Mittwoch, 20. Juli 2016

TTIP - Die Büchse der Pandora



Von Heerke Hummel
(Erschienen in: „Das Blättchen“, Nr. 15/2016 - http://das-blaettchen.de/2016/07/ttip-die-buechse-der-pandora-36649.html)

Licht am Ende des Tunnels! Es besteht Hoffnung, die Unterzeichnung der Freihandelsabkommen der Europäischen Union mit Kanada (Ceta) und den USA (TTIP) doch noch abwenden zu können. Jedenfalls hat die EU-Kommission  am Fünften dieses Monats entschieden, dass 42 nationale und Regionalparlamente in Europa an der Ratifizierung des Freihandelsabkommens mit Kanada beteiligt werden sollen; anstatt, wie ursprünglich vorgesehen, die Sache auf Europa-Ebene zu erledigen. Der Brexit lässt grüßen.
Den Freihandelsbefürwortern beginnen schon seit geraumer Zeit mit der immer stärker werdenden Gegenbewegung die Felle davon zu schwimmen. Darum haben sie zum Angriff geblasen – unter anderem mit einer Broschüre. „Die neue Gewinn-Zone. Wie das Freihandelsabkommen TTIP Europa und Amerika stärkt“ lautet deren Titel. Herausgegeben wurde sie von der Atlantik-Brücke e.V. Laut WIKIPEDIA wurde dieser Verein 1952 als private, überparteiliche und gemeinnützige Organisation mit dem Ziel gegründet, eine wirtschafts-, finanz-, bildungs- und militärpolitische Brücke zwischen der Siegermacht USA und der Bundesrepublik Deutschland zu schlagen. Zu seinen Mitgliedern zählen heute über 500 führende Persönlichkeiten aus Bank- und Finanzwesen, Wirtschaft, Politik, Medien und Wissenschaft, darunter die Bundeskanzlerin und Bundesvorsitzende der CDU Angela Merkel sowie Sigmar Gabriel, SPD-Parteivorsitzender, Bundesminister für Wirtschaft und Energie und Vizekanzler. Die Atlantikbrücke fungiert als Netzwerk und privates Politikberatungsinstitut.
Die Argumentation der Atlantik-Brücke pro TTIP-Abkommen lässt deutlich werden, dass die bisherigen Einwände der immer breiter werdenden Widerstandsbewegung der Gefährlichkeit der Situation und den von TTIP ausgehenden Gefahren kaum gerecht wird. Die Verfasser der Broschüre weisen auf etliche sicherlich von Vielen einzusehende Gründe hin, eine riesige Freihandelszone zu schaffen, die praktisch den ganzen nordamerikanischen Kontinent und die EU umfasst. Friedrich Merz etwa – vielen bekannt durch seine früheren Bierdeckel-Steuererklärungsdebatten im Deutschen Bundestag als damaliger Fraktionsvorsitzender der CDU – stellt, nun als „Vorsitzender Atlantik-Brücke e.V.“ einleitend fest, Europa und die USA könnten mit TTIP ökonomisch nur gewinnen. Dabei verweist er auf die transatlantische Investitions- und Handelspartnerschaft mit zu erwartenden Folgen wie wirtschaftliches Wachstum, Beschäftigungszuwachs sowie höhere Gehälter und Steuereinnahmen; ferner größere Produktvielfalt und niedrigere Endpreise am Markt. Gerade auch kleine und mittlere Hersteller und Dienstleister, die fest in regionalen Strukturen verankert und verortet sind, meint er, würden mit TTIP wachsen. Hinzu kämen wegfallende Zölle und die Angleichung technologischer Spitzenstandards, sowie hoher Normen im Umweltschutz, Verbraucherschutz und Sozialbereich. Und über die regulatorische Kooperation könnten die transatlantischen Partner durch TTIP künftig gemeinsam daran arbeiten, neue und noch bessere Standards so zu entwickeln, „dass sie von vornherein keine Handelshemmnisse mehr darstellen und vorbildlich sind für die globale Ordnung von Märkten und Regulierungen“. Nicht zu unterschätzen sei dabei die geopolitisch-strategische Dimension von TTIP. Mit diesem Abkommen verbänden die USA und Europa auch die Chance, ihre Werte und Interessen in aller Welt zu verteidigen und zu stärken. Das mag manch einer auch so sehen, zumal Freiheit, Demokratie und Menschenrechte auf der einen Seite sowie Sicherheit, Frieden und Wohlstand auf der anderen Seite als Grundpfeiler der transatlantischen Partnerschaft seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dargestellt werden. Und Merz ergänzt mahnend, „der innere Zusammenhang aus einer stabilen demokratischen und pluralistischen Ordnung, der Kooperation in Sicherheits- und Verteidigungsfragen sowie den engen ökonomischen Beziehungen“ müsse beständig erneuert werden. TTIP vermöge als konkretes inhaltliches Projekt „die westliche Allianz zu untermauern, indem sie wirtschaftlich noch enger verbunden wird.“ Das sind deutliche, nicht zu überhörende Worte, die auch all jene von Ängsten vor der Zukunft Geplagten erreichen könnten, die, mit der Gegenwart zufrieden, für ein Weiter so plädieren.  
