Donnerstag, 9. November 2017

Alles gottgewollt?



Des Menschen Gott weilt in der Dialektik der Welt
Von Heerke Hummel

Was ist los in dieser Welt von heute? Alle Ordnung scheint dahin und weiter im Schwinden begriffen zu sein. Seit dem Amtsantritt von US-Präsident R. Trump ist von Kommentatoren zu hören, die Nachkriegszeit des zweiten Weltkrieges sei beendet. Für uns Deutsche war die politische Nachkriegsordnung schon vor einem Vierteljahrhundert mit der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten vorbei. Dabei hatte US-Präsident Richard Nixon die Nachkriegsordnung für das Weltfinanzsystem mit seinem Paukenschlag, der Kündigung des Abkommens von Bretton Woods aus dem Jahre 1944, bereits 1971 begraben. Danach setzte sich, mehr und mehr, neoliberale Zügellosigkeit in allen Bereichen der Wirtschaft durch: Kapitalismus pur, nach dem Gesetz der Wölfe, das da lautet „fressen oder gefressen werden“ ohne Gnade und – im Unterschied zum Tierreich – ohne Grenzen der Sättigung. Diese Grenzenlosigkeit störte und stört zunehmend den sozialen Frieden der Gesellschaft und das ökologische Gleichgewicht unseres Planeten; in welcher Hinsicht und in welch katastrophalen Dimensionen, das vermitteln uns täglich die Nachrichten.
Grenzenlosigkeit charakterisierte auch die politischen Konflikte in der Welt seit dem Ende des Kalten Krieges als besonderer Erscheinungsform des politischen Weltkonflikts in der Nachkriegszeit. Das Ende der Bipolarität hatte zur Folge, dass sich die politischen Konflikte in allen Teilen der Welt unkontrolliert ausbreiten, entwickeln und in militärische Auseinandersetzungen ohne räumliche Grenzen umschlagen konnten. Dies dürfte allerdings nur scheinbar in krassem Widerspruch zu der Tendenz der Weltfinanzmärkte stehen, den ganzen Globus zu umschlingen und zu durchdringen, also vermeintlich zu einigen und zu befrieden. Denn diese Finanzmärkte sind Kapitalmärkte mit dem Ziel, Menschen und Natur auszubeuten, um kapitalisierten Wert zu vermehren. Und der Zweck ist auch hier nicht die Sättigung, sondern ein von Menschen gedachtes Prinzip: Nichts zu tun ohne Gewinn! Karl Marx hat es schon vor rund anderthalb Jahrhunderten analysiert und als widersinnig charakterisiert. Dennoch verstummten seine Gegner im Geiste bis heute nicht, allen schlimmen Erfahrungen der Menschheit mit diesem Prinzip zum Trotz. Diese Erfahrungen besagen, dass ökonomische Interessen sich in politischen Interessen und Konflikten äußern und, wenn diese politisch nicht gelöst werden, in militärische umschlagen können. Wer je in der DDR ein Studium absolvierte, dem ist im Pflichtfach „Gesellschaftswissenschaftliches Grundstudium“ – die Philosophie des dialektischen Materialismus einschließend – vermittelt worden, dass Marxisten in solchem Fall von einem qualitativen Umschwung, von einer qualitativ neuen Bewegungsform eines Widerspruchs sprechen, der dem Konflikt zu Grunde liegt. Dass solche Philosophie bei den Studierenden aus verschiedensten Gründen nicht besonders viel Gehör fand, ändert nichts an ihrem Wahrheitsgehalt. Seinerzeit, zwischen 1949 und 1989, war halt solches Philosophieren für die meisten Menschen in der DDR – und nicht nur für sie - eher graue Theorie. Denn es gab feste Ordnungen in und mit festen Grenzen in den Staaten und zwischen ihnen. All das gewährte (zumindest relative) Stabilität und Sicherheit. Aber 1990 war es damit zunächst im Osten Deutschlands vorbei, dann im Osten und Südosten Europas, in Eurasien und in Afrika.
