Von
Heerke Hummel
(Erschienen in: "Das Blättchen", Nr. 3/2014 - www.das-blaettchen.de)
(Erschienen in: "Das Blättchen", Nr. 3/2014 - www.das-blaettchen.de)
Da erhält im Juli 1948 ein achtzehnjähriger
Flüchtlingsjunge aus Breslau an der Oberschule Dresden-Ost von seiner
Russischlehrerin ein Buch als „Prämie für fleißiges Lernen in der Klasse 9s“.
Dessen Titel: „W. G. Korolenkos Leben“, von A. Dermann, eine Übersetzung aus
dem Russischen und 1947 im Verlag der Sowjetischen Militäradministration
erschienen. Ein paar Seiten liest der Junge darin, dann legt er das Buch zur
Seite und vergisst es. Er hat andere, Nachkriegssorgen, die sich um den persönlichen
Lebensunterhalt drehen. Doch gute vier Jahrzehnte später, als das
Bundesgesetzes „Rückgabe vor Entschädigung“ ihn zum wohl letzten Wohnungswechsel
zwingt, fällt ihm beim Umzug der „Korolenko“ wieder in die Hand. Der Name wird
ihm ein Begriff, und als er zufällig irgendwo auf dessen autobiografisches Werk
„Die Geschichte meines Zeitgenossen“ stößt, greift er zu. Zur größten
Überraschung darin werden ihm die klein gedruckte Bemerkung „Aus dem Russischen
übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Rosa Luxemburg“ sowie am Ende
der Einleitung der Hinweis „Geschrieben im Strafgefängnis Breslau, im Juli
1918. R. Luxemburg“.
Das Buch wühlt ihn auf, lässt ihm keine Ruhe. Denn Helmut
Hauck, von dem hier die Rede ist, hat eine Spur aufgenommen, die ihn auch zu
sechs Briefen führt, die der bedeutende, bei uns wohl nur wenig bekannte
russische Schriftsteller und Humanist Wladimir Galaktionowitsch Korolenko zwischen
Juni und September 1920 dem Volkskommissar für das Bildungswesen Russlands
schrieb. Sie sind erschütternde Zeugnisse der damaligen Verhältnisse im Reich
der Bolschewiki und zugleich ein Beleg für die außerordentliche Kraft und
Bedeutung von Wahrheit. Und sie sind in Hinblick auf diese Bedeutung eine
dringende Mahnung über die Jahrzehnte hinweg bis heute – für jeden von uns,
besonders aber für die Politik. Hauck wollte den Schatz, auf den er gestoßen
war, nicht für sich behalten und veröffentlichte nun Rosa Luxemburgs Einleitung
zu Korolenkos Buch sowie die sechs Briefe von Korolenko in einer Broschüre[i].
Jene Einleitung dürfte so manchem Leser seinem Bild
von Rosa Luxemburgs Geist einen bedeutsamen Aspekt hinzufügen. Denn sie
unternimmt darin einen außerordentlich tiefgründigen Vergleich zwischen der
russischen und der westeuropäischen Literatur. Hauck: „Selbst während meines
Studiums der russischen Literatur war mir so eine dialektisch ausgewogene,
sozial bezogene Charakterisierung der russischen Literatur von ihrer Entstehung
bis Gorki nicht zur Kenntnis gelangt.“
Ihren literaturhistorischen Vergleich unterlegt R.
Luxemburg auch mit Betrachtungen zur gesellschaftlichen Psychologie und stellt
fest: „Es wäre verfehlt, die von Korolenko charakterisierte Psychologie als
spezifisch russisch oder nur mit der Periode der Leibeigenschaft verbunden zu
betrachten. Jene Stimmung der Gesellschaft, die, frei von nagender
Selbstanalyse und innerem Zwiespalt, die ‚gottgewollten Abhängigkeiten‘ wie
etwas Elementares empfindet und die Fügungen der Geschichte als eine Art
Himmelsschickung hinnimmt, für die man so wenig verantwortlich sei wie dafür,
dass der Blitz manchmal ein unschuldiges Kindlein erschlägt, kann sich mit
verschiedensten politischen und sozialen Systemen vertragen. Sie ist auch in
der Tat noch unter modernen Verhältnissen anzutreffen, sie war namentlich
bezeichnend für die Psychologie der deutschen Gesellschaft während der ganzen
Dauer des Weltkrieges.“ Und heute? Wer stellt schon – von wenigen Opponenten
abgesehen - beispielsweise die unbegrenzte Freiheit privaten Eigentums in
Frage? Wer ist bereit, eine heute objektiv gegebene Gesellschaftlichkeit von
Geld- und Produktivfonds anzuerkennen und daraus Konsequenzen für eine
allgemeine Gesetzesreform und für öffentliche Kontrollinstrumente zu
ziehen? Oder auch nur ernsthaft darüber
nachzudenken?
