Flickschusterei oder ein Paar neue Schuhe?
Von
Heerke Hummel
(Erschienen in: "Das Blättchen", Nr. 14/2012)
Ist die Not nur groß genug, wird auch in
Regierungskreisen eine Änderung des Grundgesetzes in Erwägung gezogen. Sogar
von einer eventuellen Volksabstimmung ist die Rede. Der Grund diesmal: Die Europäische
Union braucht eine zentralisierte Finanzpolitik, um, was das Finanzsystem
betrifft, wirklich handlungsfähig zu sein. Und dazu müssen nationale
Kompetenzen an die EU abgetreten werden, was in Deutschland eine Änderung des
Grundgesetzes erfordere. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat mit seinen
dahin gehenden Äußerungen ein Tabu gebrochen und eine fast hektische Diskussion
ausgelöst.
Der Euro-Zone steht nach dem griechischen
Staatshaushaltsdesaster, dem spanischen und nun auch dem zyprischen Bankendesaster
das Wasser bis zum Halse. Und ein Ende des Pegelsteigens ist bisher nicht in
Sicht. Kritiker der Euro-Einführung im letzten Jahr des vorigen Jahrhunderts
mahnten damals, die notwendigen Rahmenbedingungen einer so gravierenden Aktion
seien nicht gegeben gewesen, während in Kreisen der Europrotagonisten wohl gehofft
wurde, der Euro werde die politische Integration Europas beschleunigen und
notwendige Reformen erzwingen. Nun scheint, wenigstens was den Finanzsektor
betrifft, die Zeit bald gekommen zu sein. Die Ökonomie demonstriert – ganz im
Marxschen Sinne – ihr Primat gegenüber der Politik.
Dennoch bleibt diese mit ihrem Löcherstopfen,
beispielsweise mittels „Rettunsschirme“ und „Rettungsfonds“, in Flickschusterei
stecken. Denn es ist bisher eine Politik, die der äußersten praktischen Not
gehorcht, anstatt der Erkenntnis, der Einsicht in die Materie, also dem richtigen
Sachverstand zu folgen. Wird eine Politik die anstehenden Probleme im
Finanzsystem dadurch besser lösen, dass
sie von einer Mehrheit des Volkes, der Wähler beschlossen wird? In einer so
komplexen und durch höchste Spezialisierung von Fachwissen geprägten Welt wie
der unsrigen würde eine Volksabstimmung, beispielsweise über grundgesetzliche
Neuregelungen von Budgetkompetenzen, zu einer Entscheidung des Bauches statt
des Kopfes, des Glaubens statt des Wissens, also der Manipulation durch die
Medien. Und die Frage wäre: Welche
Interessen werden dabei verfolgt? Stutzig machen sollte doch der Umstand, dass
mit einem Mal alle Parteien eine solche Befragung des Volkes favorisieren. Sind
es private oder Gruppeninteressen oder die des Gemeinwesens? Was ist oder wäre
gut für die Gesamtheit der EU und ihrer Bürger? Nach dem heutigen Stand der
Diskussion und der praktischen Politikansätze in Sachen Finanzsystem gibt es
wenig Grund für die Zuversicht, die Probleme könnten in Bälde bei der Wurzel
gepackt und wirklich gelöst werden. Nach jeder „Rettungsaktion“ während der
letzten vier Jahre taten sich neue Löcher auf, und so wird es bleiben, solange
nicht neue gesellschaftliche und ökonomische Denkansätze zum Tragen kommen, ein
der heutigen Welt entsprechendes
Verständnis vom Wirtschaften und Bewirtschaften unserer Mutter Erde,
wenigstens und zunächst im Rahmen Europas. Was soll da eine Volksabstimmung
über das Budgetrecht? Es scheint, als wollten sich die Parteien entweder eine
Rückversicherung für die Zukunft schaffen, um dem Volk nach gewiss auch künftig
nicht ausbleibenden Misserfolgen sagen zu können: Ihr habt es mehrheitlich ja
so gewollt. Oder sie hoffen, das Gruppeninteresse ihrer Klientel einer Mehrheit
der Wähler als das Gemeinwohl einreden zu können.
