Von
Heerke Hummel
Ein sehr bemerkenswertes, weil ungewöhnliches Buch des
Briten John Lanchester liegt in deutscher Übersetzung vor. Sein Titel: Die
Sprache des Geldes. Der eigentliche Grund, als Schriftsteller dieses Buch zu
schreiben, klärt J. L. auf, seien die Offenbarungen der seit 2008 andauernden
Krise gewesen: Es klaffe eine gewaltige Lücke zwischen den Menschen, die
wirtschaftliche Zusammenhänge verstehen, und jenen, die es nicht tun. Neben
Geheimnistuerei und Verschleierungstaktiken sei dafür das verbreitete Gefühl
verantwortlich, dass es so für beide Seiten viel einfacher war. Die Finanzleute
hätten niemandem erklären müssen, was sie eigentlich im Schilde führten,
durften ihre eigenen Regeln schreiben und hätten nicht schlecht davon
profitiert. Und „wir anderen fanden es äußerst angenehm, uns nicht den Kopf
über ökonomische Fragen zerbrechen zu müssen.“ So gesehen ist das Buch fast
ausnahmslos jedem Staatsbürger unserer Republik, einschließlich unserer
Spitzenpolitiker, als Lektüre zu empfehlen. Denn als ich gleich nach der Pleite
von Lehman Brothers eine
Lutherkonferenz in Berlin ihrer ökonomischen Themenstellung wegen besuchte, vernahm ich aus dem Munde von hochrangigen
Politikern aller im Bundestag vertretenen Parteien, einschließlich unseres
heutigen Finanzministers, dieses wie abgesprochen formulierte Bekenntnis: Ich
bin überrascht, ich habe die Vorgänge auf den Finanzmärkten nicht verstanden.
Lanchesters Aufklärung über die heutige Welt der
Ökonomie ist ebenso originell wie unterhaltsam geschrieben und für den
mitdenkenden Leser verständlich. Diesen mag er mit so manchem Bonmot der
Wirtschafts- und Theoriengeschichte überraschen; etwa mit der Phillipsmaschine,
der Schöpfung eines Neuseeländers, der aus Teilen alter Lancaster-Flugzeuge
eine Maschine baute, welche mittels verschiedener Wasserströme die
Funktionsweise der gesamten britischen Volkswirtschaft veranschaulichen sollte.
Im Teil Geldlexikon
seines Buches erklärt er Begriffe auf seine, spezielle Weise. Manch einen Leser
wird er da des Öfteren nicht zufriedenstellen. Aber unzutreffend ist es eben
auch nicht, wenn er zum Beispiel formuliert: „Kapitalismus Ein viel zu umfangreiches Thema, um es in einem
Lexikoneintrag zusammenzufassen. Einen Gesichtspunkt aber sollte man an dieser
Stelle vielleicht betonen, nämlich den, dass das wichtigste Element bei diesem
Begriff das Kapital ist. Nicht der Mensch, sondern das Kapital. … (Die Wut
vieler Kritiker der internationalen Finanzwelt – H. H.) speiste sich
hauptsächlich aus dem Umstand, dass die Banken dermaßen groß und mächtig
geworden waren, dass sie im Grunde genommen keine kapitalistischen
Institutionen mehr waren. Sie hatten sich vielmehr zu monströsen Hybridgebilden
aus staatlicher Förderung und privatem Profitgebaren verwandelt, deren
Hauptinteresse nicht in einem funktionstüchtigen Kapitalismus, sondern in der
Versorgung ihrer Führungskräfte mit horrenden Honoraren lag. Ein privater
Investor – ein hundertprozentiger, erzkonservativer Anhänger des freien Marktes
– drückte das mir gegenüber einmal so aus: ‚Die Banken haben den Kapitalismus
kaputtgemacht.‘“
Hier wird zwar keine Theorie entwickelt, jedoch ein
großes Gespür für den grundlegenden Wandel, der sich auf dem Gebiet der
Ökonomie seit fast einem halben Jahrhundert weltweit vollzogen hat. Und
Lanchester ist der eigentlichen Wahrheit, der theoretischen Erklärung dieses
Wandels sehr dicht auf der Spur, wenn er – den Politologen und renommierten Historiker
David Runciman zitierend – schreibt: „Die Welt, die Ende der siebziger Jahre
auseinanderbrach, hatte schon zu Anfang jenes Jahrzehnts begonnen, sich
aufzulösen. Dazu trug eine Reihe von Krisenfaktoren bei, unter anderem das
traurige Ende des Bretton-Woods-Abkommens …“
Was war daran so bedeutsam? Der Bruch des Abkommens von Bretton Woods
beendete die Bezogenheit des Geldes auf Gold als Geldware (Begriff der
Marxschen Geldtheorie). Das Geld war plötzlich, buchstäblich über Nacht, selbst
keine Ware mehr, nicht einmal mehr Stellvertreter einer Ware, nämlich des Goldes.
