Des Menschen Gott weilt in der Dialektik der Welt
Von
Heerke Hummel
Was ist los in dieser Welt von heute? Alle Ordnung
scheint dahin und weiter im Schwinden begriffen zu sein. Seit dem Amtsantritt
von US-Präsident R. Trump ist von Kommentatoren zu hören, die Nachkriegszeit
des zweiten Weltkrieges sei beendet. Für uns Deutsche war die politische Nachkriegsordnung
schon vor einem Vierteljahrhundert mit der Wiedervereinigung beider deutscher
Staaten vorbei. Dabei hatte US-Präsident Richard Nixon die Nachkriegsordnung für
das Weltfinanzsystem mit seinem Paukenschlag, der Kündigung des Abkommens von
Bretton Woods aus dem Jahre 1944, bereits 1971 begraben. Danach setzte sich,
mehr und mehr, neoliberale Zügellosigkeit in allen Bereichen der Wirtschaft
durch: Kapitalismus pur, nach dem Gesetz der Wölfe, das da lautet „fressen oder
gefressen werden“ ohne Gnade und – im Unterschied zum Tierreich – ohne Grenzen
der Sättigung. Diese Grenzenlosigkeit störte und stört zunehmend den sozialen
Frieden der Gesellschaft und das ökologische Gleichgewicht unseres Planeten; in
welcher Hinsicht und in welch katastrophalen Dimensionen, das vermitteln uns täglich
die Nachrichten.
Grenzenlosigkeit charakterisierte auch die politischen
Konflikte in der Welt seit dem Ende des Kalten Krieges als besonderer Erscheinungsform
des politischen Weltkonflikts in der Nachkriegszeit. Das Ende der Bipolarität
hatte zur Folge, dass sich die politischen Konflikte in allen Teilen der Welt
unkontrolliert ausbreiten, entwickeln und in militärische Auseinandersetzungen
ohne räumliche Grenzen umschlagen konnten. Dies dürfte allerdings nur scheinbar
in krassem Widerspruch zu der Tendenz der Weltfinanzmärkte stehen, den ganzen
Globus zu umschlingen und zu durchdringen, also vermeintlich zu einigen und zu
befrieden. Denn diese Finanzmärkte sind Kapitalmärkte mit dem Ziel, Menschen
und Natur auszubeuten, um kapitalisierten Wert zu vermehren. Und der Zweck ist
auch hier nicht die Sättigung, sondern ein von Menschen gedachtes Prinzip:
Nichts zu tun ohne Gewinn! Karl Marx hat es schon vor rund anderthalb
Jahrhunderten analysiert und als widersinnig charakterisiert. Dennoch
verstummten seine Gegner im Geiste bis heute nicht, allen schlimmen Erfahrungen
der Menschheit mit diesem Prinzip zum Trotz. Diese Erfahrungen besagen, dass
ökonomische Interessen sich in politischen Interessen und Konflikten äußern
und, wenn diese politisch nicht gelöst werden, in militärische umschlagen
können. Wer je in der DDR ein Studium absolvierte, dem ist im Pflichtfach
„Gesellschaftswissenschaftliches Grundstudium“ – die Philosophie des
dialektischen Materialismus einschließend – vermittelt worden, dass Marxisten
in solchem Fall von einem qualitativen Umschwung, von einer qualitativ neuen
Bewegungsform eines Widerspruchs sprechen, der dem Konflikt zu Grunde liegt. Dass
solche Philosophie bei den Studierenden aus verschiedensten Gründen nicht
besonders viel Gehör fand, ändert nichts an ihrem Wahrheitsgehalt. Seinerzeit,
zwischen 1949 und 1989, war halt solches Philosophieren für die meisten Menschen
in der DDR – und nicht nur für sie - eher graue Theorie. Denn es gab feste
Ordnungen in und mit festen Grenzen in den Staaten und zwischen ihnen. All das
gewährte (zumindest relative) Stabilität und Sicherheit. Aber 1990 war es damit
zunächst im Osten Deutschlands vorbei, dann im Osten und Südosten Europas, in
Eurasien und in Afrika.
