Heerke
Hummel
Der Herbst lädt noch einmal zum Wandern ein.
Vielleicht in Thüringen? Wen’s dorthin
zieht, dem sei empfohlen, die Heidecksburg in Rudolstadt nicht links
liegenzulassen. Denn er würde eine Attraktion ganz besonderer Art verpassen: Eine
Ausstellung, die schon in zahlreichen Orten Deutschlands zu sehen war und in
dem passenden Ambiente der Burg ihren festen Platz gefunden hat: Rococo en miniature – Die Schlösser der
gepriesenen Insel.
Mit unglaublicher Präzision erschufen zwei Künstler
der DDR, von denen der eine 1986 „ausgebürgert“ wurde, im Verlaufe von fünfzig Jahren eine Wunderwelt
von Miniaturbauten mit detailreichem Innenleben im Maßstab 1:50. In minutiöser
Kleinarbeit entstanden fünf Schlösser sowie Tausende von Einzelfiguren und
reich verzierte Einrichtungsgegenstände. Es sind freie Erfindungen zweier
Männer, die sich Anfang der neunzehnhundertfünfziger Jahre in der Ausbildung
als Gebrauchswerber in Sonneberg kennenlernten. Aus anfänglichem heimlichen
Spiel während des Unterrichts wurde ein mit sehr viel Fleiß und Ernsthaftigkeit
gepflegtes Hobby in einer Nische der Gesellschaft, in die sich Gerhard Bätz und
Manfred Kiedorf mehr und mehr
zurückzogen. Darin schufen sie sich – wie so viele Bürger – ein Paradies, das
sie in der Wirklichkeit des Staates, in dem sie lebten, nicht zu sehen
vermochten.
Oder sollte es vielleicht gar nicht ihr Paradies
sein, sondern (auch) eine Kritik an dem Staat, der ins kommunistische Paradies
führen wollte? Man erinnere sich nur eines Witzes, der damals eine Zeit lang
von Mund zu Mund ging. Auf die Frage, was der DDR-Sozialismus von den
vorangegangenen Gesellschaftsformationen übernommen habe, lautete die Antwort:
Von der Urgesellschaft die Produktivkräfte, von der Sklaverei die Behandlung
des Menschen, vom Feudalismus die vielen kleinen Könige und vom Kapitalismus
die Widersprüche. So filigran wie in ihrer Kunstfertigkeit ist die Ausstellung
in ihrer vielseitig zu deutenden Aussage. Der Betrachter wird angeregt – zum
Staunen und Bewundern, vor allem auch der Schöpfer dieser Kunstwerke, besonders
aber zum Nachdenken über deren Motivation und Absichten, über die Aussagen des
Dargestellten. Denn ihm wird nichts gesagt, bei ihm allein liegt die
Deutungshoheit, des Ganzen und seiner Details. Was ist Zufall an der Idee im
Großen und an den vielen Ideen im Kleinen, was ist frei erfunden und was wurde
vielleicht angeregt durch Ereignisse im uns und die Künstler betreffenden
realen Geschichtsverlauf des vergangenen halben Jahrhunderts?
