Des Menschen Gott weilt in der Dialektik der Welt
Von
Heerke Hummel
Was ist los in dieser Welt von heute? Alle Ordnung
scheint dahin und weiter im Schwinden begriffen zu sein. Seit dem Amtsantritt
von US-Präsident R. Trump ist von Kommentatoren zu hören, die Nachkriegszeit
des zweiten Weltkrieges sei beendet. Für uns Deutsche war die politische Nachkriegsordnung
schon vor einem Vierteljahrhundert mit der Wiedervereinigung beider deutscher
Staaten vorbei. Dabei hatte US-Präsident Richard Nixon die Nachkriegsordnung für
das Weltfinanzsystem mit seinem Paukenschlag, der Kündigung des Abkommens von
Bretton Woods aus dem Jahre 1944, bereits 1971 begraben. Danach setzte sich,
mehr und mehr, neoliberale Zügellosigkeit in allen Bereichen der Wirtschaft
durch: Kapitalismus pur, nach dem Gesetz der Wölfe, das da lautet „fressen oder
gefressen werden“ ohne Gnade und – im Unterschied zum Tierreich – ohne Grenzen
der Sättigung. Diese Grenzenlosigkeit störte und stört zunehmend den sozialen
Frieden der Gesellschaft und das ökologische Gleichgewicht unseres Planeten; in
welcher Hinsicht und in welch katastrophalen Dimensionen, das vermitteln uns täglich
die Nachrichten.
Grenzenlosigkeit charakterisierte auch die politischen
Konflikte in der Welt seit dem Ende des Kalten Krieges als besonderer Erscheinungsform
des politischen Weltkonflikts in der Nachkriegszeit. Das Ende der Bipolarität
hatte zur Folge, dass sich die politischen Konflikte in allen Teilen der Welt
unkontrolliert ausbreiten, entwickeln und in militärische Auseinandersetzungen
ohne räumliche Grenzen umschlagen konnten. Dies dürfte allerdings nur scheinbar
in krassem Widerspruch zu der Tendenz der Weltfinanzmärkte stehen, den ganzen
Globus zu umschlingen und zu durchdringen, also vermeintlich zu einigen und zu
befrieden. Denn diese Finanzmärkte sind Kapitalmärkte mit dem Ziel, Menschen
und Natur auszubeuten, um kapitalisierten Wert zu vermehren. Und der Zweck ist
auch hier nicht die Sättigung, sondern ein von Menschen gedachtes Prinzip:
Nichts zu tun ohne Gewinn! Karl Marx hat es schon vor rund anderthalb
Jahrhunderten analysiert und als widersinnig charakterisiert. Dennoch
verstummten seine Gegner im Geiste bis heute nicht, allen schlimmen Erfahrungen
der Menschheit mit diesem Prinzip zum Trotz. Diese Erfahrungen besagen, dass
ökonomische Interessen sich in politischen Interessen und Konflikten äußern
und, wenn diese politisch nicht gelöst werden, in militärische umschlagen
können. Wer je in der DDR ein Studium absolvierte, dem ist im Pflichtfach
„Gesellschaftswissenschaftliches Grundstudium“ – die Philosophie des
dialektischen Materialismus einschließend – vermittelt worden, dass Marxisten
in solchem Fall von einem qualitativen Umschwung, von einer qualitativ neuen
Bewegungsform eines Widerspruchs sprechen, der dem Konflikt zu Grunde liegt. Dass
solche Philosophie bei den Studierenden aus verschiedensten Gründen nicht
besonders viel Gehör fand, ändert nichts an ihrem Wahrheitsgehalt. Seinerzeit,
zwischen 1949 und 1989, war halt solches Philosophieren für die meisten Menschen
in der DDR – und nicht nur für sie - eher graue Theorie. Denn es gab feste
Ordnungen in und mit festen Grenzen in den Staaten und zwischen ihnen. All das
gewährte (zumindest relative) Stabilität und Sicherheit. Aber 1990 war es damit
zunächst im Osten Deutschlands vorbei, dann im Osten und Südosten Europas, in
Eurasien und in Afrika.
Die Europäische Union hat inzwischen ein mächtiges Hin
und Her, Rauf und Runter erlebt. Die Ordnung, die sie sich in Gestalt der EU-Verträge
gab, ist so ungenügend, dass sie an sich selbst zugrunde zu gehen droht. Denn
sie vermochte es nicht, den seit dem 19. Jahrhundert die Weltgesellschaft dominierenden,
grundlegenden Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater
Aneignung des Produkts zu lösen, ja nicht einmal seine Verschärfung bis in die
Gegenwart hinein zu verhindern. Auch nicht innerhalb der Europäischen Union.
Daher muss es nicht verwundern, wenn sich jetzt Menschen für diesen Widerspruch
interessieren, die das bis vor zweieinhalb Jahrzehnten wohl am wenigsten taten
– Christen, welche die Dialektik von Karl Marx vor allem wegen ihres
philosophisch-materialistischen Inhalts und daraus resultierenden Atheismus‘
ablehnen („mussten“). Die Veröffentlichung eines Buches mit dem Titel „Die
Wirtschaft zur Vernunft bringen. Sozialethische Grundlagen einer
postkapitalistischen Ökonomie“ gegen Ende vorigen Jahres könnte nun den zarten
Beginn eines Wandels im Bewusstsein der Christenheit bedeuten.
Herausgegeben wurde es von der Akademie Solidarische
Ökonomie (ASÖ – eine aus der ökumenischen Bewegung engagierter Christen hervorgegangene
Arbeitsgemeinschaft). Es ist ein
außergewöhnliches Buch, dessen Inhalt weit über seinen Titel hinausgeht. Der
Autor, Bernd Winkelmann, will als Theologe über Ansätze und Bausteine einer
postkapitalistischen Ökonomie hinaus die sozialethischen und spirituellen
Grundlagen einer solchen Ökonomie und ihre geistesgeschichtlichen Hintergründe
herausarbeiten. Eine Schlüsselrolle für eine sozialethisch gegründete Ökonomie
spielen, so Winkelmann, das Menschenbild und die Frage, „woher die Kraft zum Guten kommt“. Er wagt „die
These, dass wir aus einem Wiedergewinnen einer ganzheitlichen
Wirklichkeitserfahrung, aus einem Neuentdecken von Transzendenz und
Spiritualität die Umkehrkräfte für eine ‚große Transformation‘ unseres
Wirtschaftens und unserer Gesellschaft finden könnten.“