Die Europäische Union hat inzwischen ein mächtiges Hin
und Her, Rauf und Runter erlebt. Die Ordnung, die sie sich in Gestalt der EU-Verträge
gab, ist so ungenügend, dass sie an sich selbst zugrunde zu gehen droht. Denn
sie vermochte es nicht, den seit dem 19. Jahrhundert die Weltgesellschaft dominierenden,
grundlegenden Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater
Aneignung des Produkts zu lösen, ja nicht einmal seine Verschärfung bis in die
Gegenwart hinein zu verhindern. Auch nicht innerhalb der Europäischen Union.
Daher muss es nicht verwundern, wenn sich jetzt Menschen für diesen Widerspruch
interessieren, die das bis vor zweieinhalb Jahrzehnten wohl am wenigsten taten
– Christen, welche die Dialektik von Karl Marx vor allem wegen ihres
philosophisch-materialistischen Inhalts und daraus resultierenden Atheismus‘
ablehnen („mussten“). Die Veröffentlichung eines Buches mit dem Titel „Die
Wirtschaft zur Vernunft bringen. Sozialethische Grundlagen einer
postkapitalistischen Ökonomie“ gegen Ende vorigen Jahres könnte nun den zarten
Beginn eines Wandels im Bewusstsein der Christenheit bedeuten.
Herausgegeben wurde es von der Akademie Solidarische
Ökonomie (ASÖ – eine aus der ökumenischen Bewegung engagierter Christen hervorgegangene
Arbeitsgemeinschaft). Es ist ein
außergewöhnliches Buch, dessen Inhalt weit über seinen Titel hinausgeht. Der
Autor, Bernd Winkelmann, will als Theologe über Ansätze und Bausteine einer
postkapitalistischen Ökonomie hinaus die sozialethischen und spirituellen
Grundlagen einer solchen Ökonomie und ihre geistesgeschichtlichen Hintergründe
herausarbeiten. Eine Schlüsselrolle für eine sozialethisch gegründete Ökonomie
spielen, so Winkelmann, das Menschenbild und die Frage, „woher die Kraft zum Guten kommt“. Er wagt „die
These, dass wir aus einem Wiedergewinnen einer ganzheitlichen
Wirklichkeitserfahrung, aus einem Neuentdecken von Transzendenz und
Spiritualität die Umkehrkräfte für eine ‚große Transformation‘ unseres
Wirtschaftens und unserer Gesellschaft finden könnten.“
Dem dialektisch denkenden Autor mit seinem
„ganzheitlichen Menschenbild und Lebensverständnis“ geht es um einen
Brückenschlag zwischen Naturwissenschaft und aufgeklärter Religiosität,
zwischen der Evolutionstheorie und der Gottesfrage. Ausgangspunkt ist für ihn
„eine Theologie, die von der historisch-kritischen und entmythologisierenden
Interpretation biblischer Texte ausgeht, das theistische Gottesbild hinter sich
lässt und die These wagt, dass die Evolution des Seins als die Entfaltung eines
‚Göttlichen‘ verstanden werden kann.“ Solche
Formulierungen erinnern stark an Georg Wilhelm Friedrich Hegel und dessen
kritischen Schüler Karl Marx, der dann Hegels Philosophie vom Kopf auf die Füße
stellte. Auch als Christ will Winkelmann die Welt, wie sie heute ist, nicht nur
als gottgewollt interpretieren, sondern sein Ziel ist, sie zu verändern. Seine ökonomischen
und politischen Konsequenzen stützen sich auf die mehrjährigen Debatten im
Kreise der ASÖ. Sie bilden quasi ein politisch-ökonomisches, durchaus nicht
utopisches Programm zur Herausbildung einer „postkapitalistischen Ökonomie“.
Diese soll gekennzeichnet sein durch eine „solidarische Arbeits- und
Einkommenskultur“, ein „solidarisches Sozial- und Steuersystem“, „ökosoziale
Globalisierung und Regionalisierung“ sowie „Ökologisierung der Wirtschaft und
der Lebensweise“. Grundlagen dafür wären eine „gemeinwohlorientierte
Eigentumsordnung“, eine „entkapitalisierte Finanzordnung“ sowie eine
„partizipatorische Unternehmensverfassung“. Was hier so manchem „Realpolitiker“
illusorisch vorkommen mag, ist das Ergebnis konsequenten Denkens des Verfassers
und seiner Mitstreiter bei der ASÖ, die sich nicht scheuen, auch angeblich so
Unmögliches zu fordern wie eine Neuordnung des Bankwesens in öffentlicher Hand,
Abschaffung des Zinssystems, Abschaffung des leistungslosen Geldanlagesystems
(vor allem jeden spekulierenden Geldhandels, Auflösung der internationalen
„Finanzindustrie“ und andere finanzpolitische Maßnahmen bis hin zur Aufgabe
solcher neoliberalen Dogmen wie dem vom „Freihandel“).
