Von
Heerke Hummel
(Erschienen in: „Das Blättchen“, Nr. 7/2016 - http://das-blaettchen.de/2016/03/eu-zwischen-markt-und-plan-35633.html)
Mario Draghi
versetzte die Finanzwelt Deutschlands in helle Aufregung, als die von ihm
geleitete Europäische Zentralbank drei Tage vor dem deutschen Superwahltag den
Leitzins erstmals auf null Prozent senkte, um das Wirtschaftswachstum in Europa
mit zinslosen Krediten weiter zu stimulieren und so vor allem den
finanzschwachen Staaten unter die Arme zu greifen. Bei Neuverschuldung bleiben
denen dadurch Zinsen von bis zu acht
Prozent erspart. Außerdem wurde in der Frankfurter EZB-Zentrale beschlossen, das
Anleihenkaufprogramm um ein Drittel auszuweiten (bisher wurden dafür seit 2012
insgesamt 1,14 Billionen Euro eingesetzt). Zudem sollen die Banken mit höheren
Strafzinsen für geparkte Gelder belastet werden. Sogar Unternehmensanleihen
will die EZB künftig aufkaufen. Nach Ansicht einer fast geschlossenen
Ökonomenzunft hierzulande ist das alles
töricht.
Deutschland
hat seine Partner an die Wand gespielt, und in Berlin sowie in deutschen Medien
wundert man sich nun über den Gegenwind von überall her, in der Flüchtlingsfrage
und sogar aus dem Frankfurter EZB-Tower. Reinhard Schlieker beispielsweise,
ZDF-Berichterstatter an der Frankfurter Börse, spricht für das deutsche
Finanzestablishment, wenn er beklagt, Mario Draghis „mit dem Kopf durch Wand“
Rennen werde kein Vertrauen in die Konjunktur erzeugen, sondern lediglich die
Reformneigung der Euroländer schwächen und „die Neigung zum Geldausgeben auf
Pump“ verstärken. Die Frage, wie in einem System von Käufern und Verkäufern
Exportüberschüsse erzielt werden können, ohne dass sich ein Teil der Akteure
verschulden und „auf Pump“ leben muss, diese Frage kommt weder R. Schlieker in
den Sinn noch den vielen anderen, die sofort nach Bekanntwerden der
EZB-Beschlüsse verbal auf Draghi geschossen und ihn mit Don Quichotte verglichen
haben. Natürlich ist Herrn Schlieker auch ein Zinssatz von null Prozent nicht
vorstellbar. „Das billige Geld dürfte … in
völlig unsinnige Felder geleitet werden“. Und das Geld, das in haarsträubende
Börsenspekulationen floss und die Steuerzahler Billionen Euro kostete, um
Banken zu retten?
Wäre es
nicht an der Zeit, Billionen Euro auch gezielt für die Lösung der
Flüchtlingskrise einzusetzen und Programme zur Schaffung eines harmonischen
Wirtschafts- und Sozialgefüges in Europa ins Leben zu rufen? Oder unter der
Ägide der EZB technologische, strukturelle Umbrüche im Interesse aller
Mitgliedstaaten und Bürger der Europäischen Union in die Wege zu leiten? So
könnte nachhaltige Konjunkturpolitik gestaltet und gesichert werden, dass
„billiges“ Geld nicht statt die
Konjunktur anzukurbeln in die Spekulation fließt.
Die
Hamburger Zeitschrift „Sozialismus“ stellt in diesem Zusammenhang die Frage, ob es der EZB
und ihrem Chef überhaupt noch gelingen kann, die Wirtschaft anzukurbeln, oder
ob die Maßnahmen der EZB verpuffen, weil ihr Instrumentarium nicht mehr
ausreicht. Mario Draghi habe selbst in der Vergangenheit immer wieder darauf
hingewiesen, dass die Geldpolitik der Notenbank alleine nicht hinreichend sei,
um das Wachstum anzukurbeln. Notwendig seien Strukturreformen in den einzelnen
Ländern. Draghi mahne, andere Politikbereiche müssten mitziehen, damit die
lockere Geldpolitik ihre maximale Wirkung entfaltet. Er weise etwa auf zu
wenige Strukturreformen hin, die die Produktivität erhöhen, Beschäftigung
steigern und auch dazu beitragen könnten, die Währungsunion gegen Schocks von
außen resistenter zu machen.
Wenn Draghis Kritiker
einwenden, die lockere Geldpolitik vermindere den Druck auf die europäischen
Regierungen, Strukturreformen anzupacken, so ist doch zu fragen, ob die
betreffenden Regierungen nicht einfach überfordert sind und welche Ursachen
dafür maßgeblich wären. Offenbar müssten diese Ursachen durch
politisch-ökonomische Maßnahmen von Straßburg, Brüssel und/oder Frankfurt aus
überwunden werden, indem in allen EU-Ländern ein allgemeines, europäisches Interesse an europäischen ökonomischen
Strukturen erzeugt wird. Die Widersprüche zwischen gesamteuropäischem Interesse
und den ökonomischen Vorstellungen der einzelnen Staaten dürften sich nur durch
geeignete Pläne und Maßnahmen der Europäischen Institutionen überwinden lassen.