Was TTIP so gefährlich macht, ist seine vom Kapital, von kapitalistischer Denkweise bestimmte Prägung. Nicht die Vernunft aus der Perspektive des Ganzen, also der Weltgemeinschaft steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern das private Interesse an Kapitalvermehrung als Selbstzweck ist die bestimmende Richtschnur allen Handelns. Diese Dominanz des Privaten schließt Solidarität vom Grundsatz her aus, erzeugt nicht wirklichen Wettbewerb, sondern verlangt bei Strafe des eigenen Untergangs den Kampf aller gegen alle und mit allen Mitteln – um Marktanteile, Energie- und Rohstoffquellen, ökonomische Ressourcen aller Art und Vorherrschaft in jeder Hinsicht. Das ganze 20. Jahrhundert war davon geprägt, mit zwei Weltkriegen, die Europa weitgehend verwüsteten und bis dahin nie gekannte Opfer forderten. Die USA glaubten, aus diesem Kampf als überragender Sieger hervorgegangen zu sein. Inzwischen muss man wohl von einem Pyrrhussieg  sprechen. Denn Amerika hatte die Zeichen der Zeit nicht verstanden und die Bedeutung strategischer ökonomischer Planung und Politik unterschätzt, beziehungsweise es war bis heute in seinem Wahn von Freiheit und von der privaten Natur seines Reichtums und des Geldes gefesselt, handlungsunfähig. China und Russland stehen wieder vor der Tür und versperren den Weg für ein unendliches Wachstum des amerikanischen Kapitals.
Da soll nun das transatlantische Freihandelsabkommen helfen, einen Ausweg zu finden. Amerika und Europa gemeinsam müssten es doch schaffen, Grenzen des Wachstums zu überwinden und mit den Widersachern, Herren der Willkür, fertig zu werden. Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer wird in der Broschüre folgendermaßen zitiert: „Wenn TTIP hier globale rechtsstaatliche Standards setzt, wird letztlich kaum eine andere Macht der Welt mehr an diesem modernen Maßstab vorbeikommen – und Investitionen im Ausland können besser als je zuvor weltweit gegen politische Willkür geschützt werden.“ Was politische Willkür wäre, hätten mit TTIP (Sonder-)Gerichte zu entscheiden, nicht das Volk und seine Repräsentanten – allen gegenteiligen, beschwichtigenden Behauptungen zuwider. Das transatlantische Abkommen brächte einen transatlantischen Freibrief für einen totalen Kapitalismus mit all seinen Widersprüchen, die Europa vor hundert Jahren in die erste große Katastrophe führten. Heute steht die Welt vor einer ähnlichen, nicht weniger und sogar für den Bestand unseres Planeten gefährlichen Situation. Denn die Motivation der Handelnden, das private, rücksichtslose Interesse an Kapitalverwertung um jeden Preis, hat sich bis heute nicht verändert.
