Freitag, 28. September 2018

Brief an S. Wagenknecht


Heerke Hummel

H. Hummel, Am Plessower See 154, 14542 Werder/Havel; (heerke.hummel@web.de)
                                                                                                (www.heerke-hummel.de)

Frau
Dr. S. Wagenknecht
sahra.wagenknecht@bundestag.de

Werder, 26.September 2018


Betr.: „Hart, aber fair“ / 24. 09. 18 : Die Frage nach dem Eigentum und dem Grundgesetz


Sehr geehrte Frau Wagenknecht!

Bei der oben genannten Veranstaltung der ARD demonstrierten Sie wieder einmal ihr bewundernswertes Engagement für mehr soziale Gerechtigkeit in dieser so krisengeschüttelten Gesellschaft. Doch in der ganzen Diskussion fiel mir auf, dass auch Sie das entscheidende Problem aller Krisenerscheinungen nicht ansprachen. Es besteht m.E. in der Eigentumsfrage, in der gesellschaftlichen - juristischen - Nichtanerkennung des objektiv, dem Wesen nach bereits gesellschaftlichen Charakters allen produktiv-kommerziellen Eigentums. Dieser ganze durch „Waren“-Austausch und „Geld“-Verkehr vermittelte Bereich (die Anführungszeichen sollen besagen, dass es sich hierbei um Begriffe handelt, die nach der Theorie von Karl Marx für die heutige Realität nicht mehr zutreffend sind) hat schon lange seinen privaten Charakter, sein privates Wesen in mehrfacher Hinsicht verloren:

Erstens hat der gesellschaftliche Reproduktionsprozess die Grenzen alles Privaten in ökonomischer, ökologischer und politischer Hinsicht (Machtfrage und politische Stabilität) seit langem weit überschritten, so dass die Existenz von Natur und Gesellschaft durch ungesteuertes, vom Streben nach Maximalprofit bestimmtes Agieren „privater“ Akteure in Gefahr geraten ist.
Zweitens hat das den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess und den „Austausch“ von „Waren“ und Leistungen vermittelnde Medium – das „Geld“ – seinen privaten Charakter verloren. Spätestens seit der endgültigen Abkopplung vom Edelmetall (Gold) im Jahre 1971 durch den Bruch des Abkommens von Bretton Woods seitens der USA ist dieses „Geld“ keine „Allgemeine Ware“ (Marx) und vertritt eine solche auch nicht mehr, sondern mutierte - dem Wesen nach - zu einem Arbeitszertifikat der Gesellschaft. Als solches drückt es für die Gesellschaft geleistete Arbeit aus und bescheinigt Teilhabe am Reichtum der Gesellschaft. Das bedeutet, dass alle im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess zirkulierende, verausgabte Arbeit beziehungsweise ihr Produkt der Gesellschaft gehört und das Geld den Anteil seines Besitzers daran bescheinigt. Mit dieser Bescheinigung kann der Einzelne als Privater (nicht als produzierender gesellschaftlicher Agent) für seinen wirklich privaten Bedarf und Verbrauch entsprechende Produkte aus dem gesellschaftlichen Fonds beziehen. (Bei den Banken wird zwischen Privat- und Geschäftskonten der Kunden unterschieden.)
Drittens bedarf der Umgang mit diesem Geld, das zu einem entscheidenden Faktor ökonomischer und politischer Macht geworden ist und durch Kredit beziehungsweise Schulden quasi beliebig zu vermehren ist, gesellschaftlicher Regeln und einer gesellschaftlichen Kontrolle. Gleiches gilt für das gesamte Finanzsystem. In Ansätzen wird das auch praktiziert.
Viertens trägt das finanzielle Risiko unternehmerischer Entscheidungen, die fast immer durch Versicherungen aller Art abgesichert sind, letztendlich die Gesellschaft als ganze, besonders dann, wenn die Schäden und Verluste das Leistungsvermögen der Verursacher, die zudem oft nur schwer zu ermitteln und zu belangen sind, weit übertreffen. Die Banken-, Immobilien-, Staatsschulden- und Automobilkrisen der letzten Jahre sind dafür eindrucksvolle Beweise.


Von diesen Überlegungen ausgehend halte ich ein grundsätzlich neues ökonomisches Denken der ganzen Gesellschaft für notwendig, das auf einem Überdenken der Eigentumsfrage basieren und im Grundgesetz verankert werden muss. Dessen jetzige Artikel 14 und 15 werden den Erfordernissen der ökonomischen Realität in keiner Weise mehr gerecht.[i] Erforderlich ist eine grundgesetzliche Anerkennung des gesellschaftlichen Charakters aller kommerziellen Produktion und des Austauschs sowie des damit verbundenen Eigentums – im Unterschied zum tatsächlich privaten Eigentum für den persönlichen Bedarf und Verbrauch. Eine solche Gesetzeslage würde auch der Wirtschaftswissenschaft eine neue Orientierung geben für die Erarbeitung weiterer rechtlicher Grundlagen und Regelungen zum Schutz vor ökonomischen (und sicher auch politischen) Krisen, anstatt Letzteren wie bisher mit Feuerwehraktionen hinterher zu laufen oder sie sogar durch falsche Zielstellungen zu befeuern.

Nun mögen Sie sich fragen, warum ich mich nicht an den Abgeordneten G. Schick wende, der sein Mandat niederlegen will, um als Vorstand der „Bürgerbewegung Finanzwende“ zu wirken. Das habe ich, als sein Vorhaben bekannt wurde, sogar getan und habe eine automatisch erstellte Mail mit der Bitte um eine Spende erhalten. Auch was ich einem „Zeit“-Interview inzwischen entnehmen konnte, weckte in mir eine gewisse Skepsis, ob da wirklich eine Wende angestrebt wird und nicht nur ein paar Reförmchen, um das alte System zu stabilisieren. (Über die Motive der Akteure kann man nur spekulieren.) Natürlich kann auch eine wirklich grundlegende Wende nur Schritt für Schritt erfolgen. Aber das größere Ziel (Befriedigung der konkreten Lebensbedürfnisse der Menschen statt privater, abstrakter Kapitalverwertung um jeden Preis und auf Kosten von Mensch und Natur) muss klar sein sowie das notwendige Bewusstsein vom Wesen der Sache und des Problems, das in Folgendem besteht: Während die reale Welt dem Wesen nach die oben beschriebenen Veränderungen durchgemacht hat, ist das gesellschaftliche Bewusstsein von dieser Welt dort stehengeblieben, wo beziehungsweise wie Karl Marx sie analysiert hat – mit Begriffen wie Warenaustausch, Wert und Kapital, Privateigentum, Konkurrenzkampf und so weiter und wie das ganze System - oberflächlich betrachtet – auch erscheint, weil es juristisch noch immer – entgegen seinem veränderten Wesen – so im Gesetzeswerk der Gesellschaft fixiert ist. Diesen Widerspruch zwischen Sein und Bewusstsein der Gesellschaft, zwischen Objektivem und Subjektivem gilt es mit einer Verfassungsänderung zu überwinden. Dies wird kein leichter und auch kein kurzer Weg sein.

Aber ein solches Vorhaben überhaupt im Auge zu haben und anzugehen traue ich nur Ihrer Partei zu, Frau Wagenknecht. Denn es setzt die Fähigkeit und die Bereitschaft voraus, das theoretische Erbe von Karl Marx, basierend auf der Arbeitswerttheorie von Adam Smith, gemäß den heutigen objektiven Bedingungen weiterzudenken, anstatt in ihm erstarrt zu verweilen oder es gar für Teufelswerk zu halten.

Mehreren Zeitungen habe ich angeboten, der Frage nachzugehen, welche Erfolgschancen die von Herrn Schick ins Leben gerufene Bürgerbewegung haben kann. Das Ergebnis entsprach meinen stillen Erwartungen: Keinerlei Interesse! Keynesianismus und sozialistisches Schreckgespenst, erst recht ein immer noch wirkungsmächtiger Neoliberalismus, lähmen die Kraft und die Bereitschaft, tief eingefahrene Wege und Strukturen des Denkens bei der Betrachtung der Welt zu verlassen, um von den Erscheinungen ökonomischer Vorgänge zu abstrahieren und ihr objektives Wesen zu erkennen. Vielleicht aber kann gerade Sie mein Schreiben anregen, so manche Frage neu zu durchdenken, wenn es in Ihrem politischen Bemühen darum geht, die bisherige Beherrschung der Politik von der Ökonomie zu überwinden und ihr, der Politik, wieder die Kraft zu geben, die Ziele und Wege allen Wirtschaftens zu bestimmen. Denn das ist der Zweck meines Schreibens.

Ihnen wünsche ich Gesundheit, weiter viel Erfolg und starke Auftritte - und verbleibe

mit freundlichen Grüßen


Heerke Hummel

P.S.: Ich erlaube mir, diesen Brief in meinem Blog „Ökonomie abgeschminkt. Wirtschaft im Klartext und ohne Illusionen“ (http://heerkehummel.blogspot.com/) zu veröffentlichen.






[i] Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

„Art. 14

(1) 1Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. 2Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.

(2) 1Eigentum verpflichtet. 2Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

(3) 1Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. 2Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. 3Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. 4Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen.


Art. 15

1Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. 2Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Absatz 3 Satz 3 und 4 entsprechend.“