Die Europäische Union hat inzwischen ein mächtiges Hin und Her, Rauf und Runter erlebt. Die Ordnung, die sie sich in Gestalt der EU-Verträge gab, ist so ungenügend, dass sie an sich selbst zugrunde zu gehen droht. Denn sie vermochte es nicht, den seit dem 19. Jahrhundert die Weltgesellschaft dominierenden, grundlegenden Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung des Produkts zu lösen, ja nicht einmal seine Verschärfung bis in die Gegenwart hinein zu verhindern. Auch nicht innerhalb der Europäischen Union. Daher muss es nicht verwundern, wenn sich jetzt Menschen für diesen Widerspruch interessieren, die das bis vor zweieinhalb Jahrzehnten wohl am wenigsten taten – Christen, welche die Dialektik von Karl Marx vor allem wegen ihres philosophisch-materialistischen Inhalts und daraus resultierenden Atheismus‘ ablehnen („mussten“). Die Veröffentlichung eines Buches mit dem Titel „Die Wirtschaft zur Vernunft bringen. Sozialethische Grundlagen einer postkapitalistischen Ökonomie“ gegen Ende vorigen Jahres könnte nun den zarten Beginn eines Wandels im Bewusstsein der Christenheit bedeuten.
Herausgegeben wurde es von der Akademie Solidarische Ökonomie (ASÖ – eine aus der ökumenischen Bewegung engagierter Christen hervorgegangene Arbeitsgemeinschaft).  Es ist ein außergewöhnliches Buch, dessen Inhalt weit über seinen Titel hinausgeht. Der Autor, Bernd Winkelmann, will als Theologe über Ansätze und Bausteine einer postkapitalistischen Ökonomie hinaus die sozialethischen und spirituellen Grundlagen einer solchen Ökonomie und ihre geistesgeschichtlichen Hintergründe herausarbeiten. Eine Schlüsselrolle für eine sozialethisch gegründete Ökonomie spielen, so Winkelmann, das Menschenbild und die Frage, „woher  die Kraft zum Guten kommt“. Er wagt „die These, dass wir aus einem Wiedergewinnen einer ganzheitlichen Wirklichkeitserfahrung, aus einem Neuentdecken von Transzendenz und Spiritualität die Umkehrkräfte für eine ‚große Transformation‘ unseres Wirtschaftens und unserer Gesellschaft finden könnten.“

Dem dialektisch denkenden Autor mit seinem „ganzheitlichen Menschenbild und Lebensverständnis“ geht es um einen Brückenschlag zwischen Naturwissenschaft und aufgeklärter Religiosität, zwischen der Evolutionstheorie und der Gottesfrage. Ausgangspunkt ist für ihn „eine Theologie, die von der historisch-kritischen und entmythologisierenden Interpretation biblischer Texte ausgeht, das theistische Gottesbild hinter sich lässt und die These wagt, dass die Evolution des Seins als die Entfaltung eines ‚Göttlichen‘  verstanden werden kann.“ Solche Formulierungen erinnern stark an Georg Wilhelm Friedrich Hegel und dessen kritischen Schüler Karl Marx, der dann Hegels Philosophie vom Kopf auf die Füße stellte. Auch als Christ will Winkelmann die Welt, wie sie heute ist, nicht nur als gottgewollt interpretieren, sondern sein Ziel ist, sie zu verändern. Seine ökonomischen und politischen Konsequenzen stützen sich auf die mehrjährigen Debatten im Kreise der ASÖ. Sie bilden quasi ein politisch-ökonomisches, durchaus nicht utopisches Programm zur Herausbildung einer „postkapitalistischen Ökonomie“. Diese soll gekennzeichnet sein durch eine „solidarische Arbeits- und Einkommenskultur“, ein „solidarisches Sozial- und Steuersystem“, „ökosoziale Globalisierung und Regionalisierung“ sowie „Ökologisierung der Wirtschaft und der Lebensweise“. Grundlagen dafür wären eine „gemeinwohlorientierte Eigentumsordnung“, eine „entkapitalisierte Finanzordnung“ sowie eine „partizipatorische Unternehmensverfassung“. Was hier so manchem „Realpolitiker“ illusorisch vorkommen mag, ist das Ergebnis konsequenten Denkens des Verfassers und seiner Mitstreiter bei der ASÖ, die sich nicht scheuen, auch angeblich so Unmögliches zu fordern wie eine Neuordnung des Bankwesens in öffentlicher Hand, Abschaffung des Zinssystems, Abschaffung des leistungslosen Geldanlagesystems (vor allem jeden spekulierenden Geldhandels, Auflösung der internationalen „Finanzindustrie“ und andere finanzpolitische Maßnahmen bis hin zur Aufgabe solcher neoliberalen Dogmen wie dem vom „Freihandel“).
