Wer oder was veränderte die Welt?
Von Heerke Hummel
(Erschienen
in: „Das Blättchen“, Nr. 22/ 2012)
Nach
John Reed waren es wohl vor allem zehn Tage, die vor nunmehr 95 Jahren die Welt
erschütterten. Dieser Aussage des
amerikanischen Journalisten und Arbeiterführers, der die Oktoberrevolution in
Russland (Beginn 7. November nach dem derzeit gültigen Gregorianischen
Kalender) hautnah miterlebte und auch Lenin kennenlernte, ist auch heute, in
Kenntnis des dann folgenden Verlaufs der Weltgeschichte, nicht zu
widersprechen. Aber was würde ihm und den führenden Akteuren der großen
Welterschütterung alles durch den Kopf gehen, könnten sie aus dem Grabe steigen
und erfahren, was aus ihrem damaligen Werk von „zehn Tagen“ geworden ist?
Sie
fühlten sich als Erben und Vollstrecker des philosophisch-politischen Werks von
Karl Marx. Der hatte 1845 in seinen „Thesen über Feuerbach“ angemahnt, die
Philosophie möge die Wirklichkeit nicht nur anschauend, betrachtend erfassen,
sondern sie – wie er es in seiner neuen, dialektisch-materialistischen
Weltanschauung tat – praktisch tätig werdend zu ihrem Betätigungsfeld machen.
Prägnant formuliert wird das in der
berühmten 11. These: „Die Philosophen haben die Welt nur
verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“
Karl Marx, dessen Standpunkt „die menschliche Gesellschaft,
oder die vergesellschaftete Menschheit“ (These 10) war, schlussfolgerte daher
aus seiner ökonomischen Analyse der bürgerlichen Gesellschaft im „Kapital“ auf
die historische Mission des internationalen Proletariats, seine Klassendiktatur
zu errichten und im Ergebnis einer revolutionären Umwälzung der
Produktionsverhältnisse, insbesondere der Eigentumsverhältnisse, eine neue
Gesellschaftsordnung mit einer neuen, gesellschaftlichen Produktionsweise – im
Unterschied zur alten, privat-kapitalistischen – zu schaffen. Für die Erfüllung
dieser Mission schien W. I. Lenin der Zeitpunkt gekommen zu sein, als die
Völker Europas in dem schlimmsten aller Kriege ihrer Geschichte dem Kapital einen
dreijährigen, bis dahin nicht gekannten Blutzoll geleistet hatten und russische
Soldaten kriegsmüde die Schlachtfelder verließen.
Heute, fast hundert Jahre danach, scheint der dann
folgende, sieben Jahrzehnte lange Kampf
der Völker des ehemaligen Zarenreiches gegen eine ungeheure
kapitalistisch-imperialistische Übermacht, scheinen alle Not und das ganze Elend,
alle Entbehrungen einer verzweifelten ökonomischen und militärischen Aufholjagt
vergeblich gewesen zu sein. Denn die da immer schon litten und nach der
Oktoberrevolution weiter gelitten haben, sie sehen sich nun, nach jener
nochmaligen Umwälzung vor rund zwanzig Jahren in der gleichen sozialen
Situation wie ihre „Klassenbrüder“ in der westlichen Welt – als Diener und
Ausbeutungsopfer einer herrschenden Oberschicht von Reichen. Deren
Charakterisierung als Kapitalisten wäre, in Eurasien wie in Amerika
gleichermaßen, irreführend, weil sie auf gesellschaftliche Bedingungen hinwiese,
wie sie zu Zeiten von Marx und Engels gegeben waren. Heute aber leben wir in einer
gründlich veränderten Welt, die auf eine neue Art und Weise produziert und
kommuniziert. Die heutige Gesellschaft verfügt über völlig neue
Produktivkräfte, welche die Kooperation auf allen Gebieten des
gesellschaftlichen Lebens, bis hin zu den Eigentumsbeziehungen, internationalisierten
und so „ganz nebenbei“ zu einer grundlegenden Umgestaltung des weltweiten Geld-
und Finanzsystems führten, das eine
Wesensänderung erfahren hat. Das Geld selbst ist keine Ware, kein
Wertgegenstand mehr, sondern drückt, egal ob als Banknote oder elektronisches
Medium, Recht auf Teilhabe am realen, sachlichen Reichtum der Gesellschaft aus.
