Montag, 11. Juli 2016

Weckruf zur Revolution in der „Sprache des Geldes“



Von Heerke Hummel
Ein sehr bemerkenswertes, weil ungewöhnliches Buch des Briten John Lanchester liegt in deutscher Übersetzung vor. Sein Titel: Die Sprache des Geldes. Der eigentliche Grund, als Schriftsteller dieses Buch zu schreiben, klärt J. L. auf, seien die Offenbarungen der seit 2008 andauernden Krise gewesen: Es klaffe eine gewaltige Lücke zwischen den Menschen, die wirtschaftliche Zusammenhänge verstehen, und jenen, die es nicht tun. Neben Geheimnistuerei und Verschleierungstaktiken sei dafür das verbreitete Gefühl verantwortlich, dass es so für beide Seiten viel einfacher war. Die Finanzleute hätten niemandem erklären müssen, was sie eigentlich im Schilde führten, durften ihre eigenen Regeln schreiben und hätten nicht schlecht davon profitiert. Und „wir anderen fanden es äußerst angenehm, uns nicht den Kopf über ökonomische Fragen zerbrechen zu müssen.“ So gesehen ist das Buch fast ausnahmslos jedem Staatsbürger unserer Republik, einschließlich unserer Spitzenpolitiker, als Lektüre zu empfehlen. Denn als ich gleich nach der Pleite von Lehman Brothers eine Lutherkonferenz in Berlin ihrer ökonomischen Themenstellung wegen  besuchte, vernahm ich aus dem Munde von hochrangigen Politikern aller im Bundestag vertretenen Parteien, einschließlich unseres heutigen Finanzministers, dieses wie abgesprochen formulierte Bekenntnis: Ich bin überrascht, ich habe die Vorgänge auf den Finanzmärkten nicht verstanden.
Lanchesters Aufklärung über die heutige Welt der Ökonomie ist ebenso originell wie unterhaltsam geschrieben und für den mitdenkenden Leser verständlich. Diesen mag er mit so manchem Bonmot der Wirtschafts- und Theoriengeschichte überraschen; etwa mit der Phillipsmaschine, der Schöpfung eines Neuseeländers, der aus Teilen alter Lancaster-Flugzeuge eine Maschine baute, welche mittels verschiedener Wasserströme die Funktionsweise der gesamten britischen Volkswirtschaft veranschaulichen sollte.
Im Teil Geldlexikon seines Buches erklärt er Begriffe auf seine, spezielle Weise. Manch einen Leser wird er da des Öfteren nicht zufriedenstellen. Aber unzutreffend ist es eben auch nicht, wenn er zum Beispiel formuliert: „Kapitalismus Ein viel zu umfangreiches Thema, um es in einem Lexikoneintrag zusammenzufassen. Einen Gesichtspunkt aber sollte man an dieser Stelle vielleicht betonen, nämlich den, dass das wichtigste Element bei diesem Begriff das Kapital ist. Nicht der Mensch, sondern das Kapital. … (Die Wut vieler Kritiker der internationalen Finanzwelt – H. H.) speiste sich hauptsächlich aus dem Umstand, dass die Banken dermaßen groß und mächtig geworden waren, dass sie im Grunde genommen keine kapitalistischen Institutionen mehr waren. Sie hatten sich vielmehr zu monströsen Hybridgebilden aus staatlicher Förderung und privatem Profitgebaren verwandelt, deren Hauptinteresse nicht in einem funktionstüchtigen Kapitalismus, sondern in der Versorgung ihrer Führungskräfte mit horrenden Honoraren lag. Ein privater Investor – ein hundertprozentiger, erzkonservativer Anhänger des freien Marktes – drückte das mir gegenüber einmal so aus: ‚Die Banken haben den Kapitalismus kaputtgemacht.‘“
Hier wird zwar keine Theorie entwickelt, jedoch ein großes Gespür für den grundlegenden Wandel, der sich auf dem Gebiet der Ökonomie seit fast einem halben Jahrhundert weltweit vollzogen hat. Und Lanchester ist der eigentlichen Wahrheit, der theoretischen Erklärung dieses Wandels sehr dicht auf der Spur, wenn er – den Politologen und renommierten Historiker David Runciman zitierend – schreibt: „Die Welt, die Ende der siebziger Jahre auseinanderbrach, hatte schon zu Anfang jenes Jahrzehnts begonnen, sich aufzulösen. Dazu trug eine Reihe von Krisenfaktoren bei, unter anderem das traurige Ende des Bretton-Woods-Abkommens …“  Was war daran so bedeutsam? Der Bruch des Abkommens von Bretton Woods beendete die Bezogenheit des Geldes auf Gold als Geldware (Begriff der Marxschen Geldtheorie). Das Geld war plötzlich, buchstäblich über Nacht, selbst keine Ware mehr, nicht einmal mehr Stellvertreter einer Ware, nämlich des Goldes. Aber was dann? Bei Lanchester lesen wir: „…diese digitalen Einsen und Nullen messen den Wert unserer Arbeit … Und diese Einsen und Nullen werden von Regierungen ins Leben gerufen, …sie können einfach verkünden, dass es von jetzt an mehr elektronisches Geld gibt. Wir neigen dazu, das Geld als eine physische Einheit zu betrachten, ein Objekt, aber das ist es in Wahrheit gar nicht. Modernes Geld ist zu einem Vertrauensakt geworden, zu einem Akt des Kredits und des Glaubens.“