Amerika braucht Europa für seine Dominanzinteressen in der Welt. Braucht Europa die USA? Nur, wenn wir wirklich die gleichen Interessen verfolgen! In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts glaubten wir Europäer, aus der Geschichte seiner ersten Hälfte gelernt zu haben. Die Integration westeuropäischer Staaten bedeutete den Versuch, die Widersprüche einer vom Kapital geprägten Gesellschaft zu beherrschen. Doch die nicht abreißenden Krisen insbesondere der letzten zehn Jahre zeigen, dass dieses Ziel so gut wie nicht erreicht wurde. Zum dritten Mal innerhalb von hundert Jahren nimmt das deutsche Kapital eine exponierte Stellung in der Welt und besonders innerhalb Europas ein. Fatal wäre es, die Ursache dafür in besonderer Tüchtigkeit der Deutschen zu suchen. Es waren immer die besonderen politischen und ökonomischen Bedingungen Deutschlands und Europas, die dieses Phänomen hervorgebracht haben. Wenn heute von einer besonderen Verantwortung Deutschlands gesprochen wird, die sich aus seiner ökonomischen Stärke ableitet, so müsste ergänzt werden: Ja, und diese Verantwortung besteht darin, voranzugehen bei der politischen Beherrschung des Kapitals, bei seiner Unterordnung unter die ökonomische Vernunft. Es wäre die Befreiung unserer Gesellschaft vom unerbittlichen Zwang der Kapitalmärkte zu Kapitalverwertung und Wachstum, koste es was es wolle. Konkret: Deutschland müsste sich im Rahmen der Europäischen Union und unter Einbeziehung aller Mitgliedländer massiv für strukturpolitische Maßnahmen und Umverteilung ökonomischer Ressourcen innerhalb der EU und zum Wohle aller EU-Bürger einsetzen. Das wäre ein gewaltiges Projekt für Jahrzehnte. Es würde ein grundsätzliches ökonomisches Umdenken erfordern, darauf gerichtet, auf der Basis einer gemeinsamen Währung einen innereuropäischen Reproduktionsprozess als Einheit von Produktion und Verbrauch bei Einbeziehung aller EU-Bürger zu organisieren. Es könnte ein gemeinsames Wirtschaften aller Europäer auf gemeinsame Rechnung mit Bestandsschutz einerseits und zielgerichtetem Niveauausgleich andererseits sein. Wichtige Schritte dahin wären sicherlich entsprechende Investitionsentscheidungen und Vergabe zinsloser Kredite durch die Europäische Zentralbank sowie die Angleichung von Mindestlöhnen und anderen Sozialstandards.
Ein solches Projekt könnte die Europäische Union ohne die Inanspruchnahme außereuropäischer Kapitalmärkte realisieren. Mit 510 Millionen Einwohnern und einem gut qualifizierten Arbeitskräftepotential übertrifft die EU die USA (etwa 320 Millionen) heute bei weitem, auch noch, wenn man den Austritt Großbritanniens (etwa 64 Millionen) aus der EU berücksichtigt. Daraus leitet sich sowohl ein überragender innerer Verbrauchermarkt als auch ein stabiler Markt für Investitionsgüter in der EU auf lange Sicht ab. Das bedeutet: Die Europäische Union könnte ohne TTIP ein wohldurchdachtes ökonomisches Entwicklungsprogramm für Jahrzehnte auflegen und dieses aus eigener Kraft im Interesse aller EU-Bürger kostengünstig auf der Basis hauptsächlich interner Arbeitsteilung und Kooperation realisieren. Das könnte ein Konjunkturprogramm sein, das – ganz im Gegensatz zu dem von Friedrich Merz mit TTIP prophezeiten - nicht auf  Kapitalverwertung und Ausbeutung fremder Arbeit durch Kapitalexport und unfairen Handel abzielt, sondern auf die Mehrung des Wohlstands der eigenen Bürger durch eigene, sinnvolle Leistung bei äquivalentem Austausch mit der übrigen Welt und bei gleichzeitiger Hilfe für sie. Fairer, ausgewogener Handel würde einschließen, den außereuropäischen Regionen die Chance eines eigenen ökonomischen Aufschwungs durch Entfaltung der eigenen produktiven Kräfte zu geben. Auch wissenschaftlich-technische Hilfe könnte dazu beitragen. Das wäre wahre Solidarität über die Grenzen der Europäischen Union hinaus und könnte wesentlich zur Befriedung der Welt beitragen – in völligem Gegensatz nicht nur zu den Waffenexporten, mit denen Europa, besonders Deutschland, zwar gut verdient, sich aber in der Hauptsache unglaublich schuldig macht am Elend der Welt. Das Flüchtlingsdrama an den EU-Grenzen zeigt, dass dieses Elend zu einer immer stärkeren moralischen und ökonomischen Herausforderung für uns Europäer wird. TTIP könnte die Lage nur verschlimmern, weil es die Welt noch tiefer in Arm und Reich spalten würde.
Europa braucht die Freihandelszone mit Amerika nicht, um zu prosperieren. Aber bräuchte Amerika dazu Europa, wie die Autoren der Atlantik-Brücke ebenfalls suggerieren? Nein, denn auch die USA könnten natürlich – entsprechende gesellschaftswissenschaftliche Einsicht und politischer Wille vorausgesetzt – auf ihrem Kontinent ebenfalls schrittweise eine solidarische ökonomische Gemeinschaft gestalten, die, sich allmählich nach Süden ausdehnend, der riesigen, hoch industrialisierten Volkswirtschaft ein praktisch unbegrenztes Konjunkturprogramm zu bescheren vermögen würde. Solch ein Sieg der ökonomischen und politischen Vernunft in den USA ist derzeit noch eine utopische Vorstellung.