1952/53, ist den Schautafeln zu entnehmen, wurden
die beiden Miniaturkönigreiche Pelarien und Dyonien gegründet. Deutsche
Geschichte in verzögerter Widerspiegelung? 1970: Revolution in Dyonien und
Ausrufung der Republik Jonesien. Pelarische Regimenter okkupieren dyonisches
Hoheitsgebiet und schlagen den Aufstand nieder. 1973 schafft dann der
konservative König Richard in Dyonien endgültig die Demokratie ab. Das erinnert
wohl manchen an die achtundsechziger Ereignisse in der Tschechoslowakei, den
sogenannten Prager Frühling. Etwa zeitgleich gab es in Pelarien mit dem
Regierungsantritt von Talari III. einen Machtwechsel. Es könnte der Sturz von
Walter Ulbricht gemeint gewesen sein. Es könnte, es könnte … Aber es musste
nicht. Es war eben Kunst, auch Kunst des Widerstands in einer so eigenartigen
Gesellschaft wie der im Osten Deutschlands, die wohl nur diejenigen richtig
verstehen und durchschauen konnten beziehungsweise können, die sie selbst
erlebten; in einer zentralistisch geführten Gesellschaft ohne Freiraum, aber
mit vielen Freiräumen in den teils gefundenen, teils selbst gestalteten
Lebensnischen. Da konnte einer widerstehen ohne offensichtlichen Widerstand zu
leisten, konnte ja sagen ohne innere Teilnahme, konnte wählen ohne sich
entscheiden zu müssen. Denn da galt das Wort mehr als die Tat, und Heuchelei
war gewünscht, wenn sie nur der Ruhe diente. Doch zugleich wurde der
Widerspruch als Triebkraft allen Lebens gepriesen. Dies alles die Schuld der
Menschen, ob „oben“ oder „unten“? Darüber kann man streiten. Es scheint, die
Verhältnisse banden allen die Hände, keiner konnte tun, was er ohne
entsprechende Konsequenzen (und nicht nur die persönlichen) vielleicht gern
getan hätte. Das war immer so und wird wohl immer so sein. Doch bei uns
Deutschen mit unserer historischen Zerstrittenheit scheint das eine besonders
komplizierte Angelegenheit zu sein.
Am
Anfang war das Wort, heißt es in der Bibel. Und bis vor nun fast zweieinhalb
Jahrzehnten wurde uns von Nicht-Christen beigebracht: Das Wort ist alles.
Gerhard Bätz und Manfred Kiedorf hatten
das verstanden. Und so schufen sie, vielleicht nach dem Beispiel ihrer
staatlichen Lehrmeister, auch eine eigene Sprache für die Königreiche ihrer
gepriesenen Insel. Zu finden ist sie als Inschrift unter dem Giebel von Schloss
Pyrenz: TIUK DE PE IS ALLA WACHN PE heißt es dort auf Alt-Pezanisch und soll so
viel bedeuten wie „Freue Dich, der König ist alle Zeiten der König“. Dieses
altehrwürdige Bauwerk mit seinen weitläufigen Gärten, erfährt der Besucher, war
einst die Residenz der dyonischen Könige. Der älteste Teil stamme noch aus der
Zeit Heinrichs VII. und habe damals noch Festungscharakter besessen. Im
Ehrenhof findet sich eine Figurengruppe des „Heiligen Schwalbenschwanz in
seinem Martyrium, wie er von Amazonen gemissbraucht wird“. Dies soll sich im 2. Jahrhundert (nach
Centuszeitrechnung) an genau jenem Ort ereignet haben. Eine zauberhafte
Phantasie!
Jede erdachte Person ist eine Persönlichkeit mit
Namen, Titel, Stammbaum und einem besonderen Charakter, der bis zur letzten
Marotte ersonnen wurde. All dies ist in den Chroniken der Königreiche –
natürlich en miniature gefertigte Bücher – und in dem Umfangreichen
Briefwechsel der Künstler festgehalten, den der Besucher ebenfalls in der Ausstellung vorfindet. Es ist eine bunte und lebensfrohe
Welt mit all ihren Raffinessen, die das Edle und Exquisite ebenso beherbergt
wie Banales und Vorwitziges, heißt es in einem an der Kasse ausliegenden Flyer.
Mit ihrem Werk rufen Gerhard Bätz und Manfred
Kiedorf, die beide dem Verband Bildender Künstler der DDR angehörten, dem
Betrachter die Vergangenheit ins Gedächtnis – mit viel Liebe und Ironie. Und so
kann man auch ihren Blick in die Zukunft zu interpretieren. Die letzte
Eintragung in ihrer Zeittafel lautet: 1990 Beginn des „Goldenen Zeitalters“ auf
der gepriesenen Insel, alle kriegerischen Aktivitäten werden endgültig
eingestellt.
(Erschienen in "Das Blättchen", Nr. 20/2013)