Heerke Hummel
Frau
Dr. S. Wagenknecht
sahra.wagenknecht@bundestag.de
Werder, 26.September 2018
Betr.: „Hart, aber fair“ /
24. 09. 18 : Die Frage nach dem Eigentum und dem Grundgesetz
Sehr geehrte Frau
Wagenknecht!
Bei der oben genannten
Veranstaltung der ARD demonstrierten Sie wieder einmal ihr bewundernswertes
Engagement für mehr soziale Gerechtigkeit in dieser so krisengeschüttelten
Gesellschaft. Doch in der ganzen Diskussion fiel mir auf, dass auch Sie das
entscheidende Problem aller Krisenerscheinungen nicht ansprachen. Es besteht m.E.
in der Eigentumsfrage, in der gesellschaftlichen - juristischen - Nichtanerkennung
des objektiv, dem Wesen nach bereits gesellschaftlichen Charakters allen
produktiv-kommerziellen Eigentums. Dieser ganze durch „Waren“-Austausch und
„Geld“-Verkehr vermittelte Bereich (die Anführungszeichen sollen besagen, dass es
sich hierbei um Begriffe handelt, die nach der Theorie von Karl Marx für die
heutige Realität nicht mehr zutreffend sind) hat schon lange seinen privaten
Charakter, sein privates Wesen in mehrfacher Hinsicht verloren:
Erstens hat
der gesellschaftliche Reproduktionsprozess die Grenzen alles Privaten in
ökonomischer, ökologischer und politischer Hinsicht (Machtfrage und politische
Stabilität) seit langem weit überschritten, so dass die Existenz von Natur und
Gesellschaft durch ungesteuertes, vom Streben nach Maximalprofit bestimmtes
Agieren „privater“ Akteure in Gefahr geraten ist.
Zweitens hat
das den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess und den „Austausch“ von „Waren“
und Leistungen vermittelnde Medium – das „Geld“ – seinen privaten Charakter
verloren. Spätestens seit der endgültigen Abkopplung vom Edelmetall (Gold) im
Jahre 1971 durch den Bruch des Abkommens von Bretton Woods seitens der USA ist
dieses „Geld“ keine „Allgemeine Ware“ (Marx) und vertritt eine solche auch
nicht mehr, sondern mutierte - dem Wesen nach - zu einem Arbeitszertifikat der Gesellschaft. Als solches drückt es für
die Gesellschaft geleistete Arbeit aus und bescheinigt Teilhabe am Reichtum der
Gesellschaft. Das bedeutet, dass alle im gesellschaftlichen
Reproduktionsprozess zirkulierende, verausgabte Arbeit beziehungsweise ihr
Produkt der Gesellschaft gehört und das Geld den Anteil seines Besitzers daran
bescheinigt. Mit dieser Bescheinigung kann der Einzelne als Privater (nicht als
produzierender gesellschaftlicher Agent) für seinen wirklich privaten Bedarf und Verbrauch
entsprechende Produkte aus dem gesellschaftlichen Fonds beziehen. (Bei den
Banken wird zwischen Privat- und Geschäftskonten der Kunden unterschieden.)
Drittens
bedarf der Umgang mit diesem Geld, das zu einem entscheidenden Faktor
ökonomischer und politischer Macht geworden ist und durch Kredit
beziehungsweise Schulden quasi beliebig zu vermehren ist, gesellschaftlicher
Regeln und einer gesellschaftlichen Kontrolle. Gleiches gilt für das gesamte
Finanzsystem. In Ansätzen wird das auch praktiziert.
Viertens
trägt das finanzielle Risiko unternehmerischer Entscheidungen, die fast immer
durch Versicherungen aller Art abgesichert sind, letztendlich die Gesellschaft
als ganze, besonders dann, wenn die Schäden und Verluste das Leistungsvermögen
der Verursacher, die zudem oft nur schwer zu ermitteln und zu belangen sind,
weit übertreffen. Die Banken-, Immobilien-, Staatsschulden- und Automobilkrisen
der letzten Jahre sind dafür eindrucksvolle Beweise.
Von diesen Überlegungen
ausgehend halte ich ein grundsätzlich neues ökonomisches Denken der ganzen
Gesellschaft für notwendig, das auf einem Überdenken der Eigentumsfrage
basieren und im Grundgesetz verankert werden muss. Dessen jetzige Artikel 14
und 15 werden den Erfordernissen der ökonomischen Realität in keiner Weise mehr
gerecht.[i] Erforderlich
ist eine grundgesetzliche Anerkennung des gesellschaftlichen Charakters aller
kommerziellen Produktion und des Austauschs sowie des damit verbundenen
Eigentums – im Unterschied zum tatsächlich privaten Eigentum für den
persönlichen Bedarf und Verbrauch. Eine solche Gesetzeslage würde auch der
Wirtschaftswissenschaft eine neue Orientierung geben für die Erarbeitung weiterer
rechtlicher Grundlagen und Regelungen zum Schutz vor ökonomischen (und sicher
auch politischen) Krisen, anstatt Letzteren wie bisher mit Feuerwehraktionen
hinterher zu laufen oder sie sogar durch falsche Zielstellungen zu befeuern.
