Von
Heerke Hummel
(Erschienen in: „Das Blättchen“, Nr. 15/2016 - http://das-blaettchen.de/2016/07/ttip-die-buechse-der-pandora-36649.html)
Licht am Ende des Tunnels! Es besteht Hoffnung, die
Unterzeichnung der Freihandelsabkommen der Europäischen Union mit Kanada (Ceta)
und den USA (TTIP) doch noch abwenden zu können. Jedenfalls hat die
EU-Kommission am Fünften dieses Monats
entschieden, dass 42 nationale und Regionalparlamente in Europa an der
Ratifizierung des Freihandelsabkommens mit Kanada beteiligt werden sollen;
anstatt, wie ursprünglich vorgesehen, die Sache auf Europa-Ebene zu erledigen. Der
Brexit lässt grüßen.
Den Freihandelsbefürwortern beginnen schon seit
geraumer Zeit mit der immer stärker werdenden Gegenbewegung die Felle davon zu
schwimmen. Darum haben sie zum Angriff geblasen – unter anderem mit einer
Broschüre. „Die neue Gewinn-Zone. Wie das Freihandelsabkommen TTIP Europa und
Amerika stärkt“ lautet deren Titel. Herausgegeben wurde sie von der
Atlantik-Brücke e.V. Laut WIKIPEDIA wurde dieser Verein 1952 als private,
überparteiliche und gemeinnützige Organisation mit dem Ziel gegründet, eine
wirtschafts-, finanz-, bildungs- und militärpolitische Brücke zwischen der
Siegermacht USA und der Bundesrepublik Deutschland zu schlagen. Zu seinen
Mitgliedern zählen heute über 500 führende Persönlichkeiten aus Bank- und
Finanzwesen, Wirtschaft, Politik, Medien und Wissenschaft, darunter die
Bundeskanzlerin und Bundesvorsitzende der CDU Angela Merkel sowie Sigmar
Gabriel, SPD-Parteivorsitzender, Bundesminister für Wirtschaft
und Energie und Vizekanzler. Die Atlantikbrücke fungiert als Netzwerk und
privates Politikberatungsinstitut.
Die Argumentation der Atlantik-Brücke pro
TTIP-Abkommen lässt deutlich werden, dass die bisherigen Einwände der immer
breiter werdenden Widerstandsbewegung der Gefährlichkeit der Situation und den von
TTIP ausgehenden Gefahren kaum gerecht wird. Die Verfasser der Broschüre weisen
auf etliche sicherlich von Vielen einzusehende Gründe hin, eine riesige Freihandelszone
zu schaffen, die praktisch den ganzen nordamerikanischen Kontinent und die EU umfasst.
Friedrich Merz etwa – vielen bekannt durch seine früheren Bierdeckel-Steuererklärungsdebatten
im Deutschen Bundestag als damaliger Fraktionsvorsitzender der CDU – stellt, nun
als „Vorsitzender Atlantik-Brücke e.V.“ einleitend fest, Europa und die USA
könnten mit TTIP ökonomisch nur gewinnen. Dabei verweist er auf die
transatlantische Investitions- und Handelspartnerschaft mit zu erwartenden
Folgen wie wirtschaftliches Wachstum, Beschäftigungszuwachs sowie höhere
Gehälter und Steuereinnahmen; ferner größere Produktvielfalt und niedrigere
Endpreise am Markt. Gerade auch kleine und mittlere Hersteller und
Dienstleister, die fest in regionalen Strukturen verankert und verortet sind,
meint er, würden mit TTIP wachsen. Hinzu kämen wegfallende Zölle und die
Angleichung technologischer Spitzenstandards, sowie hoher Normen im
Umweltschutz, Verbraucherschutz und Sozialbereich. Und über die regulatorische
Kooperation könnten die transatlantischen Partner durch TTIP künftig gemeinsam
daran arbeiten, neue und noch bessere Standards so zu entwickeln, „dass sie von vornherein keine
Handelshemmnisse mehr darstellen und vorbildlich sind für die globale Ordnung
von Märkten und Regulierungen“. Nicht zu unterschätzen sei dabei die
geopolitisch-strategische Dimension von TTIP. Mit diesem Abkommen verbänden die
USA und Europa auch die Chance, ihre Werte und Interessen in aller Welt zu
verteidigen und zu stärken. Das mag manch einer auch so sehen, zumal Freiheit, Demokratie und Menschenrechte auf
der einen Seite sowie Sicherheit, Frieden und Wohlstand auf der anderen Seite als
Grundpfeiler der transatlantischen Partnerschaft seit der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts dargestellt werden. Und Merz ergänzt mahnend, „der innere Zusammenhang aus einer stabilen
demokratischen und pluralistischen Ordnung, der Kooperation in Sicherheits- und
Verteidigungsfragen sowie den engen ökonomischen Beziehungen“ müsse
beständig erneuert werden. TTIP vermöge als konkretes inhaltliches Projekt „die westliche Allianz zu untermauern, indem
sie wirtschaftlich noch enger verbunden wird.“ Das sind deutliche, nicht zu
überhörende Worte, die auch all jene von Ängsten vor der Zukunft Geplagten erreichen
könnten, die, mit der Gegenwart zufrieden, für ein Weiter so plädieren.
Was TTIP so gefährlich macht, ist seine vom Kapital,
von kapitalistischer Denkweise bestimmte Prägung. Nicht die Vernunft aus der
Perspektive des Ganzen, also der Weltgemeinschaft steht im Mittelpunkt der
Aufmerksamkeit, sondern das private Interesse an Kapitalvermehrung als
Selbstzweck ist die bestimmende Richtschnur allen Handelns. Diese Dominanz des
Privaten schließt Solidarität vom Grundsatz her aus, erzeugt nicht wirklichen
Wettbewerb, sondern verlangt bei Strafe des eigenen Untergangs den Kampf aller
gegen alle und mit allen Mitteln – um Marktanteile, Energie- und
Rohstoffquellen, ökonomische Ressourcen aller Art und Vorherrschaft in jeder
Hinsicht. Das ganze 20. Jahrhundert war davon geprägt, mit zwei Weltkriegen,
die Europa weitgehend verwüsteten und bis dahin nie gekannte Opfer forderten. Die
USA glaubten, aus diesem Kampf als überragender Sieger hervorgegangen zu sein. Inzwischen
muss man wohl von einem Pyrrhussieg
sprechen. Denn Amerika hatte die Zeichen der Zeit nicht verstanden und
die Bedeutung strategischer ökonomischer Planung und Politik unterschätzt,
beziehungsweise es war bis heute in seinem Wahn von Freiheit und von der
privaten Natur seines Reichtums und des Geldes gefesselt, handlungsunfähig.
China und Russland stehen wieder vor der Tür und versperren den Weg für ein
unendliches Wachstum des amerikanischen Kapitals.
Da soll nun das transatlantische Freihandelsabkommen
helfen, einen Ausweg zu finden. Amerika und Europa gemeinsam müssten es doch
schaffen, Grenzen des Wachstums zu überwinden und mit den Widersachern, Herren
der Willkür, fertig zu werden. Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer wird in der
Broschüre folgendermaßen zitiert: „Wenn
TTIP hier globale rechtsstaatliche Standards setzt, wird letztlich kaum eine
andere Macht der Welt mehr an diesem modernen Maßstab vorbeikommen – und
Investitionen im Ausland können besser als je zuvor weltweit gegen politische
Willkür geschützt werden.“ Was politische Willkür wäre, hätten mit TTIP (Sonder-)Gerichte
zu entscheiden, nicht das Volk und seine Repräsentanten – allen gegenteiligen,
beschwichtigenden Behauptungen zuwider. Das transatlantische Abkommen brächte
einen transatlantischen Freibrief für einen totalen Kapitalismus mit all seinen
Widersprüchen, die Europa vor hundert Jahren in die erste große Katastrophe
führten. Heute steht die Welt vor einer ähnlichen, nicht weniger und sogar für
den Bestand unseres Planeten gefährlichen Situation. Denn die Motivation der
Handelnden, das private, rücksichtslose Interesse an Kapitalverwertung um jeden
Preis, hat sich bis heute nicht verändert.
Amerika braucht Europa für seine Dominanzinteressen in
der Welt. Braucht Europa die USA? Nur, wenn wir wirklich die gleichen
Interessen verfolgen! In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts glaubten
wir Europäer, aus der Geschichte seiner ersten Hälfte gelernt zu haben. Die
Integration westeuropäischer Staaten bedeutete den Versuch, die Widersprüche
einer vom Kapital geprägten Gesellschaft zu beherrschen. Doch die nicht
abreißenden Krisen insbesondere der letzten zehn Jahre zeigen, dass dieses Ziel
so gut wie nicht erreicht wurde. Zum dritten Mal innerhalb von hundert Jahren
nimmt das deutsche Kapital eine exponierte Stellung in der Welt und besonders
innerhalb Europas ein. Fatal wäre es, die Ursache dafür in besonderer
Tüchtigkeit der Deutschen zu suchen. Es waren immer die besonderen politischen
und ökonomischen Bedingungen Deutschlands und Europas, die dieses Phänomen
hervorgebracht haben. Wenn heute von einer besonderen Verantwortung
Deutschlands gesprochen wird, die sich aus seiner ökonomischen Stärke ableitet,
so müsste ergänzt werden: Ja, und diese Verantwortung besteht darin,
voranzugehen bei der politischen Beherrschung des Kapitals, bei seiner
Unterordnung unter die ökonomische Vernunft. Es wäre die Befreiung unserer
Gesellschaft vom unerbittlichen Zwang der Kapitalmärkte zu Kapitalverwertung
und Wachstum, koste es was es wolle. Konkret: Deutschland müsste sich im Rahmen
der Europäischen Union und unter Einbeziehung aller Mitgliedländer massiv für
strukturpolitische Maßnahmen und Umverteilung ökonomischer Ressourcen innerhalb
der EU und zum Wohle aller EU-Bürger einsetzen. Das wäre ein gewaltiges Projekt
für Jahrzehnte. Es würde ein grundsätzliches ökonomisches Umdenken erfordern,
darauf gerichtet, auf der Basis einer gemeinsamen Währung einen
innereuropäischen Reproduktionsprozess als Einheit von Produktion und Verbrauch
bei Einbeziehung aller EU-Bürger zu organisieren. Es könnte ein gemeinsames
Wirtschaften aller Europäer auf gemeinsame Rechnung mit Bestandsschutz
einerseits und zielgerichtetem Niveauausgleich andererseits sein. Wichtige
Schritte dahin wären sicherlich entsprechende Investitionsentscheidungen und Vergabe
zinsloser Kredite durch die Europäische Zentralbank sowie die Angleichung von
Mindestlöhnen und anderen Sozialstandards.
Ein solches Projekt könnte die Europäische Union ohne
die Inanspruchnahme außereuropäischer Kapitalmärkte realisieren. Mit 510
Millionen Einwohnern und einem gut qualifizierten Arbeitskräftepotential
übertrifft die EU die USA (etwa 320 Millionen) heute bei weitem, auch noch, wenn
man den Austritt Großbritanniens (etwa 64 Millionen) aus der EU berücksichtigt.
Daraus leitet sich sowohl ein überragender innerer Verbrauchermarkt als auch
ein stabiler Markt für Investitionsgüter in der EU auf lange Sicht ab. Das
bedeutet: Die Europäische Union könnte ohne TTIP ein wohldurchdachtes
ökonomisches Entwicklungsprogramm für Jahrzehnte auflegen und dieses aus
eigener Kraft im Interesse aller EU-Bürger kostengünstig auf der Basis hauptsächlich
interner Arbeitsteilung und Kooperation realisieren. Das könnte ein Konjunkturprogramm
sein, das – ganz im Gegensatz zu dem von Friedrich Merz mit TTIP prophezeiten -
nicht auf Kapitalverwertung und
Ausbeutung fremder Arbeit durch Kapitalexport und unfairen Handel abzielt,
sondern auf die Mehrung des Wohlstands der eigenen Bürger durch eigene,
sinnvolle Leistung bei äquivalentem Austausch mit der übrigen Welt und bei
gleichzeitiger Hilfe für sie. Fairer, ausgewogener Handel würde einschließen,
den außereuropäischen Regionen die Chance eines eigenen ökonomischen
Aufschwungs durch Entfaltung der eigenen produktiven Kräfte zu geben. Auch
wissenschaftlich-technische Hilfe könnte dazu beitragen. Das wäre wahre
Solidarität über die Grenzen der Europäischen Union hinaus und könnte
wesentlich zur Befriedung der Welt beitragen – in völligem Gegensatz nicht nur
zu den Waffenexporten, mit denen Europa, besonders Deutschland, zwar gut
verdient, sich aber in der Hauptsache unglaublich schuldig macht am Elend der
Welt. Das Flüchtlingsdrama an den EU-Grenzen zeigt, dass dieses Elend zu einer
immer stärkeren moralischen und ökonomischen Herausforderung für uns Europäer
wird. TTIP könnte die Lage nur verschlimmern, weil es die Welt noch tiefer in
Arm und Reich spalten würde.
Europa braucht die Freihandelszone mit Amerika nicht,
um zu prosperieren. Aber bräuchte Amerika dazu Europa, wie die Autoren der
Atlantik-Brücke ebenfalls suggerieren? Nein, denn auch die USA könnten
natürlich – entsprechende gesellschaftswissenschaftliche Einsicht und
politischer Wille vorausgesetzt – auf ihrem Kontinent ebenfalls schrittweise
eine solidarische ökonomische Gemeinschaft gestalten, die, sich allmählich nach
Süden ausdehnend, der riesigen, hoch industrialisierten Volkswirtschaft ein
praktisch unbegrenztes Konjunkturprogramm zu bescheren vermögen würde. Solch
ein Sieg der ökonomischen und politischen Vernunft in den USA ist derzeit noch
eine utopische Vorstellung.
Doch in Europa? Auch hier sind die Chancen einer tatsächlichen
Wende im ökonomischen Denken und politischen Handeln gering. Dennoch: Der
zunehmende Widerstand gegen TTIP lässt hoffen. Um ihn zu stärken, ist immer
wieder und überall zu fragen: Wollt ihr Euch ihm wirklich unterwerfen, dem
Wahnsinn eines totalen, dann wohl nicht mehr zu beherrschenden Kapitalismus?
Die heutige Welt mit ihrem sagenhaften Reichtum einer verschwindenden
Minderheit einerseits und bitterster Armut der übergroßen Mehrheit der
Erdenbewohner andererseits, mit ihrem Chaos von Kriegen, Zerstörung und
Dutzenden Millionen flüchtenden Menschen ist die Frucht eines über
zweihundertjährigen ungezügelten Wirkens des Wolfsgesetzes des Kapitalismus.
Friss oder werd gefressen, lautet seine Maxime. Mit TTIP würde sein Freiraum unabsehbar
erweitert werden. Es käme einer Öffnung der Büchse der Pandora gleich.