Als ausgezeichnete Kennerin der russischen und
westeuropäischen Literatur erweist sich R. Luxemburg, wo sie auf einzelne
bedeutende Schriftsteller vergangener Jahrhunderte eingeht. Doch das
eigentliche Anliegen ihrer hier besprochenen Einleitung ist natürlich die
Würdigung W. G. Korolenkos und anhand seines Wirkens zu zeigen, dass die
russische Literatur des 19. Jahrhunderts „aus Opposition zu dem herrschenden
Regime, aus Kampfgeist geboren wurde.“ Dazu H. Hauck ergänzend: „Was Rosa
Luxemburg gewiss ahnte, jedoch nicht mehr erleben konnte, war, dass Wladimir
Korolenko seiner hohen humanistischen Verantwortung auch gegenüber der neuen
Macht, den Bolschewiki nach der Oktoberrevolution, gerecht wurde.“
Um dies zu zeigen und R. Luxemburgs Würdigung des
russischen Literaten quasi zu ergänzen, hängte er ihrer Einleitung Korolenkos
Briefe an Anatoli Wassiljewitsch Lunatscharski an. Korolenko setzt sich darin
mit den furchtbaren Ereignissen während des Bürgerkrieges in Russland und der
Politik der Bolschewiki auseinander. Er berichtet dem Adressaten von
Gräueltaten des Geheimdienstes Tscheka, schildert die Unreife des russischen
Volkes für kommunistische Verhältnisse anhand des Verhaltens von Rotarmisten,
warnt immer wieder vor übereilten Schritten zu neuen gesellschaftlichen
Verhältnissen und kritisiert die überzogene Vernichtung des privaten
Unternehmertums, seiner positiven, wirtschaftsorganisatorischen Kraft. Sein
Hauptaugenmerk gilt dem Töten – nicht nur unschuldiger Menschen, sogar
Minderjähriger, durch ungesetzliche Erschießungen, sondern auch der Wahrheit
durch die Lüge. „Der Ihnen bekannte englische Historiker Carlyle schrieb“, gibt
er Lunatscharski zu bedenken, „dass die Regierungen zumeist an der Lüge
scheitern.“ Korolenko schildert die zaristische Lüge vom faulen und
trunksüchtigen russischen Bauern, mit der die Wahrheit verdeckt wurde, dass
nach der zaristischen Bauernreform das Land nicht reicher, sondern ärmer wurde
und der Hunger zunahm, weil durch die Reform eine tödliche Stagnation eintrat –
infolge eines üblen Systems der Bodennutzung. Es habe keine Aussicht auf eine
gesicherte Verbesserung der bäuerlichen Lebensbedingungen geboten. Diese Lüge
habe die Politik des Zarismus in seinen letzten Jahrzehnten bestimmt und das
ganze System ins Verderben gestürzt.
Und Korolenko fragt den Volkskommissar: „Ist in
Eurem System alles Wahrheit? Sehen wir da nicht auch Spuren von ebensolcher
Lüge in dem, was Ihr dem Volk bereits eingetrichtert habt?“ Noch vor gar nicht
langer Zeit hätten die Bolschewiki gegen die Narodniki polemisiert und
argumentiert, dass Russland notwendigerweise und der Nützlichkeit wegen das
Stadium des Kapitalismus durchlaufen müsse. Um taktischer Erwägungen willen
habe man aber nach der Revolution den Volkshass gegen den Kapitalismus geschürt
und die russischen Massen gegen das russische Kapital angefeuert, so wie man einen
Sturmtrupp anfeuert, der eine Festung nehmen soll. „Die Festung habt Ihr
genommen“, schreibt Korolenko nach Moskau, „und sie dem Verfall und der
Plünderung preisgegeben. Dabei vergaßt Ihr nur, dass diese Festung Volksgut
ist, hervorgebracht durch einen ‚segensreichen Prozess‘ … Ihr habt dem Volk
eingetrichtert, alles dies sei zusammengeraubt und müsse daher seinerseits
geraubt werden.“ Dabei hatte der Briefschreiber nicht nur die materiellen Werte
im Blick, sondern auch jene neue soziale Struktur, von der sie, die Marxisten,
ausgingen, als sie selber das Positive des „kapitalistischen Stadiums“
hervorhoben.
„Wo ist der Ausweg?“, fragt Korolenko schließlich,
um selbst zu antworten. Seine Vision ist nicht der damals propagierte
Internationalismus, sondern der Zusammenschluss von Vaterländern. Dabei sei das
Volk Russlands 1920 noch weit davon entfernt gewesen, sich an die Spitze der
besten Bestrebungen der Menschheit zu stellen. Es müsste noch lernen
(beispielsweise mit dem Mechanismus der Abstimmung umzugehen) und nicht andere
belehren. Die Führer der Bolschewiki fordert er auf, sich selbst ehrlich und
verantwortungsbewusst ihren „Riesenirrtum“ einzugestehen, das eigene
Selbstbewusstsein zu unterdrücken und einen neuen, den Weg einzuschlagen, den
sie selbst Kompromisslertum nennen. Sie sollten auf den verhängnisvollen Weg
der Gewalt verzichten, denn das erreichbare Maß an Sozialismus könne nur in
einem freien Land Eingang finden.
Interessant zu wissen: Kein anderer als W. I. Lenin
hatte vor Beginn dieser Korrespondenz Lunatscharski bitten lassen, Verbindung
mit Korolenko aufzunehmen. Und als später, 1922, ein Redakteur der „Prawda“ Politbüromitglied
Kamenew über Lenins Gesundheitszustand interviewte und fragte, wofür dieser
sich nach seinem Schlaganfall auf dem Wege Genesung interessiert habe, soll der
Gefragte geantwortet haben: „ … für die Briefe von Korolenko an Lunatscharski,
die eben erschienen sind.“
[i] Helmut
Hauck (Herausgeber), Späte Begegnung, Eigenverlag 2013, ISBN 978-3-00-038520-9,
80 Seiten, Preis 8,-- €, (vorläufig zu bestellen unter Tel. 03999/370086 oder
E-Mail: ulrikemaassdorf@alice.de)
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