Doch in Europa? Auch hier sind die Chancen einer tatsächlichen Wende im ökonomischen Denken und politischen Handeln gering. Dennoch: Der zunehmende Widerstand gegen TTIP lässt hoffen. Um ihn zu stärken, ist immer wieder und überall zu fragen: Wollt ihr Euch ihm wirklich unterwerfen, dem Wahnsinn eines totalen, dann wohl nicht mehr zu beherrschenden Kapitalismus? Die heutige Welt mit ihrem sagenhaften Reichtum einer verschwindenden Minderheit einerseits und bitterster Armut der übergroßen Mehrheit der Erdenbewohner andererseits, mit ihrem Chaos von Kriegen, Zerstörung und Dutzenden Millionen flüchtenden Menschen ist die Frucht eines über zweihundertjährigen ungezügelten Wirkens des Wolfsgesetzes des Kapitalismus. Friss oder werd gefressen, lautet seine Maxime. Mit TTIP würde sein Freiraum unabsehbar erweitert werden. Es käme einer Öffnung der Büchse der Pandora gleich.

Brexit – Alles nur Theater?



Von Heerke Hummel
(Erschienen in: „Das Blättchen“, Nr. 14/2016 - http://das-blaettchen.de/19-jahrgang-2016/14-2016.html)
In Großbritannien gab es ein Donnerwetter, und durch die westliche Hemisphäre ging eine Schockwelle. Schon tags darauf nahm die Entscheidung einer knappen Mehrheit der Briten, die Europäische Union verlassen zu wollen, Züge einer Posse der Weltgeschichte an. Im Kampf zweier Rivalen um die Macht und um die Gunst des Wahlvolks hatte man den Beschluss über eine so wichtige Streitfrage wie die nach dem Verbleib des Landes in der EU der Wählerschaft überlassen. Dies wurde sogar zu einem Ausdruck von in dieser Gesellschaft herrschender Demokratie hochstilisiert - in einer Gesellschaft, in der aber auch alles zur Sache hochgradig spezialisierter Experten geworden ist! Das ist so wie wenn ein Herzkranker seinen Klempner fragte, ob ein Herzschrittmacher angeraten sei; nur, dass es sich beim Brexit um ein in höchstem Maße komplexes Problem handelt. Mit dem so gern angerufenen „mündigen Bürger“ hatte das Referendum hinterm Kanal wenig zu tun. Es ging nicht um Leben oder Tod, Frieden oder Krieg, in den ein Mann ziehen will oder nicht, wie im antiken Griechenland. Über so eindeutige Angelegenheiten darf das Volk schon lange nicht mehr entscheiden.
Das jetzige Ergebnis des Referendums hat innerhalb und außerhalb des Vereinigten Königsreichs weitestgehend überrascht, vor allem auch diejenigen, die in gutem Glauben an die Vernunft der Mehrheit es nicht der Mühe wert hielten, zur Wahl zu gehen. Sogar bei den Befürwortern des Austritts scheint sich der Jubel in Grenzen zu halten. Wer der amtierenden Regierung und vielleicht auch den EU-Oberen nur einen Denkzettel verpassen wollte, hat nun selber Grund nachzudenken. So verwundert es nicht, dass schon achtundvierzig Stunden nach Feststellung des Wahlergebnisses zweieinhalb Millionen Stimmen für ein neues, Wiederholungsreferendum gesammelt waren. Die Schotten, mehrheitlich für einen Verbleib in der EU, wollen nun einen neuen Anlauf für einen Austritt aus dem Königreich unternehmen, damit sie in der Europäischen Union bleiben können.
