Montag, 29. Dezember 2014

Der Revolution bedarf es nicht mehr. Zur Selbsttransformation der bürgerlichen Gesellschaft im 20. Jahrhundert



Von Heerke Hummel
(Erschienen in: „Sozialismus“, Nr. 12/2014)


Der an der Berliner Universität der Künste lehrende koreanische Philosoph Byung-Chul Han ging unlängst in der Süddeutschen Zeitung (SZ v. 02.09. 2014) der Frage nach, warum das neoliberale Herrschaftssystem so stabil ist, kaum Widerstand erfährt, warum heute keine Revolution mehr möglich ist, obwohl die Schere zwischen Reich und Arm immer größer wird. Seine Erklärung lautet: Das neoliberale Herrschaftssystem ist ganz anders strukturiert (als das der ‚Disziplinar- und Industriegesellschaft‘ – H. H.). Hier ist die systemerhaltende Macht nicht mehr repressiv, sondern seduktiv, das heißt, verführend. Sie ist nicht mehr so sichtbar wie in dem disziplinarischen Regime. Es gibt kein konkretes Gegenüber mehr, keinen Feind, der die Freiheit unterdrückt und gegen den ein Widerstand möglich wäre.“ Der Neoliberalismus forme aus dem unterdrückten Arbeiter einen freien Unternehmer, einen Unternehmer seiner selbst. Jeder sei heute ein selbstausbeutender Arbeiter seines eigenen Unternehmers. Jeder sei Herr und Knecht in einer Person. Auch der Klassenkampf verwandle sich in einen inneren Kampf mit sich selbst. Wer heute scheitert, beschuldige sich selbst und schäme sich. Man problematisiere sich selbst statt der Gesellschaft. Heute, stellt Byung-Chul Han fest, „gibt es keine kooperierende, vernetzte Multitude, die sich zu einer globalen Protest- und Revolutionsmasse erheben würde (wie von Antonio Negri erwartet – H. H.). Vielmehr macht die Solitude des für sich isolierten, vereinzelten Selbst-Unternehmers die gegenwärtige Produktionsweise aus.“
Wenigstens in Bezug auf die Tendenz der Entwicklung in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist einer solchen Beobachtung der Erscheinungen an der Oberfläche der Gesellschaft durchaus zuzustimmen. Aber Han meint nun, man könne diesen Prozess nicht „marxistisch erklären“. Im Neoliberalismus fände nicht einmal die „berühmte ‚Entfremdung‘ von der Arbeit“ statt. Denn heute stürzten wir uns mit Euphorie in die Arbeit bis zum Burn-out. Die erste Stufe des Burn-out-Syndroms sei eben die Euphorie. Burn-out und Revolution schlössen sich aus, und so sei es ein Irrtum zu glauben, „dass die Multitude das parasitäre Empire abwirft und eine kommunistische Gesellschaft installiert.“ Und auf die Frage, wie es heute mit dem Kommunismus stehe, antwortet er: „Überall wird Sharing und Community beschworen. Die Sharing-Ökonomie soll die Ökonomie des Eigentums und des Besitzes ablösen.“ Doch sei es ein Irrtum zu glauben, dass die Sharing-Ökonomie, wie Jeremy Rifkin in seinem jüngsten Buch "Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft" behauptet, ein Ende des Kapitalismus, eine globale, gemeinschaftlich orientierte Gesellschaft einläutet. Im Gegenteil, die Sharing-Ökonomie führe letzten Endes zu einer Totalkommerzialisierung des Lebens. Und wer kein Geld besitzt, habe eben auch keinen Zugang zum Sharing. Es herrsche die harte Logik des Kapitalismus. Bei diesem schönen "Teilen" gebe paradoxerweise niemand etwas freiwillig ab. Und: „Der Kapitalismus vollendet sich in dem Moment, in dem er den Kommunismus als Ware verkauft. Der Kommunismus als Ware, das ist das Ende der Revolution.“
Lässt sich die Geschichte, wie sie sich seit gut hundert Jahren vollzogen hat, nicht aber auch anders, weniger resignierend, quasi aus einer anderen Perspektive betrachten?