Zu solcher Reformation der Gesellschaft soll es kommen, indem die skizzierten Zielvorstellungen in einem breiten gesellschaftlichen Diskurs erörtert und konkretisiert werden, schreibt Winkelmann. Nach entsprechender demokratischer Willensbildung sollte das Ganze in einen neuen Gesellschaftsvertrag einfließen. Dieser könnte dann gemäß Artikel 146 des Grundgesetzes in einer neuen Verfassung rechtsverbindliche Grundlage unserer Gesellschaft werden, heißt es.
Ein Gotteswunder scheint zu geschehen. Denn solche Programmatik könnte auch von einer marxistischen Opposition im Bundestag stammen. In gewisser Weise scheint die Grenze zwischen Winkelmanns idealistischem Standpunkt in der philosophischen Grundfrage nach dem Verhältnis von Sein und Bewusstsein einerseits und der in der DDR gelehrten marxistisch-materialistischen Position zu verschwimmen, wenn Winkelmann das Göttliche aus der „Sinnfrage“ ableitet, aus ihr auf dieses (das Göttliche) schließt und ihm eine eigene Evolution in und mit der Evolution der Welt zugesteht, während marxistisch gesehen - ganz ähnlich - das Bewusstsein grundsätzlich Eigenschaft, Funktion und Produkt der realen Welt ist; mit dem Merkmal, selbst einer Evolution zu unterliegen, in der Evolution der Welt aktiv zu sein, ihr also (wie bei  Winkelmann Gott) Sinn und Ziel zu geben. Gott und Bewusstsein – alles also nur eine Frage der Benennung? Was anderes ist Winkelmanns „ganzheitliche Wirklichkeitserfahrung“ als die marxistisch gedachte dialektische Einheit der Welt, der Gegensätze Sein und Bewusstsein?
Der Gegensatz von Sein und Bewusstsein in ihrer Wechselwirkung wäre demnach der allgemeinste, ursprüngliche, allem in der Welt Seienden innewohnende dialektische Widerspruch. Er bedeutet die Fähigkeit alles Seienden, Anderes wahrzunehmen und zu (re)agieren und erzeugt so durch die diesem Gegensatz innewohnende Spannung die Energie zur Bewegung, zur Veränderung. Und mit jeder Veränderung wandeln sich Sein und Bewusstsein der Welt.
Diese ganz allgemeine Feststellung klingt notwendigerweise sehr abstrakt. Bezogen auf einen konkreten Fall oder eine bestimmte Situation wird ihr Sinn, ihr Inhalt, leichter verständlich. Im Verlaufe der 1970er Jahre, noch mitten im Kalten Krieg der beiden Weltsysteme bildete sich in den USA  – initiiert durch den Wandel im westlichen Weltwährungssystem, den die Kündigung des Abkommens von Bretton Woods mit sich gebracht hatte – die neoliberale Denkweise heraus und gab ihrerseits der ökonomischen Globalisierung starke Impulse mit gewaltigen Auswirkungen auf die Produktivkräfteentwicklung. Dies trug bei zu einem Umdenken und zu neuen strategischen Überlegungen in der Führung der Kommunistischen Partei Chinas. Schon Lenin hatte als Vordenker der kommunistischen Welt des 20. Jahrhunderts – geleitet von der Marxschen Erkenntnis, dass die ökonomische Basis für den Charakter einer Gesellschaft bestimmend ist - dem ökonomischen Wettbewerb zwischen sozialistischer und kapitalistischer Welt, der Steigerung der ökonomischen Leistungsfähigkeit allergrößte Bedeutung beigemessen. Jahrzehntelang maß man sich mit dem Westen, indem die Produktionskennziffern von Erzeugnissen, die für die Industrialisierung von besonderer Bedeutung waren, verglichen wurden. Lange Zeit gehörte dazu beispielsweise der Umfang der Stahlproduktion. Solange es um die Schaffung einer eigenen industriellen Basis überhaupt ging, war in der Aufholjagd des Ostens die straffe, zentrale Wirtschaftsplanung ein geeignetes Instrument beziehungsweise eine erfolgreiche volkswirtschaftliche  Steuerungsmethode. Doch Ende der 1970er Jahre hielt die chinesische Führung angesichts der enormen Dynamik in den kapitalistischen Volkswirtschaften die zentrale Erarbeitung eines allgemeinen, verbindlichen Produktions- und Investitionsplans der gesamten Volkswirtschaft für nicht mehr geeignet, um im ökonomischen Wettbewerb mit den hoch industrialisierten Ländern Schritt zu halten und sich zu behaupten. Die ökonomischen Reformen, die daraufhin durchgeführt wurden und eine weitgehende Dezentralisierung der Wirtschaftsplanung und -leitung durch formale Privatisierung nach westlichem Vorbild – jedoch bei Beibehaltung des politischen Machtmonopols der Kommunistischen Partei – beinhalteten, können durchaus auf eine neue und offensichtlich realistische Erkenntnis und Bewertung der dialektischen Widersprüche in der Welt durch die chinesische Führung zurückgeführt werden. In der kommunistischen Weltbewegung hatte sich Mao Tse-tung in den 1950er Jahren mit seiner Lehre von den Widersprüchen hervorgetan. Dabei konzentrierte er sich vor allem auf den Klassenkampf des Proletariats gegen die Klasse der Kapitalisten. Seinen Ausdruck fand das unter anderem in der vorwurfsvollen Bemerkung Maos über Deng Xiaoping, seinen frühen Kampfgenossen, späteren Kritiker und Reformer: „Dieser Mensch fasst den Klassenkampf nicht an.“ Deng dagegen äußerte Jahre nach Maos Tod vor Kommunisten ganz im Sinne seiner Reformen: „Reich werden ist ruhmvoll!“ Im Unterschied zu Mao hatte er, wahrscheinlich als Erster unter den einflussreichen Denkern, den weltweiten Wandel in den ökonomischen Beziehungen der Menschen als Folge des technisch-ökonomischen Fortschritts  erkannt und die politische Bedeutung dieses Wandels verstanden. (Ob der als Praktiker bekannte Deng auch die theoretische, politökonomische Bedeutung der oben erwähnten Beendigung des Goldstandards der amerikanischen Währung im Jahre 1971 erkannt hatte, dürfte bezweifelt werden.)  Erst 2014 sollte der in Berlin lehrende Südkoreaner Byung-Chul Han mit der Feststellung Aufsehen erregen, der Neoliberalismus forme aus dem unterdrückten Arbeiter einen freien Unternehmer, einen Unternehmer seiner selbst. Jeder sei heute ein selbstausbeutender Arbeiter seines eigenen Unternehmers. Jeder sei Herr und Knecht in einer Person. Auch der Klassenkampf verwandle sich in einen inneren Kampf mit sich selbst. Wer heute scheitert, beschuldige sich selbst und schäme sich. Man problematisiere sich selbst statt die Gesellschaft. Heute, stellte Byung-Chul Han fest, „gibt es keine kooperierende, vernetzte Multitude, die sich zu einer globalen Protest- und Revolutionsmasse erheben würde (wie von Antonio Negri erwartet – H. H.). Vielmehr macht die Solitude des für sich isolierten, vereinzelten Selbst-Unternehmers die gegenwärtige Produktionsweise aus.“
Doch bei aller Nutzung der Globalisierungspotentiale für die eigene wirtschaftliche Entwicklung Chinas durch ein eigenverantwortliches Unternehmertum sowie Austausch und Handel sicherte sich die chinesische Führung den Erhalt einer starken, kontinuierlichen, politisch-ökonomisch handlungsfähigen Zentralmacht für einen riesigen, gleichsam regionalen Wirtschaftsraum beziehungsweise Markt, dem sie Ziel und Zweck des Wirtschaftens geben kann. Sie besitzt damit eine sozialpolitische Steuerungsfähigkeit, die – sofern es sie überhaupt gab – der westlichen Welt  mit der Globalisierung weitgehend abhandengekommen ist. Unternehmerischer Gewinn könnte unter solchen Bedingungen wie in China nicht mehr als Selbstzweck von Kapitalverwertung betrachtet werden, sondern als bewusst eingesetztes Mittel zum Zweck, zur Erreichung eines gesellschaftlichen Ziels.
Es gibt dafür auch eine theoretische, politökonomische Erklärung. In Volkswirtschaften, deren Währung nicht mehr ein bestimmtes Edelmetall darstellt oder repräsentiert, drückt das Geld einen ganz allgemeinen Anspruch auf gesellschaftliche Arbeit aus, die als „vergegenständlichte“ Arbeit in Produkten existieren kann oder als in Leistungen bestehende, direkte, „lebendige“ Arbeit. Dieser Anspruch resultiert aus entsprechender eigener Arbeitsleistung für die Gesellschaft, die in eben diesem (dieser Menge) Geld dokumentiert wird. Wer Arbeit direkt als „lebendige“ Arbeit geleistet oder als in einem Produkt „vergegenständlichte“ Arbeit gegeben hat, bekommt dafür mit dem Geld nicht unmittelbar ein Produkt gesellschaftlicher Arbeit (entsprechend seinem konkreten Bedürfnis) zurück, sondern die Bestätigung eines entsprechenden Anspruchs auf beziehungsweise entsprechender Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum. Reichtum der Gesellschaft, soweit er für den Austausch bestimmt ist, ist daher gesellschaftlicher Reichtum, kein privater. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Rechtslage in Deutschland und sonst wo eine andere ist. Dieser Umstand bedeutet nur, dass die Gesellschaft eine falsche subjektive Wahrnehmung ihrer objektiven, außerhalb ihres Bewusstseins existierenden Beziehungen hinsichtlich der Erzeugung und der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums hat – und ein Rechtssystem, welches der objektiven Realität nicht gerecht wird. Eben deshalb ist sie nicht in der Lage, die Widersprüche zu lösen, die sich hinter den ökonomischen Krisenerscheinungen und politischen Konflikten verbergen.
Amerikas Präsident Nixon vollbrachte 1971 mit seiner Aufkündigung des Abkommens von Bretton Woods (auch wenn dies nur die plötzliche Vollendung einer jahrzehntelangen, schleichenden, latenten Entwicklung war) einen wahrhaft revolutionären Akt, indem er die Produktion und die Produktionsmittel nun auch in der westlichen Welt vergesellschaftete – wenn auch unwissentlich! Dass China keine zehn Jahre und der gesamte Ostblock (mit Ausnahme von Nordkorea und Kuba) genau zwei Jahrzehnte später mit ihrer „Privatisierung“ der Wirtschaft scheinbar eine Rolle rückwärts (mancher „Revolutionär“ dachte gar an Konterrevolution) einleiteten, kann als Kuriosum der Geschichte angesehen werden, aber auch als ein Sieg der praktischen Vernunft bei Versagen der reinen Vernunft. Wie auch immer – der das 20. Jahrhundert prägende Ost-West-Konflikt als Gegensatz von Sozialismus und Kapitalismus ist seit den 1990er Jahren verschwunden, alle Kontrahenten von einst sitzen zwar nicht in einem Boot, aber in gleichen Booten was die ökonomischen Basisverhältnisse in ihrer postkapitalistischen Qualität betrifft.
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist aus der bipolaren Welt von Ungleichen eine multipolare, noch in der Formierung begriffene Welt von Gleichen geworden. Doch deren Gleichheit betrifft nur ihre ökonomischen Basisverhältnisse. Hinsichtlich des geistig-kulturellen, politischen und juristischen Überbaus der Gesellschaften bestehen enorme Unterschiede. Sie dürften bestimmend sein für die Durchsetzungskraft im weltweiten Wettbewerb der Menschheit bei der Gestaltung der Zukunft unseres Planeten. Als ein Extrem in diesem Spektrum von Erscheinungsformen des gesellschaftlichen Überbaus kann die Ideologie des sogenannten Neoliberalismus mit ihrer Forderung angesehen werden, der Staat („aus liberaler Sicht als notwendiges, wenn auch begrenztes Instrument, um die Freiheit des Einzelnen sicherzustellen“) möge auf  möglichst alle regulierenden Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen verzichten. Den Gegenpol bildete über sieben Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts der buchstäblich alles, von der Wirtschaft bis zur Kultur, regelnde Staat nicht nur als hirngespinstige Ideologie, sondern auch als Machtrealität in den Staaten des sogenannten Realsozialismus, der sich dann allerdings in beschriebener Weise selbst reformierte. Doch während die heute westlich orientierten Länder des ehemaligen Ostblocks auch die liberale Staatsform des Westens mit einem Primat der Ökonomie gegenüber der Politik übernahmen, erhielt sich die chinesische Führung ein unbedingtes Primat der Politik über die Ökonomie und damit die Möglichkeit, der ökonomischen Entwicklung einen (nationalen) gesellschaftlichen Sinn und ein Ziel zu geben. Der Liberalismus des Westens dagegen will Gott vertrauen und den Profit über die Gesellschaft bestimmen lassen.
Das chinesische System hat sich (wenigstens bisher) als außerordentlich erfolgreich erwiesen und deshalb, was die Zentralisierung der Macht und das Primat der Politik über die Ökonomie betrifft, Nachmacher gefunden. In Russland ist es Wladimir Putin gelungen, das nach dem Umbruch entstandene ökonomische Chaos weitgehend zu überwinden und die Wirtschaft mit seiner Präsidialherrschaft wieder einem nationalen Sinn und Zweck unterzuordnen – nachdem sie in der Jelzin-Ära zu einem Spielfeld des internationalen Finanzkapitals zu werden drohte. In der Türkei hat Präsident Erdogan dem Wesen nach ähnliche Ambitionen, sich in seinem politischen Streben allerdings nicht nur auf die Macht von Polizei und Militär stützend, sondern auch auf die Kraft der Religion. In Syrien befindet sich Baschar al-Assad seit Jahren im Kampf gegen die von den Kapitaldemokratien unterstützten Rebellen um den Erhalt seiner Alleinherrschaft. Und dabei erhält  er Hilfe aus Russland  und dem Iran.
In besonderem Maße muss sich das US-amerikanische Kapital von der in jeder Hinsicht erstarkenden Macht der Volksrepublik China herausgefordert fühlen. Als Weltpolizist der Nachkriegszeit des vorigen Jahrhunderts (im vermeintlich eigenen Interesse) haben sich die USA ökonomisch übernommen und verausgabt. Das führte bereits 1971 zum Finanzdesaster sowie internationalen Rechtsbruch und Herausbildung eines neuen Weltfinanzsystems, das die Bezeichnung „-ordnung“ nicht mehr verdient. Doch aus Mangel an theoretischer Einsicht in die ablaufenden ökonomischen Prozesse und Veränderungen wurden aus der Pleite keine Lehren gezogen. Man „wirtschaftete“ ganz einfach in alter kapitalistisch-marktwirtschaftlicher Manier weiter, aber nun die neu geschaffenen Verhältnisse ganz pragmatisch-erfinderisch für die (nun nur noch fiktive) Kapitalverwertung nutzend. Die Folgen dessen waren verheerend. Die Realwirtschaft der USA wurde weiterhin vernachlässigt, und die allgemeine Verschuldung stieg ins Unermessliche. Anstatt eine leistungsfähige, wohlproportionierte, ökologisch nachhaltige Volkswirtschaft entsprechend den technologischen Möglichkeiten zu gestalten, wurde die Entstehung einer auf Illusionen beruhenden Finanz-„Industrie“ zugelassen. Dieser lagen nicht nur Wahnvorstellungen bezüglich der Vorgänge in der Wirtschaft zu Grunde, sie erzeugte diese auch bis weit hinein in die Kreise der herrschenden Eliten der USA. Das amerikanische Establishment vertraute auf die Macht seines Geldes, auch wenn dies nur imaginäre Kontenbuchungen darstellt - Ansprüche, Guthaben auf der einen Seite und Schulden, Verbindlichkeiten auf der anderen. Und das Problem: Während der vermeintliche, im Soll verbuchte „Reichtum“ sachlich längst verbraucht wurde (als Lebensmittel und zur Befriedigung sonstiger privater Bedürfnisse sowie als staatliche Rüstungsaufwendungen und bei der Kriegführung), soll der Abbau eines unermesslichen Schuldenberges mit einer maroden realwirtschaftlichen Basis bewältigt werden. Ein Ding der Unmöglichkeit! Ganz abgesehen von der Unsinnigkeit eines derartigen eventuellen Vorhabens, weil die Gläubigerschaft gar keinen sachlichen, begründeten Bedarf an solcher Schuldentilgung hat, denn sie besitzt ohnehin Geld (Ansprüche auf gesellschaftlichen Reichtum) im Überfluss!
Ein wachsender Teil der Bevölkerung der Vereinigten Staaten beginnt das zu spüren, wenn auch wohl kaum zu begreifen. Aber er hat das Vertrauen in die politische Führung des Landes bereits so sehr verloren, dass ein von vielen in aller Welt, besonders in Europa und den USA, als Widerling angesehener Mann demokratisch gewählt ins Präsidentenamt gelangen konnte. Dieser schockierte mit seinen Sprüchen im Wahlkampf und mit seinen Taten bereits in den ersten Wochen seiner Amtsführung sowohl seine Vorgänger und die Führung seiner eigenen Partei als auch Politiker und Beobachter in aller Welt. Und das eigentlich Bemerkenswerte daran ist, dass Überraschung allgegenwärtig war und hilflos nach Erklärungen für das Phänomen Trump gesucht wird. Diese liegen in den hier beschriebenen politökonomischen Widersprüchen, die im System USA und weltweit ihre Kräfte entfalten. Die Verselbständigung eines enthemmten, unkontrollierten internationalen Finanzmarktes (befördert durch den Rückzug des Edelmetalls aus dem Währungssystem sowie durch neoliberale Wirtschaftstheorien) gegenüber dem produktiven, wirklichen Reichtum schaffenden Sektor des kapitalistischen Reproduktionsprozesses unterstützte seine globalisierte Dynamik ohne Rücksicht auf realwirtschaftliche Belange der Volkswirtschaften. Hedgefonds konnten organisch gewachsene Unternehmen aufkaufen und wie erlegtes Wild ausweiden, um „Filetstücke“ hochprofitabel zu nutzen oder weiterzuverkaufen. Der Rest wurde dann abgestoßen oder die Produktion in Billiglohngebiete verlagert. Eine bedingungslose, globalisierte Verwertung von weitgehend fiktivem Finanzkapital geriet so in krassen Widerspruch zu notwendiger Herausbildung und Wahrung sinnvoller realwirtschaftlicher Strukturen in nationalem Rahmen sowie zu sozialökonomischen Erfordernissen und entsprechenden Interessen in der Gesellschaft. Dies bildete und bildet noch den Nährboden für das Wiedererwachen und Erstarken eines Nationalismus, weil der freie Markt die strukturellen Fragen des Wirtschaftens nicht zu lösen vermag, jedoch mit der Internationalisierung der Wirtschaft, der Produktion und des Austauschs die notwendigen Steuerungsinstrumente nicht geschaffen wurden beziehungsweise verlorengingen.