Zu solcher Reformation der Gesellschaft soll es kommen,
indem die skizzierten Zielvorstellungen in einem breiten gesellschaftlichen
Diskurs erörtert und konkretisiert werden, schreibt Winkelmann. Nach
entsprechender demokratischer Willensbildung sollte das Ganze in einen neuen
Gesellschaftsvertrag einfließen. Dieser könnte dann gemäß Artikel 146 des
Grundgesetzes in einer neuen Verfassung rechtsverbindliche Grundlage unserer
Gesellschaft werden, heißt es.
Ein Gotteswunder scheint zu geschehen. Denn solche
Programmatik könnte auch von einer marxistischen Opposition im Bundestag
stammen. In gewisser Weise scheint die Grenze zwischen Winkelmanns
idealistischem Standpunkt in der philosophischen Grundfrage nach dem Verhältnis
von Sein und Bewusstsein einerseits und der in der DDR gelehrten marxistisch-materialistischen
Position zu verschwimmen, wenn Winkelmann das Göttliche aus der „Sinnfrage“
ableitet, aus ihr auf dieses (das Göttliche) schließt und ihm eine eigene Evolution
in und mit der Evolution der Welt zugesteht, während marxistisch gesehen - ganz
ähnlich - das Bewusstsein grundsätzlich Eigenschaft, Funktion und Produkt der
realen Welt ist; mit dem Merkmal, selbst einer Evolution zu unterliegen, in der
Evolution der Welt aktiv zu sein, ihr also (wie bei Winkelmann Gott) Sinn und Ziel zu geben. Gott
und Bewusstsein – alles also nur eine Frage der Benennung? Was anderes ist Winkelmanns
„ganzheitliche Wirklichkeitserfahrung“ als die marxistisch gedachte dialektische
Einheit der Welt, der Gegensätze Sein und Bewusstsein?
Der Gegensatz von Sein und Bewusstsein in ihrer
Wechselwirkung wäre demnach der allgemeinste, ursprüngliche, allem in der Welt
Seienden innewohnende dialektische Widerspruch. Er bedeutet die Fähigkeit alles
Seienden, Anderes wahrzunehmen und zu (re)agieren und erzeugt so durch die
diesem Gegensatz innewohnende Spannung die Energie zur Bewegung, zur
Veränderung. Und mit jeder Veränderung wandeln sich Sein und Bewusstsein der Welt.
Diese ganz allgemeine Feststellung klingt
notwendigerweise sehr abstrakt. Bezogen auf einen konkreten Fall oder eine
bestimmte Situation wird ihr Sinn, ihr Inhalt, leichter verständlich. Im
Verlaufe der 1970er Jahre, noch mitten im Kalten Krieg der beiden Weltsysteme bildete
sich in den USA – initiiert durch den
Wandel im westlichen Weltwährungssystem, den die Kündigung des Abkommens von
Bretton Woods mit sich gebracht hatte – die neoliberale Denkweise heraus und gab
ihrerseits der ökonomischen Globalisierung starke Impulse mit gewaltigen
Auswirkungen auf die Produktivkräfteentwicklung. Dies trug bei zu einem
Umdenken und zu neuen strategischen Überlegungen in der Führung der
Kommunistischen Partei Chinas. Schon Lenin hatte als Vordenker der kommunistischen
Welt des 20. Jahrhunderts – geleitet von der Marxschen Erkenntnis, dass die
ökonomische Basis für den Charakter einer Gesellschaft bestimmend ist - dem
ökonomischen Wettbewerb zwischen sozialistischer und kapitalistischer Welt, der
Steigerung der ökonomischen Leistungsfähigkeit allergrößte Bedeutung
beigemessen. Jahrzehntelang maß man sich mit dem Westen, indem die
Produktionskennziffern von Erzeugnissen, die für die Industrialisierung von
besonderer Bedeutung waren, verglichen wurden. Lange Zeit gehörte dazu
beispielsweise der Umfang der Stahlproduktion. Solange es um die Schaffung
einer eigenen industriellen Basis überhaupt ging, war in der Aufholjagd des
Ostens die straffe, zentrale Wirtschaftsplanung ein geeignetes Instrument
beziehungsweise eine erfolgreiche volkswirtschaftliche Steuerungsmethode. Doch Ende der 1970er Jahre