Donnerstag, 13. November 2014

Piketty und seine linken Kritiker

(Erschienen in: „Das Blättchen“, Nr. 23/2014 – www.das-blaettchen.de)
Der französische Ökonom Thomas Piketty sorgt mit seinem Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert (2013 in Frankreich erschienen) weltweit für Furore, seit es Anfang dieses Jahres in den USA herauskam und von Nobelpreisträger Paul Krugman als vielleicht wichtigstes Buch des Jahrzehnts bezeichnet wurde. Nun liegt es auch in deutscher Übersetzung vor, und Stephan Kaufmann und Ingo Stützle haben es dem deutschen Leser mit einem Taschenbuch[i] vorgestellt.

Bedrohte Arten – eine Gemäldeausstellung



(Erschienen in: „Das Blättchen“, Nr. 22/2014 – www.das-blaettchen.de)

Werder an der Havel ist vor allem seines alljährlichen Blütenfestes wegen bekannt und ein beliebtes Ausflugs- und Reiseziel zehntausender Gäste. Doch auch wenn die Natur dem Winterschlaf entgegen geht hat das Inselstädtchen in der Mittelmark seinen besonderen Reiz. Nebelschwaden über dem Wasser, gelbbraunes Schilf an den Ufern des Flusses lassen den Wanderer die Stille schauen, die Gedanken schweifen, vielleicht auch noch einmal zurück zu dem eben im Hotel am Markt Gesehenen.

Donnerstag, 25. September 2014

Wiedererwachen der Vernunft?



Von Heerke Hummel
(Erschienen in: „Das Blättchen“, Nr. 16/2014 (www.das-blaettchen.de)

Was sich in den letzten Jahrzehnten im Weltfinanzsystem tat, war der helle Wahnsinn. Dem lag das ökonomische Theoriegebäude des Neoliberalismus zu Grunde, wesentlich geprägt durch immer neue Gleichgewichts- und Wachstumsmodelle, dekoriert sogar mit Nobelpreisen. Der Ausbruch der Finanzkrise 2008 versetzte die Zunft der Ökonomen in Schockstarre. Dann kamen Buchveröffentlichungen mit heftigen Anklagen gegen die Theoretiker und ihr Gefolge in der Praxis des Finanzwesens auf den Markt. Archäologen bemühten sich um Erklärungen für die Ursachen mit Rückblicken auf das uralte Problem der Schulden. Nun hat sich der Engländer Felix Martin mit einem theoriegeschichtlichen Rückblick[i], wenn man das so nennen kann, zu Wort gemeldet, um festzustellen, dass die heute allgemein verbreitete und auf den britischen Ökonomen Adam Smith sowie den Philosophen John Locke zurückgehende Vorstellung vom Geld als einer Sache und Ware dem historischen Prozess seiner Entstehung und Entwicklung nicht gerecht wird. Dies wurde schon desöfteren Karl Marx in Bezug auf seine Darstellung der Entwicklung der Wertformen bis zur Geldform des Warenwertes vorgeworfen. Dazu sei hier nur kurz bemerkt, dass neuere archäologische Erkenntnisse, zum Beispiel aus dem alten Babylon und dessen Herausbildung einer Schrift und ökonomischen Buchhaltung, worauf sich F. Martin wesentlich stützt, Marx nicht zur Verfügung standen. Außerdem tut es dessen Darstellung gar keinen Abbruch, denn diese vermittelt uns die Logik eines Prozesses, der sich offenbar über Jahrtausende im ökonomischen Bewusstsein der Menschen vollzog  und den der Mann aus Trier bewusst mit dem Ziel analysierte, die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Warenproduktion aufzudecken. Dem Briten geht es nur um das Verständnis vom Wesen des Geldes.

Dienstag, 27. Mai 2014

Botschaft aus Mainz



Von Heerke Hummel
(Erschienen in: „Das Blättchen“, Nr. 11/2014 - http://das-blaettchen.de/2014/05/botschaft-aus-mainz-29056.html)
In allen Teilen der Gesellschaft gärt es infolge einer tiefen Unzufriedenheit mit der weltweiten neoliberalen Politik und Ökonomie; auch in christlichen Kreisen. Von dort geht seit kurzem eine „Mainzer Botschaft der Ökumenischen Versammlung 2014“ aus. Ihr Thema: „Die Zukunft, die wir meinen – Leben statt Zerstörung“.