Und die britische Regierung hat es nicht eilig, dem nicht gewollten „Willen des Volkes“ zu entsprechen und den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union definitiv zu beantragen. Zwei Jahre hat sie für Verhandlungen über die Bedingungen dieses Aktes Zeit. Die, meint man, könne genutzt werden, um die EU unter Druck zu setzen und ihr fürderhin Vergünstigungen abzuringen. Aus dem übrigen Europa tönt es quer durch die Union, durch Institutionen und Parteien „Hü!“ und „Hot!“ Die einen drücken auf Tempo von Austrittsverhandlungen, andere mahnen Ruhe und Bedachtsamkeit an. Ungarns Wirtschaftsminister M. Varga bereitet gar schon „ein Willkommenspaket für Unternehmen vor, die nach der Brexit-Entscheidung der Briten das Land verlassen werden“, und schloss nebenbei einen Austritt Ungarns aus der EU aus. Europa macht den Eindruck von Kopflosigkeit und Zerstrittenheit allerorten. In Übersee macht sich US-Präsident Obama vor allem Sorgen um – wen wundert’s? – das Geld. Die Vereinigten Staaten würden sich mit den europäischen Verbündeten weiter abstimmen, um die Stabilität des globalen Finanzsystems sicherzustellen, erklärte er vor Studenten in Kalifornien. Sogar der Papst meldete sich zu Wort und warnte, mit Blick etwa auf Schottland und Katalonien, vor einer "Balkanisierung" Europas durch weitere Austritts- und Abspaltungsbestrebungen. Damit die EU ihre Kraft zurückerlange, müsse sie offen sein für "Kreativität und gesunde Zwietracht". Sie müsse den Mitgliedstaaten zudem "mehr Unabhängigkeit, mehr Freiheit" geben.

Nach gründlicher Analyse und daraus abgeleiteter Strategie klingen solche Aussagen nicht, eher nach Feuerwehraktionen.  Auch die ersten Reaktionen aus Berlin und den anderen EU-Metropolen lassen demnächst kaum mehr erwarten. Die EU leidet an ihren inneren Widersprüchen und daraus resultierenden Interessengegensätzen. Vor allem geht es dabei um die Erzeugung und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, von dem wir alle als Gemeinschaft leben. Wenn wir Deutschen diese Gemeinschaft wirklich wollen (und wir müssen sie wollen, weil wir sie brauchen), dann müssen wir auch bereit sein zu teilen – sowohl was die Arbeit als auch was die Konsumtion betrifft. Und dies wird, wie die Geschichte lehrt, nicht im Wildwuchs von Märkten zu erreichen sein, sondern muss demokratisch bewusst organisiert, gestaltet werden. Dementsprechend gilt es das System der Europäischen Union umzugestalten. Was gebraucht wird ist eine Regulierung der innereuropäischen Reproduktion mit ökonomischen, finanziellen Mitteln anstelle kleinlicher Vorschriften. Eine zentrale Rolle dürfte dabei die Europäische Zentralbank in Gestalt einer obersten Finanzbehörde spielen. Sie hätte – entsprechend den sachlichen Erfordernissen beziehungsweise Strukturempfehlungen einer europäischen Planungsinstitution – Geld zur Verfügung zu stellen und so umzuverteilen, dass die geistigen und sachlichen Ressourcen dieser Gemeinschaft vollständig für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse entfaltet und genutzt werden können.

Voraussetzung einer solchen Strategie wäre ein neues ökonomisches Denken, das nicht auf Wachstum und Kapitalverwertung als Selbstzweck zielt. Ein Denken in dem Bewusstsein, dass die Billionen auf beiden Seiten des großen, allgemeinen Kontos von Soll und Haben in der Summe immer Null ergeben und dass wahrer Reichtum immer von sachlicher, zu gebrauchender, bedürfnisbefriedigender Natur ist! Er lässt sich nicht sparen, sondern muss ständig neu, also reproduziert und konsumiert werden; und zwar von allen. Darum ist die von Deutschland betriebene und vehement verteidigte Sparpolitik, verbunden mit einseitiger Exportoffensive, desaströs für Europa und – neben anderen auch - eine bedeutende Ursache des europäischen Dilemmas. Bislang sieht es leider nicht danach aus, dass dies in Berlin begriffen beziehungsweise in absehbarer Zeit danach gehandelt wird. Doch gerade von hier müssten die entscheidenden Initiativen für Systemveränderungen in der Europäischen Union ausgehen.

So gesehen werden die nächsten Verhandlungen in Brüssel und sonst wo nicht zum Ende des derzeitigen Theaterstücks auf der europäischen Bühne führen, sondern nur den nächsten Akt der Tragödie Europas einleiten. Das Gezänk wird weitergehen, aber die Spannung dahin schwinden, wenn anstelle von Fortschritten Zerfallserscheinungen die Handlung dominieren. Dann könnte es zu einem Ende ohne Applaus kommen und das Volk – nun wieder als Akteur in der Realität - sich einem anderen Stück mit ganz neuen Angeboten zuwenden.

