten wäre, in Eurasien wie in Amerika gleichermaßen, irreführend, weil sie auf gesellschaftliche Bedingungen hinwiese, wie sie zu Zeiten von Marx und Engels gegeben waren. Heute aber leben wir in einer gründlich veränderten Welt, die auf eine neue Art und Weise produziert und kommuniziert. Die heutige Gesellschaft verfügt über völlig neue Produktivkräfte, welche die Kooperation auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens, bis hin zu den Eigentumsbeziehungen, internationalisierten und so „ganz nebenbei“ zu einer grundlegenden Umgestaltung des weltweiten Geld- und Finanzsystems führten,  das eine Wesensänderung erfahren hat. Das Geld selbst ist keine Ware, kein Wertgegenstand mehr, sondern drückt, egal ob als Banknote oder elektronisches Medium, Recht auf Teilhabe am realen, sachlichen Reichtum der Gesellschaft aus. Verändert hat sich somit auch das Wesen der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse.
Das Proletariat hatte, entgegen der Erwartung von Karl Marx, diese Veränderung in der Ökonomik nicht herbeigeführt. Zurückzuführen ist der Wandel vor allem auf die Leistungen einer seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entstandenen, ganz neuen gesellschaftlichen Kraft, deren Bedeutung von den kommunistischen Führungen des Ostens völlig ungenügend erkannt und gewürdigt wurde, weil man bis zum sogenannten Ende des Sozialismus vor rund zwei Jahrzehnten nicht bereit war, Marxsche Theoreme des „Wissenschaftlichen Sozialismus“ infrage zu stellen. Es war die wissenschaftlich-technische Intelligenz. Sie fand in den bürgerlichen Verhältnissen mit ihrem eigenverantwortlichen, hoch flexiblen Unternehmertum optimale Wirkungsbedingungen.
Die späten Reformen im kommunistischen Osten waren die Folge eines Umdenkens in den Partei- und Staatsführungen zunächst Chinas und dann der UdSSR, eines Lossagens von Dogmen einer Wissenschaft vom Sozialismus. Sie orientierten sich nicht an philosophischer Theorie, sondern an ganz praktischen Erfordernissen, und dienten ihrem Wesen nach dazu, auch hier im Osten die im Westen beobachteten Verhältnisse weitestgehend zu kopieren; wobei jeweils für einen ökonomischen Großraum eine staatliche  Zentralmacht erhalten wurde, die gewillt und in der Lage ist, gravierende ökonomische Prozesse wirtschafts- und finanzpolitisch im nationalen Interesse zu steuern. Ihr Ziel ist offensichtlich nicht mehr die Gestaltung einer bestimmten „besseren“ Gesellschaftsordnung (einer weitgehenden kollektiven Gleichheit), sondern die Erreichung einer weltweiten ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit im nationalen bzw. regionalen Interesse.
In der westlichen Hemisphäre hatte schon 20 Jahre zuvor ebenfalls ein Staatsmann eine Reform mit weltweiten Folgen ausgelöst, die allerdings nur als kurzes Gewitter an den Finanzmärkten wahrgenommen wurde, schnell wieder vergessen war und in ihrer theoretischen wie praktischen Bedeutung bisher offenbar unverstanden blieb. Es war US-Präsident Richard Nixon. 1971 kündigte er das Abkommen von Bretton Woods aus dem Jahre 1944, indem er die Konvertibilität des US-Dollars in Gold aufhob und damit das internationale Währungs- und Finanzsystem revolutionierte und ihm seinen privaten Charakter nahm. Sein Entschluss entfesselte den Finanzmarkt, dessen Irrsinn die Welt seit nunmehr genau vier Jahren ununterbrochen in Atem hält, ohne Aussicht darauf, dass es den derzeit amtierenden Regierungen gelingt, das Chaos zu beherrschen.
Als Nixon 1971 seine Entscheidung traf, tat auch er es weder aus philosophischer noch aus geldtheoretischer Einsicht, sondern auf Anraten seines Beraters Paul Volcker und einzig und allein der äußersten Not gehorchend mit dem Ziel, die immensen Goldreserven seines hoch überschuldeten Staates vor dem Zugriff der Gläubiger in aller Welt zu schützen. Weder er noch sein Berater und die Welt verstanden, was er da tat und was da eigentlich geschah, welche Konsequenzen die Maßnahme haben musste. Hätten sie es gewusst, so hätte das Finanz- und Wirtschaftsrecht, eigentlich sogar die Verfassung, der USA und ihrer damaligen Verbündeten neu geschrieben werden müssen, um den Umgang mit diesem sozusagen neuartigen Geld zu regeln und das Funktionieren des in seinem Wesen neu gestalteten Wirtschaftssystems zu gewährleisten.
Doch ohne Kenntnis und tiefes Verstehen der Marxschen Theorie vom Warenaustausch und vom Geld, ohne ein Weiterdenken auf dieser Grundlage, sind theoretische Einsicht und praktische Beherrschung des ökonomischen Systems der Gegenwart kaum möglich und schon gar nicht zu erwarten. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble brachte es erst kürzlich zu wiederholtem Male mit der Feststellung auf den Punkt, man arbeite nach der Methode „Versuch und Irrtum“.
(Zur Vertiefung empfohlene Bücher von H. Hummel:
„Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum. Eine ökonomische Analyse am Beginn des 21. Jahrhunderts“, Projekte Verlag, Halle 2005;
„Gesellschaft im Irrgarten. Die Tragik nicht nur linker Missverständnisse“, Nora Verlag, Berlin 2009;
siehe auch “www.heerke-hummel.de“)