Freitag, 25. April 2014

Jetzt reden sie




Von Heerke Hummel
(Erschienen in: „Das Blättchen“ – www.das-blaettchen.de -, Nr.9/2014)

 „… na endlich“, möchte man hinzufügen, „nach einem Vierteljahrhundert!“ Sie, das sind Generaldirektoren von Industriekombinaten und andere hochrangige Wirtschaftsfunktionäre  der DDR. Auf einer Tagung mit dem Titel „Krise und Utopie. Was heute aus der DDR-Planwirtschaft gelernt werden kann“ referierten sie im September 2012 über ihre Arbeits- und Lebenserfahrungen. Ihrer historischen Bedeutung wegen – denn es geht darum, sowohl feindselige als auch ostalgische Bilder von der Wirtschaft des ostdeutschen Staates zu korrigieren – wurden die Beiträge in einem Buch[i] zusammengestellt und so der Nachwelt, zur Information aus erster Hand, erhalten.  
Im „Anhang“ kommt die Kulturwissenschaftlerin Isolde Dietrich auf die Frage „Woher rührt das Schweigen der ostdeutschen Industriekader?“ zu sprechen. Nach Erwägung einer Vielzahl möglicher Antworten sowie Betrachtung zahlreicher Schicksale ist sie zu dem Schluss gekommen, „dass die industrielle Elite der DDR – anders als die politische und militärische – vielfach wirklich keine Zeit hatte, sich ans Aufschreiben des eigenen Lebens zu setzen.“ Denn die allermeisten Industriekader haben, der Autorin zufolge, erfolgreiche Nachwende-Karrieren gestartet. Über die Hälfte von ihnen, ist zu erfahren, hatte zehn Jahre nach der Wende immer noch oder wieder eine Führungsposition mit hoher Verantwortung inne, „wo hohe Professionalität und Pragmatismus, oft auch ihr spezielles Sozialkapital gefragt waren.“

Dienstag, 22. April 2014

Harts 5 in Sicht



Von Heerke Hummel
(Erschienen in: „Das Blättchen“ – www.das-blaettchen.de , Nr. 8/2014)

Wer von Hartz 4 die Nase voll hat, der sollte Harts 5 im Auge haben. Doch keine Bange, denn die Rede ist hier nicht von einer neuen Erfindung des unseligen „Arbeitsmaktreformers“ Peter Hartz! Schöpfer von Harts 5 ist der Filmemacher Julian Tyrasa. Mit seiner Komödie[i] lässt er uns lachen – nicht auf Kosten der durch Herrn Hartz verelendeten „kleinen Leute“, sondern zu Lasten eines Immobilienhais, der sie im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg nun auch noch um ihr soziales Betätigungsfeld in der „Räuberbande“, wie sich eine dort gelegene Kita nennt, bringen will. Dennoch kann einem sogar auch dieser Mann manchmal irgendwie leidtun, weil er in einem System und in dessen Ideologie gefesselt ist, das nicht er, sondern das ihn geschaffen hat.

Dienstag, 11. März 2014

Nichts ist Nichts, auch nicht das Geld. Anmerkungen zu Ulrich Buschs Verständnis vom Geld