Den Briten ist insofern zu danken, als sie der EU den Ernst der Lage in der Wirklichkeit vor Augen geführt haben. Die da den Brexit wählten, waren zumeist älteren Semesters. Zufall? Wohl kaum! Sie dürften noch von der Denkweise aus der Frühzeit des Kapitalismus geprägt, vielleicht auch seine Nutznießer (gewesen) sein – auf Kosten anderer. Nun, da weltweit von Teilen die Rede ist, fürchten sie irrtümlicherweise um ihr Gespartes. Dass ihr heutiger Wohlstand von der heutigen, jüngeren Generation, dank und innerhalb der EU geschaffen wird, übersehen sie mit ihrem Bild von einer Gesellschaft, in der – im Großen, Nationalen, wie im Kleinen, Persönlichen - jeder seines eigenen Glückes Schmied ist. Dieser Individualismus ist Teil ihres geistigen Erbes und natürlich nicht nur den Briten eigen. Er ist die Frucht von Bildung und Erziehung über Jahrhunderte, an der die Gesellschaftswissenschaft, vor allem auch die ökonomische, bis heute bedeutenden Anteil hatte und besonders in Gestalt des Neoliberalismus noch hat. Freiheit ist das große Modewort, sogar der Papst bedient sich seiner, eben auch im Zusammenhang mit der Europäischen Union und ihrer Krise. Von der Notwendigkeit wird ungern gesprochen. Sie wird als Zumutung empfunden und gern anderen überlassen.

Nach einem Jahrhundert mit zwei Weltkriegen und anderen furchtbaren Krisen hat sich die Mehrheit der Staaten Europas endlich in einer Union zusammengerauft, um das Zusammenleben der Völker gemeinsam, friedlich und zum Wohle aller zu gestalten. Das erfordert Einordnung aller, nicht Unterordnung der einen unter die anderen. Ob die weiteren Verhandlungen in und um Brüssel herum davon geprägt sein werden, ist  fraglich.

Montag, 11. Juli 2016

Sklaven von Google? Sklaven der Gier und der Angst!



Von Heerke Hummel
Eigentlich weiß es jeder: Die Welt, in der wir heute leben, ist längst nicht mehr die, die wir Älteren vor etwa fünfzig Jahren erlebten, geschweige denn wie sie sich vor hundert Jahren darstellte. Nun deutet sich wieder ein Umbruch an. Worum es geht, machte unlängst die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff deutlich. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (3. März 2016) erklärte sie nicht nur, „wie wir Sklaven von Google wurden“. Sie machte auch deutlich, wohin die Reise im Zug des 21. Jahrhunderts ihrer Meinung nach zu gehen droht.
Für manchen mag es neu sein, dass Google nicht immer eine Gewinn bringende Unternehmung war. S. Z. erklärt anschaulich, wie es kam, dass aus einer hoch kreativen Unternehmung ein hoch profitables Unternehmen, ein Gigant unter den Wirtschaftsriesen wurde: Google erfand ein Produkt, dessen „Rohstoff“ kostenlos in Gestalt anfallender Daten zum Suchverhalten der Nutzer der Suchmaschine entstand. Diese Datensammlungen wurden genutzt, um die eigene Suchmaschine durch einen ständigen Lernprozess zu verbessern. Dabei wurden in Wechselwirkung mit der Werbeindustrie erstaunliche analytische Fähigkeiten zur Verhaltensvorhersage entwickelt. Shoshana Zuboff sieht darin die Gefahr möglicher Manipulierbarkeit des menschlichen Verhaltens. Beispielsweise führt sie dem Leser vor Augen, dass durch den Zugang zu Daten über den Echtzeitfluss unseres täglichen Lebens etwa im selbst fahrenden Auto nicht nur die Fahrtroute berechnet, sondern auch ein Ziel vorgeschlagen werden kann. Damit sieht sie die Prinzipien der Selbstbestimmung des Menschen in Frage gestellt, wie sie sich im Verlaufe von Jahrhunderten und Jahrtausenden herausgebildet haben. Nicht mehr Angebot und Nachfrage auf der Basis tatsächlicher Bedürfnisse könnten das ökonomische Geschehen bestimmen, sondern gestaltete Märkte würden manipulierten Bedürfnissen entsprechen.
Sehen wir uns nicht schon heute weitgehend in einer solchen Situation? Massenkonsum hat Gruppenzwänge erzeugt, und Gruppenzwänge haben Massenkonsum befördert.  Auf der Strecke geblieben sind dabei die soziale, die ökonomische und die ökologische Vernunft. Auch die politische, weil die Politik nicht mehr versteht, was da in der Wirtschaft eigentlich vor sich geht, und sich darum dem Lobbyismus ergeben muss anstatt die Wirtschaft zu steuern. Die menschliche Gesellschaft als ganze hat sich bereits seit langem zum Sklaven gemacht – nicht nur von Google, sondern eines Prinzips, das da heißt: Kapitalverwertung statt Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse als Ziel der Produktion, schrankenlose Ausbeutung unseres Planeten bis zum Verlust seiner Bewohnbarkeit anstelle sinnvoller Bewirtschaftung der Mutter Erde.