hielt die chinesische Führung angesichts der enormen Dynamik in den
kapitalistischen Volkswirtschaften die zentrale Erarbeitung eines allgemeinen,
verbindlichen Produktions- und Investitionsplans der gesamten Volkswirtschaft
für nicht mehr geeignet, um im ökonomischen Wettbewerb mit den hoch
industrialisierten Ländern Schritt zu halten und sich zu behaupten. Die
ökonomischen Reformen, die daraufhin durchgeführt wurden und eine weitgehende
Dezentralisierung der Wirtschaftsplanung und -leitung durch formale
Privatisierung nach westlichem Vorbild – jedoch bei Beibehaltung des
politischen Machtmonopols der Kommunistischen Partei – beinhalteten, können
durchaus auf eine neue und offensichtlich realistische Erkenntnis und Bewertung
der dialektischen Widersprüche in der Welt durch die chinesische Führung
zurückgeführt werden. In der kommunistischen Weltbewegung hatte sich Mao
Tse-tung in den 1950er Jahren mit seiner Lehre von den Widersprüchen
hervorgetan. Dabei konzentrierte er sich vor allem auf den Klassenkampf des
Proletariats gegen die Klasse der Kapitalisten. Seinen Ausdruck fand das unter
anderem in der vorwurfsvollen Bemerkung Maos über Deng Xiaoping, seinen frühen
Kampfgenossen, späteren Kritiker und Reformer: „Dieser Mensch fasst den
Klassenkampf nicht an.“ Deng dagegen äußerte Jahre nach Maos Tod vor
Kommunisten ganz im Sinne seiner Reformen: „Reich werden ist ruhmvoll!“ Im Unterschied
zu Mao hatte er, wahrscheinlich als Erster unter den einflussreichen Denkern,
den weltweiten Wandel in den ökonomischen Beziehungen der Menschen als Folge
des technisch-ökonomischen Fortschritts erkannt
und die politische Bedeutung dieses Wandels verstanden. (Ob der als Praktiker bekannte
Deng auch die theoretische, politökonomische Bedeutung der
oben erwähnten Beendigung des Goldstandards der amerikanischen Währung im Jahre
1971 erkannt hatte, dürfte bezweifelt werden.) Erst 2014 sollte der in Berlin lehrende
Südkoreaner Byung-Chul Han mit der Feststellung Aufsehen erregen, der
Neoliberalismus forme aus dem unterdrückten Arbeiter einen freien Unternehmer,
einen Unternehmer seiner selbst. Jeder sei heute ein selbstausbeutender Arbeiter
seines eigenen Unternehmers. Jeder sei Herr und Knecht in einer Person. Auch
der Klassenkampf verwandle sich in einen inneren Kampf mit sich selbst. Wer
heute scheitert, beschuldige sich selbst und schäme sich. Man problematisiere
sich selbst statt die Gesellschaft. Heute, stellte Byung-Chul Han fest, „gibt
es keine kooperierende, vernetzte Multitude, die sich zu einer globalen
Protest- und Revolutionsmasse erheben würde (wie von Antonio Negri erwartet –
H. H.). Vielmehr macht die Solitude des für sich isolierten, vereinzelten
Selbst-Unternehmers die gegenwärtige Produktionsweise aus.“
Doch bei aller Nutzung der Globalisierungspotentiale
für die eigene wirtschaftliche Entwicklung Chinas durch ein
eigenverantwortliches Unternehmertum sowie Austausch und Handel sicherte sich
die chinesische Führung den Erhalt einer starken, kontinuierlichen,
politisch-ökonomisch handlungsfähigen Zentralmacht für einen riesigen,
gleichsam regionalen Wirtschaftsraum beziehungsweise Markt, dem sie Ziel und
Zweck des Wirtschaftens geben kann. Sie besitzt damit eine sozialpolitische Steuerungsfähigkeit,
die – sofern es sie überhaupt gab – der westlichen Welt mit der Globalisierung weitgehend
abhandengekommen ist. Unternehmerischer Gewinn könnte unter solchen Bedingungen
wie in China nicht mehr als Selbstzweck von Kapitalverwertung betrachtet
werden, sondern als bewusst eingesetztes Mittel zum Zweck, zur Erreichung eines
gesellschaftlichen Ziels.
Es gibt dafür auch eine theoretische, politökonomische
Erklärung. In Volkswirtschaften, deren Währung nicht mehr ein bestimmtes
Edelmetall darstellt oder repräsentiert, drückt das Geld einen ganz allgemeinen Anspruch auf
gesellschaftliche Arbeit aus, die als „vergegenständlichte“ Arbeit in Produkten
existieren kann oder als in Leistungen bestehende, direkte, „lebendige“ Arbeit.
Dieser Anspruch resultiert aus entsprechender eigener Arbeitsleistung für die
Gesellschaft, die in eben diesem (dieser Menge) Geld dokumentiert wird. Wer
Arbeit direkt als „lebendige“ Arbeit geleistet oder als in einem Produkt
„vergegenständlichte“ Arbeit gegeben hat, bekommt dafür mit dem Geld nicht unmittelbar ein Produkt
gesellschaftlicher Arbeit (entsprechend seinem konkreten Bedürfnis) zurück,
sondern die Bestätigung eines entsprechenden Anspruchs auf beziehungsweise
entsprechender Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum. Reichtum der
Gesellschaft, soweit er für den Austausch bestimmt ist, ist daher
gesellschaftlicher Reichtum, kein privater. Daran ändert auch der Umstand
nichts, dass die Rechtslage in Deutschland und sonst wo eine andere ist. Dieser
Umstand bedeutet nur, dass die Gesellschaft eine falsche subjektive Wahrnehmung
ihrer objektiven, außerhalb ihres Bewusstseins existierenden Beziehungen
hinsichtlich der Erzeugung und der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums hat
– und ein Rechtssystem, welches der objektiven Realität nicht gerecht wird.
Eben deshalb ist sie nicht in der Lage, die Widersprüche zu lösen, die sich
hinter den ökonomischen Krisenerscheinungen und politischen Konflikten
verbergen.
Amerikas Präsident Nixon vollbrachte 1971 mit seiner
Aufkündigung des Abkommens von Bretton Woods (auch wenn dies nur die plötzliche
Vollendung einer jahrzehntelangen, schleichenden, latenten Entwicklung war) einen
wahrhaft revolutionären Akt, indem er die Produktion und die Produktionsmittel
nun auch in der westlichen Welt vergesellschaftete – wenn auch unwissentlich!
Dass China keine zehn Jahre und der gesamte Ostblock (mit Ausnahme von Nordkorea
und Kuba) genau zwei Jahrzehnte später mit ihrer „Privatisierung“ der
Wirtschaft scheinbar eine Rolle rückwärts (mancher „Revolutionär“ dachte gar an
Konterrevolution) einleiteten, kann als Kuriosum der Geschichte angesehen
werden, aber auch als ein Sieg der praktischen Vernunft bei Versagen der reinen
Vernunft. Wie auch immer – der das 20. Jahrhundert prägende Ost-West-Konflikt
als Gegensatz von Sozialismus und Kapitalismus ist seit den 1990er Jahren
verschwunden, alle Kontrahenten von einst sitzen zwar nicht in einem Boot, aber
in gleichen Booten was die ökonomischen Basisverhältnisse in ihrer
postkapitalistischen Qualität betrifft.