von Heerke Hummel

Im Blättchen, Ausgabe 2/2014, hat Ulrich Busch über das Geld in der heutigen Gesellschaft geschrieben („Geld: NICHTS, geschöpft aus NICHTS“). Um die „Natur“ des Geldes zu beleuchten, beruft er sich auf Karl Marx. Für den sei „Geld ein ‚gesellschaftliches Verhältnis‘, das sich in Form eines ‚Dings‘ kristallisiert, also ein ‚unter dinglicher Hülle verstecktes Verhältnis‘“. Löse man diese Begriffsbestimmung auf, so stellten sich zwei Fragen: die nach dem Charakter der „Verhältnisse“ und die nach der Beschaffenheit des „Dings“, worin sich die Verhältnisse kristallisierten.
Die Antwort auf die erste Frage verweise auf Warenproduktion, Arbeitsteilung und Privateigentum – und damit auf relativ allgemeingültige Aspekte der gesellschaftlichen Produktion. Folglich komme Geld in den unterschiedlichsten Produktionsweisen vor. Die zweite Frage dagegen sei problematisch. Busch: „Marx selbst beantwortete sie mit einem Diktum, wonach Geld von Natur aus ‚Gold und Silber‘ sei und selbst in entwickelter Gestalt, als Kreditgeld, ‚der Natur der Sache nach‘ nie von seiner metallenen Unterlage loskommen kann. Diese Aussage gilt, wie das ganze Marxsche System, selbstredend nicht außerhalb von Zeit und Raum, sondern, wofür sie formuliert wurde, für den klassischen Kapitalismus in Europa und Nordamerika und für die Zeit des Goldstandards.
Mit der Demonetisierung des Goldes aber, welche genau vor 100 Jahren 1914 begann und mit der Aufhebung der Bindung des US-Dollars an das Gold 1971 endete, büßte sie ihre Gültigkeit ein. Der Wert des Geldes hängt seitdem nicht mehr vom Gold ab, und das Gold zählt seitdem nicht mehr als Geld.“
Dem ist im Wesentlichen zuzustimmen. Aber das bedeutet doch zugleich, in Bezug auf Buschs erste Frage, dass wir es mit ganz neuen gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun haben, die nicht mehr durch private Warenproduktion und Geld im ursprünglichen, Marxschen Sinne gekennzeichnet sind, sondern durch ein neuartiges, staatlich über die Zentralbank garantiertes Vertrauensverhältnis nur noch so genannter „privater“ Produzenten! Zu dieser Schlussfolgerung ist Busch nicht gekommen. Er fährt vielmehr fort: „Folglich ist das umlaufende bare und unbare Geld auch kein Stellvertreter des Goldes mehr, wie Marx es noch sah und wie es für das 19. Jahrhundert tatsächlich zutraf, sondern selbst Geld. Aber worin besteht jetzt seine Substanz, sein Wert?“
Abgesehen von der eigenartigen Feststellung, Geld sei durch die Aufhebung des Goldstandards selbst Geld geworden; einleitend hatte Busch ja noch nach des Geldes Wesen und Begriff als der „Grundfrage all dieser Vorgänge und komplizierten Verknüpfungen“ im Finanzsystem gefragt. Hier wäre nun zu zeigen gewesen, dass sich das Wesen des Geldes gründlich verändert hat: Aus einem „allgemeinen Äquivalent“, einer „allgemeinen Ware“ (Begriffe bei Marx) ist ein Arbeitszertifikat geworden.1 Für Busch dagegen ist „Geld […] selbst Geld“ geworden, und er fragt anstatt nach dessen Wesen nach seiner „Substanz“. Diese sei ein „Nichts“, und „die knappheitstheoretisch fundierte keynesianische Theorie“ erlaube, „das Geld als ‚Nicht-Gut‘ zu begreifen“. Müsste die Frage nicht lauten: Was hat dieses neue, vom Gold völlig unabhängige Geld nun, im einundzwanzigsten Jahrhundert, mit der Arbeit als dem Wert bildenden Element der gesellschaftlichen Produktion zu tun?

Mittwoch, 5. Februar 2014

Scheitern an der Lüge



Von Heerke Hummel

(Erschienen in: "Das Blättchen", Nr. 3/2014 - www.das-blaettchen.de)

Da erhält im Juli 1948 ein achtzehnjähriger Flüchtlingsjunge aus Breslau an der Oberschule Dresden-Ost von seiner Russischlehrerin ein Buch als „Prämie für fleißiges Lernen in der Klasse 9s“. Dessen Titel: „W. G. Korolenkos Leben“, von A. Dermann, eine Übersetzung aus dem Russischen und 1947 im Verlag der Sowjetischen Militäradministration erschienen. Ein paar Seiten liest der Junge darin, dann legt er das Buch zur Seite und vergisst es. Er hat andere, Nachkriegssorgen, die sich um den persönlichen Lebensunterhalt drehen. Doch gute vier Jahrzehnte später, als das Bundesgesetzes „Rückgabe vor Entschädigung“ ihn zum wohl letzten Wohnungswechsel zwingt, fällt ihm beim Umzug der „Korolenko“ wieder in die Hand. Der Name wird ihm ein Begriff, und als er zufällig irgendwo auf dessen autobiografisches Werk „Die Geschichte meines Zeitgenossen“ stößt, greift er zu. Zur größten Überraschung darin werden ihm die klein gedruckte Bemerkung „Aus dem Russischen übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Rosa Luxemburg“ sowie am Ende der Einleitung der Hinweis „Geschrieben im Strafgefängnis Breslau, im Juli 1918. R. Luxemburg“.