Und das soll erst der Anfang eines neuen ökonomischen Monsters sein? Shoshana Zuboff nennt es Überwachungskapitalismus. Und sie charakterisiert ihn als eine gänzlich neue Art von Kapitalismus, als eine systemisch zusammenhängende neue Logik der Akkumulation. Deren Grundlage sei „eine beispiellose Form von Markt, die im rechtsfreien Raum wurzelt“. Die schlimmsten Nachteile dieser erneuten Mutation des Kapitalismus -  der einst Profite aus Produkten und Dienstleistungen schlug, dann aus Spekulation und nun in seiner neuesten Form aus Überwachung - lassen sich nach Ansicht der Wissenschaftlerin nur schwer erkennen und theoretisch erfassen. Denn alles laufe mit extremer Geschwindigkeit ab und werde durch teure, nicht zu entschlüsselnde Rechenoperationen sowie geheime betriebliche Praktiken verschleiert. Hinzu käme eine rhetorisch meisterhafte Irreführung.  
Das klingt nach scharfer Kritik. S. Z. denkt sogar an Widerstand und Aufstand: Nur „eine soziale Revolte, die den mit der Enteignung des Verhaltens verbundenen Praktiken die kollektive Zustimmung entzieht, wird dem Überwachungskapitalismus die Grundlage entziehen können“, schreibt sie und zeigt damit großes Engagement. Doch sie möchte zurück! Wir müssten herausfinden, heißt es weiter, „wie wir in die spezifischen Mechanismen der Erzielung von Überwachungsprofiten eingreifen und dabei der liberalen Ordnung im kapitalistischen Projekt des 21. Jahrhunderts wieder den Vorrang sichern können.“ (Hervorhebung von H. H.) Und wie stellt sie sich das  vor? Sie argumentiert so: Mit dem Vorwurf der Monopolbildung gegen Google oder andere Überwachungskapitalisten vorzugehen hieße, ein Problem des 21. Jahrhunderts mit einer Lösung des 20. Jahrhunderts anzugehen. Darum bräuchten wir „neuartige Eingriffe, die zentrale Faktoren dieses Modells (des Überwachungskapitalismus - H. H.) behindern, verbieten oder einer Regulierung unterwerfen“.
Das klingt überzeugend. Doch man bedenke, dass die Geschichte massenhaft Beispiele dafür liefert, dass bahnbrechende Neuerungen vehement bekämpft wurden aus Angst vor ihren Folgen. Bei Beginn des Eisenbahnwesens etwa befürchteten Skeptiker, die vorbeifahrenden, dampfenden und fauchenden Ungeheuer könnten das Vieh auf den Weiden ausbrechen lassen; den Fahrgästen müsste übel werden bei Geschwindigkeiten um die dreißig Meilen pro Stunde.
Abgesehen davon, dass Verbote nur selten zu dauerhaftem Erfolg führen, ist hier zu fragen, welche Ursachen denn die Datenanalyse so problematisch werden lassen und welche Bedeutung vielleicht die Verhaltensvorhersage für eine wirklich demokratisch organisierte Gesellschaft haben könnte. Die von Shoshana Zuboff gesehenen Gefahren der Datenanalyse von „Überwachungskapitalisten“ resultieren doch gerade aus der spezifisch kapitalistischen Art und Weise der Produktion gesellschaftlichen Reichtums, also auch der Erzeugung und des Gebrauchs von Verhaltensvorhersagen. Aber gerade dieses „kapitalistische Projekt“ möchte die amerikanische Professorin für Betriebswirtschaftslehre für nochmals hundert Jahre gesichert sehen. Das würde dann bedeuten: Nochmals hundert Jahre kapitalistischer Konkurrenzkampf, Kampf um Sein oder Nichtsein, Zwang zu unbegrenztem Wachstum, Zerstörung unserer Umwelt wie auch des gesellschaftlichen Zusammenhalts durch noch tiefere Spaltung infolge von noch weniger Solidarität. Kampf ums Dasein (hat diese Gesellschaft das Entwicklungsstadium der Wildheit wirklich schon verlassen?) gebiert die Angst vor dem Untergang und befördert die Gier, weil nur die Starken überleben. Damit wäre die eigentliche Gefahr für die Menschheit von heute benannt: Angst und Gier als Folgen des Wolfsgesetzes kapitalistischer Produktions- und Denkweise.