John Lanchester hat -  obwohl die Theoretiker der Ökonomie eher belächelnd - eine exakte theoretische Verallgemeinerung der Realität nur knapp verfehlt. Denn nach marxistischem Verständnis besitzt die Arbeit keinen Wert, sondern sie schafft ihn. Daher müsste es richtigerweise heißen: Die Einsen und Nullen messen – beziehungsweise drücken aus - unsere Arbeit als gesellschaftliche Durchschnitts- oder Normalarbeit. Und zu ergänzen wäre: Das moderne Geld ist zu einer Information über gesellschaftliche beziehungsweise für die Gesellschaft geleistete Arbeit geworden. Es drückt aus, welchen Beitrag an Arbeit der Einzelne zur Schaffung des Reichtums der Gesellschaft geleistet und welchen Anspruch er also darauf  hat. Kann das angesichts absurder Vergütungen von Bankern sein? Ja! Denn was hier formuliert ist, stellt einen allgemeinen, wesentlichen Zusammenhang in unserer heutigen ökonomischen Realität dar. Die Boni der Banker und sonstige Einzelfälle bilden (gesetzlich noch nicht unterbundene) Ausnahmen von der ökonomischen Gesetzmäßigkeit. Die aber spiegelt ein neues Wesen der ökonomischen Basis dieser Gesellschaft wider: Das neue, „unbegrenzte“ Geld basiert allein auf dem Vertrauen in die ökonomisch organisierende Kraft des Staates.
Bislang ist der Staat seiner ökonomischen Aufgabe, dem ganzen System der Wirtschaft per Gesetz zwar hinreichende Freiräume zu schaffen und zugleich aber auch die notwendigen Grenzen zu setzen, bei weitem nicht gerecht geworden. Das war die Folge des dominierenden Einflusses des Neoliberalismus auf  die Politik seit den 1970er Jahren. Lanchester erläutert das am Beispiel von Margaret Thatcher und Ronald Reagan. Anstatt die in den 50er und 60er Jahren begonnene staatliche Einflussnahme auf die Wirtschaft nach der Kündigung des Abkommens von Bretton Woods den neuen Basisbedingungen entsprechend zu intensivieren, leiteten diese Politiker eine weltweite Wende („Gegenrevolution“) hin zum Rückzug der Politik aus der Wirtschaft ein. Es war die Folge des Umstands, dass weder Theoretiker noch Politiker die Bedeutung des 1971er Umbruchs in der ökonomischen Basis (der selbst nur Endpunkt einer vorherigen latenten Entwicklung war) verstanden hatten. Daher waren sie auch nicht in der Lage, die notwendigen Konsequenzen für die Weiterentwicklung des politischen, juristischen und geistig-kulturellen Überbaus der Gesellschaft zu ziehen. Und so wurde das weite Feld der Wirtschaft einfach den Praktikern der Märkte und dem Wolfsgesetz des Kapitalismus überlassen.
Inzwischen gärt es wegen des unerträglich gewordenen Widerspruchs zwischen Arm und Reich in der ganzen Welt, Millionen Menschen sind auf der Flucht vor Krieg, Hunger und Not. John Lanchester erwartet nun, noch einmal David Runciman zitierend, eine „Gegen-Gegenrevolution, angeführt von fortschrittlichen Köpfen, die …nicht davor zurückschrecken, das System … zu stürzen. … Wenn das gegenwärtige Jahrzehnt zu Ende geht, werden wir vielleicht sehen, wer.“
Bleibt nur hinzuzufügen: Das Wesen einer solchen Revolution müsste – marxistisch gesehen - die Anpassung des politischen, juristischen und geistig-kulturellen Überbaus der Gesellschaft an die Erfordernisse ihrer veränderten ökonomischen Basis sein. Ihre Erscheinungsweise könnte sich – je nach den konkreten Umständen der gesellschaftlichen Konflikte – sehr unterschiedlich darstellen, bis hin zu einem zähen Reformprozess, nur der Not der Umstände gehorchend.

(John Lanchester, Die Sprache des Geldes. Und warum wir sie nicht verstehen (sollen),
J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart, 2015, ISBN 978-3-608-94899-8 352 S.)  

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