Aber was dann? Bei Lanchester lesen wir: „…diese digitalen Einsen und Nullen
messen den Wert unserer Arbeit … Und diese Einsen und Nullen werden von
Regierungen ins Leben gerufen, …sie können einfach verkünden, dass es von jetzt
an mehr elektronisches Geld gibt. Wir neigen dazu, das Geld als eine physische
Einheit zu betrachten, ein Objekt, aber das ist es in Wahrheit gar nicht.
Modernes Geld ist zu einem Vertrauensakt geworden, zu einem Akt des Kredits und
des Glaubens.“
John Lanchester hat - obwohl die Theoretiker der Ökonomie eher
belächelnd - eine exakte theoretische Verallgemeinerung der Realität nur knapp
verfehlt. Denn nach marxistischem Verständnis besitzt die Arbeit keinen Wert, sondern sie schafft ihn. Daher müsste es richtigerweise heißen: Die Einsen und
Nullen messen – beziehungsweise drücken aus - unsere Arbeit als
gesellschaftliche Durchschnitts- oder Normalarbeit. Und zu ergänzen wäre: Das
moderne Geld ist zu einer Information
über gesellschaftliche beziehungsweise für die Gesellschaft geleistete Arbeit geworden.
Es drückt aus, welchen Beitrag an Arbeit der Einzelne zur Schaffung des
Reichtums der Gesellschaft geleistet und welchen Anspruch er also darauf hat. Kann das angesichts absurder Vergütungen
von Bankern sein? Ja! Denn was hier formuliert ist, stellt einen allgemeinen, wesentlichen Zusammenhang
in unserer heutigen ökonomischen Realität dar. Die Boni der Banker und sonstige
Einzelfälle bilden (gesetzlich noch nicht unterbundene) Ausnahmen von der
ökonomischen Gesetzmäßigkeit. Die aber spiegelt ein neues Wesen der
ökonomischen Basis dieser Gesellschaft wider: Das neue, „unbegrenzte“ Geld
basiert allein auf dem Vertrauen in die ökonomisch organisierende Kraft des
Staates.
Bislang ist der Staat seiner ökonomischen Aufgabe, dem
ganzen System der Wirtschaft per Gesetz zwar hinreichende Freiräume zu schaffen
und zugleich aber auch die notwendigen Grenzen zu setzen, bei weitem nicht
gerecht geworden. Das war die Folge des dominierenden Einflusses des
Neoliberalismus auf die Politik seit den
1970er Jahren. Lanchester erläutert das am Beispiel von Margaret Thatcher und
Ronald Reagan. Anstatt die in den 50er und 60er Jahren begonnene staatliche
Einflussnahme auf die Wirtschaft nach der Kündigung des Abkommens von Bretton
Woods den neuen Basisbedingungen entsprechend zu intensivieren, leiteten diese
Politiker eine weltweite Wende („Gegenrevolution“) hin zum Rückzug der Politik
aus der Wirtschaft ein. Es war die Folge des Umstands, dass weder Theoretiker
noch Politiker die Bedeutung des 1971er Umbruchs in der ökonomischen Basis (der
selbst nur Endpunkt einer vorherigen latenten Entwicklung war) verstanden
hatten. Daher waren sie auch nicht in der Lage, die notwendigen Konsequenzen
für die Weiterentwicklung des politischen, juristischen und geistig-kulturellen
Überbaus der Gesellschaft zu ziehen. Und so wurde das weite Feld der Wirtschaft
einfach den Praktikern der Märkte und dem Wolfsgesetz des Kapitalismus
überlassen.
Inzwischen gärt es wegen des unerträglich gewordenen
Widerspruchs zwischen Arm und Reich in der ganzen Welt, Millionen Menschen sind
auf der Flucht vor Krieg, Hunger und Not. John Lanchester erwartet nun, noch
einmal David Runciman zitierend, eine „Gegen-Gegenrevolution, angeführt von
fortschrittlichen Köpfen, die …nicht davor zurückschrecken, das System … zu
stürzen. … Wenn das gegenwärtige Jahrzehnt zu Ende geht, werden wir vielleicht
sehen, wer.“
Bleibt nur hinzuzufügen: Das Wesen einer solchen Revolution müsste – marxistisch gesehen - die
Anpassung des politischen, juristischen und geistig-kulturellen Überbaus der
Gesellschaft an die Erfordernisse ihrer veränderten ökonomischen Basis sein.
Ihre Erscheinungsweise könnte sich –
je nach den konkreten Umständen der gesellschaftlichen Konflikte – sehr
unterschiedlich darstellen, bis hin zu einem zähen Reformprozess, nur der Not
der Umstände gehorchend.
(John
Lanchester, Die Sprache des Geldes. Und warum wir sie nicht verstehen (sollen),
J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart, 2015, ISBN 978-3-608-94899-8 352 S.)
J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart, 2015, ISBN 978-3-608-94899-8 352 S.)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen