Donnerstag, 9. November 2017

Alles gottgewollt?



Des Menschen Gott weilt in der Dialektik der Welt
Von Heerke Hummel

Was ist los in dieser Welt von heute? Alle Ordnung scheint dahin und weiter im Schwinden begriffen zu sein. Seit dem Amtsantritt von US-Präsident R. Trump ist von Kommentatoren zu hören, die Nachkriegszeit des zweiten Weltkrieges sei beendet. Für uns Deutsche war die politische Nachkriegsordnung schon vor einem Vierteljahrhundert mit der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten vorbei. Dabei hatte US-Präsident Richard Nixon die Nachkriegsordnung für das Weltfinanzsystem mit seinem Paukenschlag, der Kündigung des Abkommens von Bretton Woods aus dem Jahre 1944, bereits 1971 begraben. Danach setzte sich, mehr und mehr, neoliberale Zügellosigkeit in allen Bereichen der Wirtschaft durch: Kapitalismus pur, nach dem Gesetz der Wölfe, das da lautet „fressen oder gefressen werden“ ohne Gnade und – im Unterschied zum Tierreich – ohne Grenzen der Sättigung. Diese Grenzenlosigkeit störte und stört zunehmend den sozialen Frieden der Gesellschaft und das ökologische Gleichgewicht unseres Planeten; in welcher Hinsicht und in welch katastrophalen Dimensionen, das vermitteln uns täglich die Nachrichten.
Grenzenlosigkeit charakterisierte auch die politischen Konflikte in der Welt seit dem Ende des Kalten Krieges als besonderer Erscheinungsform des politischen Weltkonflikts in der Nachkriegszeit. Das Ende der Bipolarität hatte zur Folge, dass sich die politischen Konflikte in allen Teilen der Welt unkontrolliert ausbreiten, entwickeln und in militärische Auseinandersetzungen ohne räumliche Grenzen umschlagen konnten. Dies dürfte allerdings nur scheinbar in krassem Widerspruch zu der Tendenz der Weltfinanzmärkte stehen, den ganzen Globus zu umschlingen und zu durchdringen, also vermeintlich zu einigen und zu befrieden. Denn diese Finanzmärkte sind Kapitalmärkte mit dem Ziel, Menschen und Natur auszubeuten, um kapitalisierten Wert zu vermehren. Und der Zweck ist auch hier nicht die Sättigung, sondern ein von Menschen gedachtes Prinzip: Nichts zu tun ohne Gewinn! Karl Marx hat es schon vor rund anderthalb Jahrhunderten analysiert und als widersinnig charakterisiert. Dennoch verstummten seine Gegner im Geiste bis heute nicht, allen schlimmen Erfahrungen der Menschheit mit diesem Prinzip zum Trotz. Diese Erfahrungen besagen, dass ökonomische Interessen sich in politischen Interessen und Konflikten äußern und, wenn diese politisch nicht gelöst werden, in militärische umschlagen können. Wer je in der DDR ein Studium absolvierte, dem ist im Pflichtfach „Gesellschaftswissenschaftliches Grundstudium“ – die Philosophie des dialektischen Materialismus einschließend – vermittelt worden, dass Marxisten in solchem Fall von einem qualitativen Umschwung, von einer qualitativ neuen Bewegungsform eines Widerspruchs sprechen, der dem Konflikt zu Grunde liegt. Dass solche Philosophie bei den Studierenden aus verschiedensten Gründen nicht besonders viel Gehör fand, ändert nichts an ihrem Wahrheitsgehalt. Seinerzeit, zwischen 1949 und 1989, war halt solches Philosophieren für die meisten Menschen in der DDR – und nicht nur für sie - eher graue Theorie. Denn es gab feste Ordnungen in und mit festen Grenzen in den Staaten und zwischen ihnen. All das gewährte (zumindest relative) Stabilität und Sicherheit. Aber 1990 war es damit zunächst im Osten Deutschlands vorbei, dann im Osten und Südosten Europas, in Eurasien und in Afrika.
Die Europäische Union hat inzwischen ein mächtiges Hin und Her, Rauf und Runter erlebt. Die Ordnung, die sie sich in Gestalt der EU-Verträge gab, ist so ungenügend, dass sie an sich selbst zugrunde zu gehen droht. Denn sie vermochte es nicht, den seit dem 19. Jahrhundert die Weltgesellschaft dominierenden, grundlegenden Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung des Produkts zu lösen, ja nicht einmal seine Verschärfung bis in die Gegenwart hinein zu verhindern. Auch nicht innerhalb der Europäischen Union. Daher muss es nicht verwundern, wenn sich jetzt Menschen für diesen Widerspruch interessieren, die das bis vor zweieinhalb Jahrzehnten wohl am wenigsten taten – Christen, welche die Dialektik von Karl Marx vor allem wegen ihres philosophisch-materialistischen Inhalts und daraus resultierenden Atheismus‘ ablehnen („mussten“). Die Veröffentlichung eines Buches mit dem Titel „Die Wirtschaft zur Vernunft bringen. Sozialethische Grundlagen einer postkapitalistischen Ökonomie“ gegen Ende vorigen Jahres könnte nun den zarten Beginn eines Wandels im Bewusstsein der Christenheit bedeuten.
Herausgegeben wurde es von der Akademie Solidarische Ökonomie (ASÖ – eine aus der ökumenischen Bewegung engagierter Christen hervorgegangene Arbeitsgemeinschaft).  Es ist ein außergewöhnliches Buch, dessen Inhalt weit über seinen Titel hinausgeht. Der Autor, Bernd Winkelmann, will als Theologe über Ansätze und Bausteine einer postkapitalistischen Ökonomie hinaus die sozialethischen und spirituellen Grundlagen einer solchen Ökonomie und ihre geistesgeschichtlichen Hintergründe herausarbeiten. Eine Schlüsselrolle für eine sozialethisch gegründete Ökonomie spielen, so Winkelmann, das Menschenbild und die Frage, „woher  die Kraft zum Guten kommt“. Er wagt „die These, dass wir aus einem Wiedergewinnen einer ganzheitlichen Wirklichkeitserfahrung, aus einem Neuentdecken von Transzendenz und Spiritualität die Umkehrkräfte für eine ‚große Transformation‘ unseres Wirtschaftens und unserer Gesellschaft finden könnten.“

Als das Ende des Kapitalismus begann



Von Heerke Hummel



(Erschienen in: „Sozialismus“, Heft Nr. 12, Dezember 2017, Supplement „Die Oktoberrevolution 1917 und die Folgen“)


Anlässlich des hundertsten Jahrestages der russischen Großen Sozialistischen Oktoberrevolution fehlte es nicht an Versuchen, die geschichtliche Bedeutung dieses herausragenden Ereignisses zu kommentieren. Viele würdigten es als den großen Versuch russisch-bolschewistischer Sozialdemokraten, die Gesellschaftstheorie von Karl Marx und Friedrich Engels in die Praxis umzusetzen. Andere arbeiteten besonders dasjenige heraus, was in der Folge als Verbrechen des Stalinismus und Verletzung der Menschenrechte in die Geschichte einging und vermeintlich zur politischen Polarisierung der Welt führte. Und wieder andere mochten die Ironie der Geschichte im Auge gehabt haben. Denn schlussendlich seien ja alle Opfer, die der Ost-West Konflikt der Menschheit abverlangte, umsonst gewesen. Der Kapitalismus, dessen Überwindung mit der von den Bolschewiki Russlands am 7. November (nach unserem Kalender) 1917  begonnenen Revolution eingeleitet werden sollte, sei heute so mächtig und weltumspannend wie nie zuvor. Die Kommunisten Russlands und Chinas seien von selbst in den Schoß des Kapitalismus zurückgekehrt.
Ja, so oder so und auch so kann man die zehn Tage, die, wie John Heartfield schrieb, die Welt erschütterten, je nach eigener Lebenserfahrung, Bildung und Erziehung im weitesten Sinne ansehen. Hier allerdings soll gerade deutlich gemacht werden, dass und warum sowohl einerseits Jubel über den Sieg des Kapitalismus im Ost-West-Konflikt als auch andererseits Wehmut über die vermeintliche Niederlage des Realsozialismus unangebracht sind. Denn diese Wehmut wie jener Jubel verkennt wohl das Wesen dessen, was sich in den letzten hundert Jahren ereignet hat.