Infolgedessen bildeten sich in der Gesellschaft enorme soziale Unterschiede und Interessengegensätze heraus. Während eine breite Schicht, die bis in die gut verdienende Arbeitnehmerschaft reicht, von der globalisierten Wirtschaftsweise profitiert zu haben glaubte und – als Gesamtheit - riesige Finanzvermögen ansparen beziehungsweise akkumulieren konnte, musste ein wachsender Bevölkerungsteil erkennen, dass seine soziale Lage sich nicht verbesserte und sein Schuldenberg sich dramatisch vergrößerte. Dieser hofft notgedrungen auf nationalstaatliche Wirtschaftsregulierung und bildet das Kräftereservoir des erstarkenden nationalen Konservatismus. Doch es sind nicht nur die Elenden. Es sind alle, denen die ökonomischen Veränderungen am Beginn dieses Jahrhunderts keine oder kaum soziale Verbesserungen gebracht haben; in Europa vor allem die, die an den Rändern der EU leben und Opfer von (besonders deutschen) Exportoffensiven und unausgeglichenen (Handels- und Leistungs-) Bilanzen sind.
In den USA könnte die Trump-Administration einen Trendwechsel einleiten hin zu einem  Primat der Politik über die Ökonomie eines quasi regionalen Marktes und wirtschaftlichen Systems als Einheit von Real- und Finanzwirtschaft. Allerdings scheint dafür bisher das notwenige theoretische ökonomische Verständnis kaum vorhanden zu sein und die Wirtschaftspolitik sich einfach ganz praktizistisch von geschäftlichen Interessen und Streben nach Machterhalt leiten zu lassen, um im Prinzip doch weiter zu wirtschafte(l)n wie bisher.
In Europa hingegen ist die Lage viel schwieriger. Hier mangelt es dem ökonomischen System der Europäischen Union, dem regionalen Markt,  so gut wie jeglicher politischer Zentralmacht, die ein Primat der Politik über die Ökonomie sichern und ein gesamteuropäisches Interesse als Ziel und Zweck einer gesamteuropäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik im Interesse aller EU-Bürger verbindlich formulieren und durchsetzen könnte. Abgesehen davon ist auch hier, in Europa, kaum wahrscheinlich, dass die etablierten „demokratischen“, „gut bürgerlichen“ Parteien (sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene) gewillt beziehungsweise in der Lage wären, wirklich eine wirtschaftspolitische Wende herbeizuführen, die darin zu bestehen hätte, dass auf der Grundlage von Verfassungsänderungen dem europäischen ökonomischen System ein neues juristisches Fundament gegeben wird. Solch ein neues Rechtssystem für die Wirtschaft müsste den seit Jahrzehnten veränderten, oben beschriebenen ökonomischen Basisverhältnissen entsprechen und dem zunehmenden Verlangen in der Gesellschaft nach Ordnung (in der Gesellschaft allgemein und in ökonomischen Angelegenheiten ganz speziell) nachkommen, indem Rechte und Pflichten des Individuums auch in Fragen, welche Erzeugung und Verbrauch des gesellschaftlichen Reichtums betreffen, neu definiert werden. Voraussetzung dafür wäre ein neues Verständnis vom Eigentum als angeeignete Natur und vom Wirtschaften als Bewirtschaftung unseres Planeten im Interesse aller seiner Bewohner, organisiert in nationalen und regionalen, ordnenden Verbänden.
Aus solcher Sicht stellt die immer häufiger als Vorwurf zu hörende Behauptung, „rechte“ Wähler begäben sich in die Hände von Populisten, eine Diffamierung dieses Teils des Wahlvolks dar. Denn sein Wahlverhalten ist nur die Konsequenz der sich verschärfenden Widersprüche in der Gesellschaft von heute, die von den Eliten in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik kaum erkannt und schon gar nicht gelöst wurden. Zu fragen ist: Weshalb eigentlich nicht? Es gibt doch in der Basis der Gesellschaft viele Initiativen, von denen die der „Akademie Solidarische Ökonomie“ eine besonders weit gehende, weder populistische noch utopische ist! Ihr Realismus wurzelt in dem – wenn auch nicht ausgesprochenen – Ziel von Christen, das Himmelreich auf Erden zu errichten. Marxisten sollten ihnen die Hand anbieten!

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