Auch nach Ansicht des „Sozialismus“ können die „fundamentalen Schwächen“ der Euro-Zone mit der Geldpolitik
bestenfalls gemildert, aber nicht gelöst werden. Und auch die jetzigen Kritiker
der EZB-Politik meinten, schreibt das Blatt, die unkonventionelle Geldpolitik habe
das auf Kredit basierende Wirtschaftssystem in etwas Destruktives verwandelt. Das
Wirtschaftssystem scheine sich von einem Produktionsmodell in ein Recycling von
Finanzen zum Wohl von Financiers zu wandeln.
So widerlegen sich die Verfechter der freien Märkte und
Kämpfer gegen staatlichen Dirigismus selbst. Der beklagte Wandel ist nicht
Schein, sondern schon seit Jahrzehnten desaströse Realität und das Ergebnis
neoliberaler Theorie und von ihr dominierter Politik. Ihre heilige Kuh ist der
Markt, staatliches Dirigieren wird verteufelt. Aber jahrzehntelange Erfahrungen
mit zentraler staatlicher Planung unter dem Kommando einer autoritären Führung,
die in rückständigsten Regionen der Welt eine erbarmungslose ökonomische
Aufholjagd im Überlebenskampf mit dem kapitalistischen Marktsystem
höchstentwickelter Staaten zu führen hatte (Stichworte: Neben kriegerischer
Intervention, Sabotage und Diversion, Handelsbeschränkungen und Embargopolitik),
haben sowohl Stärken als auch Schwächen dieses Systems gezeigt. Zu seinen
Stärken gehörten eine außerordentliche Dynamik der Industrialisierung der
Regionen in der Breite und eine diesbezügliche relativ weit gehende Ausgeglichenheit
auch der sozialen Unterschiede. Die Grundlage dafür bildete eine rigorose
Umverteilung ökonomischer Ressourcen im Sinne politisch-ökonomischer und
sozialer Zielsetzungen. Die Schwächen des Systems traten mit zunehmender
Industrialisierung zutage. Diese bestanden – grob skizziert – vor allem in zu
geringer Flexibilität in jeglicher Hinsicht auf Grund völlig ungenügend eingeräumter Eigenverantwortung der
Wirtschaftseinheiten.
Zu den Stärken des kapitalistischen Marktsystems gehört die
große Flexibilität dank hoher Eigenverantwortung der Akteure als private
Eigentümer. Seine wesentliche Schwäche: Die Akteure ordnen sich dem Wolfsgesetz
des Marktes unter und lassen sich in ihrem Handeln weitestgehend von dem Ziel
leiten, aus Geld mehr Geld zu machen, Kapital zu verwerten. Der Neoliberalismus
hat diese Tendenz noch gesteigert, seitdem er die in den Nachkriegsjahren durch
den Ost-West-Konflikt beförderte sozialstaatliche Einflussnahme auf die
Wirtschaft abzubauen vermochte. Die Folgen:
-
Die zunehmende, weltweite Spaltung der Gesellschaft in
Arm und Reich hat ein Ausmaß erreicht, das wegen des Konfliktpotentials
unerträglich geworden ist (dramatisches Beispiel dafür sind die gewaltigen
Migrationsströme in aller Welt).
-
Der aus dem Prinzip der Gewinnmaximierung
resultierende, sich verschärfende Widerspruch zwischen Produktion und
Konsumtion hat zu einer ökonomischen Dauerkrise mit verschiedenen Gesichtern
und zu wahnwitzigen Erscheinen im Finanzsystem geführt.
-
Der skrupellose Druck der Finanzmärkte auf die
Kapitalverwertung hat weitgehend die Wirtschaft ihres Sinns und die Menschheit
ihrer ökologischen Existenzgrundlagen beraubt.
Um diese Entwicklung zu stoppen und umzudrehen, ist es
dringend geboten, dass der Staat viel stärker als bisher gesamtgesellschaftliche
Interessen definiert und dirigierend und umverteilend durchsetzt. Durch die Regierungen kann das angesichts des
Standes der europäischen Integration sowie der Globalisierung nicht mehr
geschehen. Es bedarf dazu umfassender Initiativen der europäischen
Institutionen, insbesondere der EU-Kommission und der EZB. Mario Dragi und die anderen EU-Oberen sind – ob wissend oder
nicht – in den Zwiespalt von Plan und Markt geraten. Ihre Herausforderung: Einen
gangbaren Weg zwischen diesen ökonomischen Strategien der Vergangenheit
schrittweise zu finden. Es dürfte eine Gratwanderung werden.
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