Verändert hat sich somit auch das Wesen der gesellschaftlichen
Produktionsverhältnisse.
Das Proletariat hatte, entgegen der Erwartung von
Karl Marx, diese Veränderung in der Ökonomik nicht herbeigeführt.
Zurückzuführen ist der Wandel vor allem auf die Leistungen einer seit dem Ende
des 18. Jahrhunderts entstandenen, ganz neuen gesellschaftlichen Kraft, deren
Bedeutung von den kommunistischen Führungen des Ostens völlig ungenügend
erkannt und gewürdigt wurde, weil man bis zum sogenannten Ende des Sozialismus
vor rund zwei Jahrzehnten nicht bereit war, Marxsche Theoreme des
„Wissenschaftlichen Sozialismus“ infrage zu stellen. Es war die
wissenschaftlich-technische Intelligenz. Sie fand in den bürgerlichen
Verhältnissen mit ihrem eigenverantwortlichen, hoch flexiblen Unternehmertum
optimale Wirkungsbedingungen.
Die späten Reformen im kommunistischen Osten waren
die Folge eines Umdenkens in den Partei- und Staatsführungen zunächst Chinas
und dann der UdSSR, eines Lossagens von Dogmen einer Wissenschaft vom Sozialismus.
Sie orientierten sich nicht an philosophischer Theorie, sondern an ganz
praktischen Erfordernissen, und dienten ihrem Wesen nach dazu, auch hier im
Osten die im Westen beobachteten Verhältnisse weitestgehend zu kopieren; wobei jeweils
für einen ökonomischen Großraum eine staatliche Zentralmacht erhalten wurde, die gewillt und
in der Lage ist, gravierende ökonomische Prozesse wirtschafts- und
finanzpolitisch im nationalen Interesse zu steuern. Ihr Ziel ist offensichtlich
nicht mehr die Gestaltung einer bestimmten „besseren“ Gesellschaftsordnung
(einer weitgehenden kollektiven Gleichheit), sondern die Erreichung einer
weltweiten ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit im nationalen bzw. regionalen Interesse.
In der westlichen Hemisphäre hatte schon 20 Jahre
zuvor ebenfalls ein Staatsmann eine Reform mit weltweiten Folgen ausgelöst, die
allerdings nur als kurzes Gewitter an den Finanzmärkten wahrgenommen wurde,
schnell wieder vergessen war und in ihrer theoretischen wie praktischen
Bedeutung bisher offenbar unverstanden blieb. Es war US-Präsident Richard
Nixon. 1971 kündigte er das Abkommen von Bretton Woods aus dem Jahre 1944, indem
er die Konvertibilität des US-Dollars in Gold aufhob und damit das
internationale Währungs- und Finanzsystem revolutionierte und ihm seinen privaten Charakter nahm. Sein
Entschluss entfesselte den Finanzmarkt, dessen Irrsinn die Welt seit nunmehr
genau vier Jahren ununterbrochen in Atem hält, ohne Aussicht darauf, dass es
den derzeit amtierenden Regierungen gelingt, das Chaos zu beherrschen.
Als Nixon 1971 seine Entscheidung traf, tat auch er
es weder aus philosophischer noch aus geldtheoretischer Einsicht, sondern auf
Anraten seines Beraters Paul Volcker und einzig und allein der äußersten Not
gehorchend mit dem Ziel, die immensen Goldreserven seines hoch überschuldeten
Staates vor dem Zugriff der Gläubiger in aller Welt zu schützen. Weder er noch
sein Berater und die Welt verstanden, was er da tat und was da eigentlich
geschah, welche Konsequenzen die Maßnahme haben musste. Hätten sie es gewusst,
so hätte das Finanz- und Wirtschaftsrecht, eigentlich sogar die Verfassung, der
USA und ihrer damaligen Verbündeten neu geschrieben werden müssen, um den
Umgang mit diesem sozusagen neuartigen Geld zu regeln und das Funktionieren des
in seinem Wesen neu gestalteten Wirtschaftssystems zu gewährleisten.
Doch ohne Kenntnis und tiefes Verstehen der
Marxschen Theorie vom Warenaustausch und vom Geld, ohne ein Weiterdenken auf
dieser Grundlage, sind theoretische Einsicht und praktische Beherrschung des
ökonomischen Systems der Gegenwart kaum möglich und schon gar nicht zu
erwarten. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble brachte es erst kürzlich zu
wiederholtem Male mit der Feststellung auf den Punkt, man arbeite nach der
Methode „Versuch und Irrtum“.
(Zur
Vertiefung empfohlene Bücher von H. Hummel:
„Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum. Eine ökonomische Analyse am Beginn des 21. Jahrhunderts“, Projekte Verlag, Halle 2005;
„Gesellschaft im Irrgarten. Die Tragik nicht nur linker Missverständnisse“, Nora Verlag, Berlin 2009;
siehe auch “www.heerke-hummel.de“)
„Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum. Eine ökonomische Analyse am Beginn des 21. Jahrhunderts“, Projekte Verlag, Halle 2005;
„Gesellschaft im Irrgarten. Die Tragik nicht nur linker Missverständnisse“, Nora Verlag, Berlin 2009;
siehe auch “www.heerke-hummel.de“)
Kommentar dazu von Bernhard Mankwald im "Blättchen"-Forum:
Heerke Hummel schreibt in seinem aktuellen
Beitrag zum Jahrestag der “Oktoberrevolution”, Lenin habe damals
versucht, die Diktatur des Proletariats zu verwirklichen. Aber war das
auf diese Weise überhaupt möglich?
Marx dachte, das Bewußtsein der Notwendigkeit einer Revolution gehe von der Arbeiterklasse aus – Lenin meinte, es müsse ihr von Intellektuellen gebracht werden. Marx betonte die Wichtigkeit demokratischer Stukturen für die Pariser Commune – Lenin mokierte sich über “spielerischen Demokratismus”. Marx bekämpfte Bakunin, weil er ihn nicht ohne Grund verdächtigte, mit Hilfe einer hierarchisch strukturierten Organisation die Diktatur ü b e r das Proletariat anzustreben – Lenin gründete eine solche Organisation und errichtete eine solche Herrschaft. Soweit in Kürze die Argumentation, die ich in einem Buch (“Das Rezept des Dr. Marx”) ausführlicher vorgetragen habe. Daß schließlich Lenin vor seinem Erfahrungshintergrund wichtige Unterscheidungen wie etwa diejenige zwischen Diktatur und Despotismus außer Acht ließ, habe ich bereits in meinem Beitrag zu Blättchen Nr. 13 nachzuweisen versucht.
Ich halte es daher für ungerecht, Marx für den Oktober und dessen Folgen verantwortlich zu machen. Ich halte es auch für sehr unklug: man halst sich damit ohne Not eine drückende Hypothek auf – an einem Gebäude, das längst in fremden Händen ist.
Marx dachte, das Bewußtsein der Notwendigkeit einer Revolution gehe von der Arbeiterklasse aus – Lenin meinte, es müsse ihr von Intellektuellen gebracht werden. Marx betonte die Wichtigkeit demokratischer Stukturen für die Pariser Commune – Lenin mokierte sich über “spielerischen Demokratismus”. Marx bekämpfte Bakunin, weil er ihn nicht ohne Grund verdächtigte, mit Hilfe einer hierarchisch strukturierten Organisation die Diktatur ü b e r das Proletariat anzustreben – Lenin gründete eine solche Organisation und errichtete eine solche Herrschaft. Soweit in Kürze die Argumentation, die ich in einem Buch (“Das Rezept des Dr. Marx”) ausführlicher vorgetragen habe. Daß schließlich Lenin vor seinem Erfahrungshintergrund wichtige Unterscheidungen wie etwa diejenige zwischen Diktatur und Despotismus außer Acht ließ, habe ich bereits in meinem Beitrag zu Blättchen Nr. 13 nachzuweisen versucht.
Ich halte es daher für ungerecht, Marx für den Oktober und dessen Folgen verantwortlich zu machen. Ich halte es auch für sehr unklug: man halst sich damit ohne Not eine drückende Hypothek auf – an einem Gebäude, das längst in fremden Händen ist.
Meine Erwiderung darauf
Lieber Bernhard Mankwald, ich stimme Ihnen
vollkommen zu. Es war aber durchaus nicht meine Absicht, Marx für den
Oktober 1917 und alles, was dem folgte, verantwortlich zu machen. Und
ich glaube, das auch nicht wirklich getan zu haben. Marx war gewiss ein
Denkriese seiner Zeit. Aber ein Hellseher war er nicht und konnte und
wollte er wohl auch nicht sein. Auch das macht den Unterschied zwischen
ihm und seinen Gralshütern aus, die die entscheidenden, für Marx nicht
vorhersehbaren Veränderungen in der Welt, insbesondere in den
Produktivkräften mit ihren Folgen für die Produktions- und
Austauschweise der Gesellschaft nur sehr bedingt zu verstehen
vermochten. Sogar die über Jahrzehnte so viel zitierte 11.
Feuerbachthese wurde dogmatisch verabsolutiert und offiziell in ihrer
Ambivalenz nie kritisch hinterfragt. Sie war aus der Sicht von Karl Marx
völlig verständlich. Doch aus heutiger Sicht, in Kenntnis der
Geschichte des 20. Jahrhunderts, halte ich sie nur sehr bedingt für noch
angebracht. Auch das sollen keine Schuldzuweisungen sein, sondern
nüchterne Feststellung.
Mit besten Grüßen
H. H.
da sind wir uns über die Verantwortung von Marx einig. Aber Sie betonen eher die Veränderungen der Zwischenzeit, ich die Verfälschungen seiner Thesen, die gerade den “Gralshütern” unterliefen. Und ohne diese Verfälschungen ist Marx für meine Begriffe aktueller, als Sie es ihm zubilligen.
Nehmen wir nur die “Diktatur des Proletariats” (oder die “Klassendiktatur”, für die ich allerdings nur einen einzigen Beleg gefunden habe). Die vielfältigen Implikationen dieser hochgradig abstrakten Formel sind sicher nicht leicht zu verstehen. Aber wenn man die Machtverhältnisse, die 1917 geschaffen wurden, nüchtern betrachtet, kann man m. E. nur sagen: das war sie nicht! Lenin selbst schrieb ja bei einer Gelegenheit, er habe eine “regelrechte Oligarchie” errichtet.
Auch bei den Feuerbachthesen gibt es ja nicht nur die 11., sondern auch die 3.. Die haben die Dogmatischen Verabsolutierer wohl nicht so gern erwähnt; hatten sie doch selbst “die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist” geteilt.
Ansonsten denke ich, daß Marx auch auf ökonomischem Gebiet noch eine Menge hergibt. Aber d i e Diskussion würde wohl den Rahmen des Forums sprengen.
Mit besten Grüßen
B.M.
Mit besten Grüßen
H. H.
B. Mankwald darauf
Lieber Heerke Hummel,da sind wir uns über die Verantwortung von Marx einig. Aber Sie betonen eher die Veränderungen der Zwischenzeit, ich die Verfälschungen seiner Thesen, die gerade den “Gralshütern” unterliefen. Und ohne diese Verfälschungen ist Marx für meine Begriffe aktueller, als Sie es ihm zubilligen.
Nehmen wir nur die “Diktatur des Proletariats” (oder die “Klassendiktatur”, für die ich allerdings nur einen einzigen Beleg gefunden habe). Die vielfältigen Implikationen dieser hochgradig abstrakten Formel sind sicher nicht leicht zu verstehen. Aber wenn man die Machtverhältnisse, die 1917 geschaffen wurden, nüchtern betrachtet, kann man m. E. nur sagen: das war sie nicht! Lenin selbst schrieb ja bei einer Gelegenheit, er habe eine “regelrechte Oligarchie” errichtet.
Auch bei den Feuerbachthesen gibt es ja nicht nur die 11., sondern auch die 3.. Die haben die Dogmatischen Verabsolutierer wohl nicht so gern erwähnt; hatten sie doch selbst “die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist” geteilt.
Ansonsten denke ich, daß Marx auch auf ökonomischem Gebiet noch eine Menge hergibt. Aber d i e Diskussion würde wohl den Rahmen des Forums sprengen.
Mit besten Grüßen
B.M.