Kommentar dazu von Bernhard Mankwald im "Blättchen"-Forum:

Heerke Hummel schreibt in seinem aktuellen Beitrag zum Jahrestag der “Oktoberrevolution”, Lenin habe damals versucht, die Diktatur des Proletariats zu verwirklichen. Aber war das auf diese Weise überhaupt möglich?
Marx dachte, das Bewußtsein der Notwendigkeit einer Revolution gehe von der Arbeiterklasse aus – Lenin meinte, es müsse ihr von Intellektuellen gebracht werden. Marx betonte die Wichtigkeit demokratischer Stukturen für die Pariser Commune – Lenin mokierte sich über “spielerischen Demokratismus”. Marx bekämpfte Bakunin, weil er ihn nicht ohne Grund verdächtigte, mit Hilfe einer hierarchisch strukturierten Organisation die Diktatur ü b e r das Proletariat anzustreben – Lenin gründete eine solche Organisation und errichtete eine solche Herrschaft. Soweit in Kürze die Argumentation, die ich in einem Buch (“Das Rezept des Dr. Marx”) ausführlicher vorgetragen habe. Daß schließlich Lenin vor seinem Erfahrungshintergrund wichtige Unterscheidungen wie etwa diejenige zwischen Diktatur und Despotismus außer Acht ließ, habe ich bereits in meinem Beitrag zu Blättchen Nr. 13 nachzuweisen versucht.
Ich halte es daher für ungerecht, Marx für den Oktober und dessen Folgen verantwortlich zu machen. Ich halte es auch für sehr unklug: man halst sich damit ohne Not eine drückende Hypothek auf – an einem Gebäude, das längst in fremden Händen ist.


Meine Erwiderung darauf

Lieber Bernhard Mankwald, ich stimme Ihnen vollkommen zu. Es war aber durchaus nicht meine Absicht, Marx für den Oktober 1917 und alles, was dem folgte, verantwortlich zu machen. Und ich glaube, das auch nicht wirklich getan zu haben. Marx war gewiss ein Denkriese seiner Zeit. Aber ein Hellseher war er nicht und konnte und wollte er wohl auch nicht sein. Auch das macht den Unterschied zwischen ihm und seinen Gralshütern aus, die die entscheidenden, für Marx nicht vorhersehbaren Veränderungen in der Welt, insbesondere in den Produktivkräften mit ihren Folgen für die Produktions- und Austauschweise der Gesellschaft nur sehr bedingt zu verstehen vermochten. Sogar die über Jahrzehnte so viel zitierte 11. Feuerbachthese wurde dogmatisch verabsolutiert und offiziell in ihrer Ambivalenz nie kritisch hinterfragt. Sie war aus der Sicht von Karl Marx völlig verständlich. Doch aus heutiger Sicht, in Kenntnis der Geschichte des 20. Jahrhunderts, halte ich sie nur sehr bedingt für noch angebracht. Auch das sollen keine Schuldzuweisungen sein, sondern nüchterne Feststellung.
Mit besten Grüßen
H. H.


B. Mankwald darauf

Lieber Heerke Hummel,
da sind wir uns über die Verantwortung von Marx einig. Aber Sie betonen eher die Veränderungen der Zwischenzeit, ich die Verfälschungen seiner Thesen, die gerade den “Gralshütern” unterliefen. Und ohne diese Verfälschungen ist Marx für meine Begriffe aktueller, als Sie es ihm zubilligen.
Nehmen wir nur die “Diktatur des Proletariats” (oder die “Klassendiktatur”, für die ich allerdings nur einen einzigen Beleg gefunden habe). Die vielfältigen Implikationen dieser hochgradig abstrakten Formel sind sicher nicht leicht zu verstehen. Aber wenn man die Machtverhältnisse, die 1917 geschaffen wurden, nüchtern betrachtet, kann man m. E. nur sagen: das war sie nicht! Lenin selbst schrieb ja bei einer Gelegenheit, er habe eine “regelrechte Oligarchie” errichtet.
Auch bei den Feuerbachthesen gibt es ja nicht nur die 11., sondern auch die 3.. Die haben die Dogmatischen Verabsolutierer wohl nicht so gern erwähnt; hatten sie doch selbst “die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist” geteilt.
Ansonsten denke ich, daß Marx auch auf ökonomischem Gebiet noch eine Menge hergibt. Aber d i e Diskussion würde wohl den Rahmen des Forums sprengen.
Mit besten Grüßen
B.M.


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