Und woher könnte die Befreiung, die Beseitigung des von Shoshana Zuboff beschriebenen Übels kommen? Die Lösung müsste wohl heißen: Ersetzung des kapitalistischen Konkurrenzkampfes durch das Prinzip der gesellschaftlichen Solidarität, bestmögliche Versorgung aller durch Kooperation anstelle privater Gewinnmaximierung auf einem „wilden“ Markt als Ziel der Produktion.
Mehrfach schon habe ich meine Ansicht geäußert und begründet, dass die ökonomische Basis unserer Gesellschaft ihrem Wesen nach spätestens seit 1971 durch die Beendigung der Golddeckung des Geldes einen qualitativen Wandel erfahren hat. Ihre Erklärung bedarf einer Weiterentwicklung, eines Weiterdenkens der ökonomischen Analyse von Karl Marx im „Kapital“.  Das heutige Geld als Nachweis oder Ausweis eines geleisteten Beitrags an normaler gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit zur Schaffung des Reichtums der Gesellschaft einerseits und Ausdruck des Anspruchs auf entsprechende Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum andererseits ist zu einem gesellschaftlichen Instrument geworden. Seine Schaffung, Entstehung, Ausgabe und die Art und Weise seiner Nutzung kann nicht Privatsache ökonomisch agierender Individuen oder Vereinigungen sein. Es bedarf gesellschaftlicher Regeln für seine Nutzung und seinen Einsatz, damit das gesellschaftliche Leben, vor allem die gesellschaftliche Produktion in ihrem Fluss als Reproduktion einigermaßen stabil abläuft.
In seiner beschriebenen, heutigen Art ist das Geld auch Instrument der Verteilung. Und diese gilt es so zu gestalten, dass nicht nur ein Anreiz zur Schaffung des Reichtums der Gesellschaft gegeben wird, sondern auch die Möglichkeit und die Voraussetzung für dessen kontinuierlichen Verbrauch. Die Gesellschaft als ganze kann Überschüsse an Gütern in ihrer Naturalform nicht beliebig lange aufbewahren, also sparen, weil sie verderblich sind oder technisch veralten. Eine Einkommensverteilung, welche die Gesellschaft immer mehr in Arm und Reich spaltet, missachtet diese ökonomische Grundwahrheit. Und sie ist Ausdruck einer ungeheuren Zukunftsangst,  Gier und auch Dummheit derjenigen, die sich (auf Kosten einer großen Mehrheit) bereichern. Für nichts von all dem sind sie zu beneiden.
Was gilt es also zu verändern? Unsere Rechtsordnung bezüglich der Wirtschaft! Denn es kann kein Menschenrecht auf unbegrenzten Reichtum geben. Unser Planet darf nicht ökonomisch zugrundegerichtet und in die gesellschaftliche Katastrophe geführt werden. Dazu muss unser Rechtssystem notwendige Grenzen setzen - auch was die Einkommens- und Vermögensbildung betrifft. Denn die bis 1971 durch den Goldstandard des Geldes gesetzten Grenzen sind verlorengegangen, haben sich aufgelöst in einem rund hundertjährigen Transformationsprozess der Wirtschaft, dessen formaler Abschluss der Bruch des Abkommens von Bretton Woods war. Wenn heute Vorstände von Banken und Konzernen wie VW, nachdem sie mit teils krimineller Energie Milliardenschäden angerichtet und die Wirtschaft an den Rand der Katastrophe geführt haben, nicht nur nicht zur Verantwortung gezogen werden, sondern ihre geradezu absurden, von ihnen nicht mehr zu verbrauchenden Einkommen weiterhin beziehen, ja sogar weiter erhöhen können, ist die Demokratie massiv in Frage gestellt. (Manche sprechen schon von einem neuen, Finanzfeudalismus.) Und wenn dies wiederum keinen nennenswerten Widerstand bewirkt, so sind wir offenbar von der kollektiven Angst befallen, die weit verbreitete und wohl zur Normalität gewordene Gier zügeln zu müssen. Woher kommt diese Angst? Das tiefere Wesen unserer wirtschaftlichen Existenzbedingungen ist nicht begriffen worden. Wir sind Sklaven infolge ökonomischen Unverstands und politischer Feigheit. Wir fürchten sogar die eigenen ökonomischen Daten und Verhaltensvorhersagen. Bei realer demokratischer Kontrolle ließe sich gerade mit denen die ökonomisch-ökologische Entwicklung in einem breiten gesellschaftlichen Konsens steuern anstatt sie dem Wildwuchs im Chaos der jetzigen Konkurrenzkampfgesellschaft zu überlassen.