Auch ein europäisches Finanzministerium würde die
Krise nicht bewältigen, wenn es, um im Bild zu bleiben, nicht neue Schuhe
fertigte, also verstünde, dass die Finanzkrise nur die heutige Erscheinungsform
einer allgemeinen, kapitalistischen Verteilungskrise in der Gesellschaft ist. Was
produziert wird, muss verbraucht werden. Es lässt sich nicht über Jahre und
Jahrzehnte aufbewahren. Wer sein Einkommen nicht ausgibt und verbraucht,
sondern spart, läuft Gefahr, es zu verlieren. Die Illusion, jeder könne seinen
Reichtum durch Verborgen erhalten und sogar durch Zinsnahme vermehren, sollte
durch die weltweiten Erfahrungen während der letzten Jahrzehnte doch endgültig
geplatzt sein. Griechenland ist da nur die deutlich sichtbare Spitze des Eisbergs
„Lehren aus der Wirtschaftsgeschichte“. Die Hauptschuld am Desaster trägt wohl
nicht einmal der Schuldner, wenn er nicht um den Kredit gebeten und gebettelt
hat. Er hätte zwar wissen müssen, wie schwer es ihm fallen wird, nicht nur das
Geliehene zu erstatten, sondern auch noch die Zinslast zu tragen, mit der sich
die Gesamtlast oftmals verdoppelt. Doch auch der Gläubiger musste das wissen. Wenn
er dennoch den Kredit vergab, ja seinem Kontrahenten möglicherweise aufdrängte,
diesen vielleicht sogar zum Kreditgeschäft überredete, dann hat er seinen
Ausfall selbst verschuldet.
Und was macht in der gegebenen Situation die
deutsche Regierung? Sie tut alles, um mit einer europäischen Finanzreform ganz
Europa ihren desaströsen Sparkurs aufzuzwingen, mit dem die Ungleichgewichte von
Produktion und Verbrauch, von Export und Import in der Welt nur weiter
vergrößert werden. Ihr Streben beruht auf den Denkansätzen des klassischen
Kapitalismus aus dem 19. Jahrhundert. Deren Prämissen sind Konkurrenz statt
solidarischer, sachorientierter Ökonomie, Eigennutz statt Gemeinwohl, Geld und
Finanzwerte statt Sachreichtum und in der Konsequenz all dessen: grenzen- und
sinnloses Wachstum des Verbrauchs der begrenzten natürlichen Ressourcen, statt
mit diesen verantwortungsbewusst gegenüber den nachfolgenden Generationen zu
haushalten.
Nun soll, so ist zu hören, über notwendige Reformen
in Europa nachgedacht und diskutiert werden. Will man erreichen, dass danach
nicht wieder nur an Schräubchen gedreht wird, um das System zu flicken, so
müsste das System in seinem wesentlichen Kern so geändert werden, dass unter
anderem folgendes erreicht wird:
-
Gewährleistung, dass der in Europa
erzeugte Reichtum an Sachwerten und Leistungen verbraucht werden kann, ohne
dass sich dazu weder private noch öffentliche Verbraucher bzw. Einrichtungen
dauerhaft verschulden müssen.
-
Das setzt untere und obere Grenzen für
die zu erarbeitenden Einkommen (Mindestlöhne und Höchstgehälter) auf wenigstens
europäischer Ebene voraus.
-
Ferner müssten die Entscheidungskompetenzen
von Personen und Institutionen über
Finanztransaktionen begrenzt werden.
-
Zu begrenzen wäre auch die Anhäufung von
Finanzbeständen überhaupt in der Hand von Privatpersonen sowie von privaten und
öffentlichen Einrichtungen. Darüber hinausgehende Bestände müsste eine
staatliche Institution im allgemeinen
Interesse bedarfsgerecht umverteilen. Damit würde unter anderem auch erreicht,
dass der Anreiz zur grenzenlosen Anhäufung von Geld- und Finanzvermögen, zum
Raubbau an der Natur aus dem System verschwände.
-
Überhaupt müsste die Selbstvermehrung
von Finanzvermögen durch Zinsnahme unterbunden werden, weil Geld seinem Wesen
nach zum finanziellen, quasi buchhalterischen Gegenpol der in der
Realwirtschaft durch Arbeit geschaffenen Sachwerte und Leistungen geworden ist,
mit dessen Hilfe Produktion und Verbrauch des gesellschaftlichen Reichtums
verbunden werden.
-
Und schließlich müsste die Finanzierung
der öffentlichen Hand vom konjunkturellen Auf und Ab, also vom Steuerfluss unabhängig
gemacht werden und direkt durch die Zentralbank erfolgen.
Gewiss, dies alles wäre weder kurzfristig noch mit
einer einzigen Aktion zu erreichen. Aber jeder weitere Schritt bei der
künftigen Reformierung des europäischen Finanzsystems müsste sich an einem
solchen oder ähnlichen Konzept orientieren, wenn es gelingen soll, Europa
ökonomisch, sozial und politisch dauerhaft zu stabilisieren. Europa muss sich
als Wirtschaftsgroßraum verstehen, der nicht schlechthin produzieren, sondern
sich auch reproduzieren muss. Und diesen Prozess gilt es, zwar nicht nach einem
zentralen Plan, doch mit einem Gesamtkonzept zu steuern.