Nun mögen Sie sich fragen,
warum ich mich nicht an den Abgeordneten G. Schick wende, der sein Mandat
niederlegen will, um als Vorstand der „Bürgerbewegung Finanzwende“ zu wirken.
Das habe ich, als sein Vorhaben bekannt wurde, sogar getan und habe eine
automatisch erstellte Mail mit der Bitte um eine Spende erhalten. Auch was ich
einem „Zeit“-Interview inzwischen entnehmen konnte, weckte in mir eine gewisse
Skepsis, ob da wirklich eine Wende
angestrebt wird und nicht nur ein paar Reförmchen, um das alte System zu
stabilisieren. (Über die Motive der Akteure kann man nur spekulieren.) Natürlich
kann auch eine wirklich grundlegende Wende nur Schritt für Schritt erfolgen.
Aber das größere Ziel (Befriedigung der konkreten Lebensbedürfnisse der
Menschen statt privater, abstrakter Kapitalverwertung um jeden Preis und auf
Kosten von Mensch und Natur) muss klar sein sowie das notwendige Bewusstsein
vom Wesen der Sache und des Problems, das in Folgendem besteht: Während die
reale Welt dem Wesen nach die oben beschriebenen Veränderungen durchgemacht hat,
ist das gesellschaftliche Bewusstsein von dieser Welt dort stehengeblieben, wo
beziehungsweise wie Karl Marx sie analysiert hat – mit Begriffen wie
Warenaustausch, Wert und Kapital, Privateigentum, Konkurrenzkampf und so weiter
und wie das ganze System - oberflächlich betrachtet – auch erscheint, weil es
juristisch noch immer – entgegen seinem veränderten Wesen – so im Gesetzeswerk
der Gesellschaft fixiert ist. Diesen Widerspruch zwischen Sein und Bewusstsein
der Gesellschaft, zwischen Objektivem und Subjektivem gilt es mit einer
Verfassungsänderung zu überwinden. Dies wird kein leichter und auch kein kurzer
Weg sein.
Aber ein solches Vorhaben
überhaupt im Auge zu haben und anzugehen traue ich nur Ihrer Partei zu, Frau
Wagenknecht. Denn es setzt die Fähigkeit und die Bereitschaft voraus, das
theoretische Erbe von Karl Marx, basierend auf der Arbeitswerttheorie von Adam
Smith, gemäß den heutigen objektiven Bedingungen weiterzudenken, anstatt in ihm
erstarrt zu verweilen oder es gar für Teufelswerk zu halten.
Mehreren Zeitungen habe ich
angeboten, der Frage nachzugehen, welche Erfolgschancen die von Herrn Schick
ins Leben gerufene Bürgerbewegung haben kann. Das Ergebnis entsprach meinen stillen
Erwartungen: Keinerlei Interesse! Keynesianismus und sozialistisches
Schreckgespenst, erst recht ein immer noch wirkungsmächtiger Neoliberalismus,
lähmen die Kraft und die Bereitschaft, tief eingefahrene Wege und Strukturen
des Denkens bei der Betrachtung der Welt zu verlassen, um von den Erscheinungen
ökonomischer Vorgänge zu abstrahieren und ihr objektives Wesen zu erkennen.
Vielleicht aber kann gerade Sie mein Schreiben anregen, so manche Frage neu zu
durchdenken, wenn es in Ihrem politischen Bemühen darum geht, die bisherige
Beherrschung der Politik von der Ökonomie zu überwinden und ihr, der Politik,
wieder die Kraft zu geben, die Ziele und Wege allen Wirtschaftens zu bestimmen.
Denn das ist der Zweck meines Schreibens.
Ihnen wünsche ich Gesundheit,
weiter viel Erfolg und starke Auftritte - und verbleibe
mit freundlichen Grüßen
Heerke Hummel
P.S.: Ich erlaube mir, diesen
Brief in meinem Blog „Ökonomie abgeschminkt. Wirtschaft im Klartext und ohne
Illusionen“ (http://heerkehummel.blogspot.com/)
zu veröffentlichen.
[i] Grundgesetz für die
Bundesrepublik Deutschland
„Art. 14
(1) 1Das Eigentum und das Erbrecht werden
gewährleistet. 2Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.
(2) 1Eigentum verpflichtet. 2Sein Gebrauch soll
zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
(3) 1Eine Enteignung ist nur zum Wohle der
Allgemeinheit zulässig. 2Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines
Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. 3Die
Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und
der Beteiligten zu bestimmen. 4Wegen der Höhe der Entschädigung steht im
Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen.
Art. 15
1Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel
können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß
der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der
Gemeinwirtschaft überführt werden. 2Für die Entschädigung gilt Artikel 14
Absatz 3 Satz 3 und 4 entsprechend.“