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist aus der bipolaren
Welt von Ungleichen eine multipolare, noch in der Formierung begriffene Welt
von Gleichen geworden. Doch deren Gleichheit betrifft nur ihre ökonomischen
Basisverhältnisse. Hinsichtlich des geistig-kulturellen, politischen und
juristischen Überbaus der Gesellschaften bestehen enorme Unterschiede. Sie
dürften bestimmend sein für die Durchsetzungskraft im weltweiten Wettbewerb der
Menschheit bei der Gestaltung der Zukunft unseres Planeten. Als ein Extrem in
diesem Spektrum von Erscheinungsformen des gesellschaftlichen Überbaus kann die
Ideologie des sogenannten Neoliberalismus mit ihrer Forderung angesehen werden,
der Staat („aus liberaler Sicht als notwendiges, wenn auch begrenztes
Instrument, um die Freiheit des Einzelnen sicherzustellen“) möge auf möglichst alle regulierenden Eingriffe in das
Wirtschaftsgeschehen verzichten. Den Gegenpol bildete über sieben Jahrzehnte
des vorigen Jahrhunderts der buchstäblich alles, von der Wirtschaft bis zur
Kultur, regelnde Staat nicht nur als hirngespinstige Ideologie, sondern auch
als Machtrealität in den Staaten des sogenannten Realsozialismus, der sich dann
allerdings in beschriebener Weise selbst reformierte. Doch während die heute westlich
orientierten Länder des ehemaligen Ostblocks auch die liberale Staatsform des
Westens mit einem Primat der Ökonomie gegenüber der Politik übernahmen, erhielt
sich die chinesische Führung ein unbedingtes Primat der Politik über die
Ökonomie und damit die Möglichkeit, der ökonomischen Entwicklung einen
(nationalen) gesellschaftlichen Sinn und ein Ziel zu geben. Der Liberalismus
des Westens dagegen will Gott vertrauen und den Profit über die Gesellschaft
bestimmen lassen.
Das chinesische System hat sich (wenigstens bisher)
als außerordentlich erfolgreich erwiesen und deshalb, was die Zentralisierung
der Macht und das Primat der Politik über die Ökonomie betrifft, Nachmacher
gefunden. In Russland ist es Wladimir Putin gelungen, das nach dem Umbruch
entstandene ökonomische Chaos weitgehend zu überwinden und die Wirtschaft mit
seiner Präsidialherrschaft wieder einem nationalen Sinn und Zweck unterzuordnen
– nachdem sie in der Jelzin-Ära zu einem Spielfeld des internationalen
Finanzkapitals zu werden drohte. In der Türkei hat Präsident Erdogan dem Wesen
nach ähnliche Ambitionen, sich in seinem politischen Streben allerdings nicht
nur auf die Macht von Polizei und Militär stützend, sondern auch auf die Kraft
der Religion. In Syrien befindet sich Baschar al-Assad seit Jahren im Kampf
gegen die von den Kapitaldemokratien unterstützten Rebellen um den Erhalt
seiner Alleinherrschaft. Und dabei erhält
er Hilfe aus Russland und dem
Iran.
In besonderem Maße muss sich das US-amerikanische
Kapital von der in jeder Hinsicht erstarkenden Macht der Volksrepublik China
herausgefordert fühlen. Als Weltpolizist der Nachkriegszeit des vorigen
Jahrhunderts (im vermeintlich eigenen Interesse) haben sich die USA ökonomisch
übernommen und verausgabt. Das führte bereits 1971 zum Finanzdesaster sowie
internationalen Rechtsbruch und Herausbildung eines neuen Weltfinanzsystems,
das die Bezeichnung „-ordnung“ nicht mehr verdient. Doch aus Mangel an
theoretischer Einsicht in die ablaufenden ökonomischen Prozesse und
Veränderungen wurden aus der Pleite keine Lehren gezogen. Man „wirtschaftete“
ganz einfach in alter kapitalistisch-marktwirtschaftlicher Manier weiter, aber
nun die neu geschaffenen Verhältnisse ganz pragmatisch-erfinderisch für die (nun
nur noch fiktive) Kapitalverwertung nutzend. Die Folgen dessen waren
verheerend. Die Realwirtschaft der USA wurde weiterhin vernachlässigt, und die allgemeine
Verschuldung stieg ins Unermessliche. Anstatt eine leistungsfähige,
wohlproportionierte, ökologisch nachhaltige Volkswirtschaft entsprechend den
technologischen Möglichkeiten zu gestalten, wurde die Entstehung einer auf
Illusionen beruhenden Finanz-„Industrie“ zugelassen. Dieser lagen nicht nur
Wahnvorstellungen bezüglich der Vorgänge in der Wirtschaft zu Grunde, sie
erzeugte diese auch bis weit hinein in die Kreise der herrschenden Eliten der
USA. Das amerikanische Establishment vertraute auf die Macht seines Geldes,
auch wenn dies nur imaginäre Kontenbuchungen darstellt - Ansprüche, Guthaben
auf der einen Seite und Schulden, Verbindlichkeiten auf der anderen. Und das
Problem: Während der vermeintliche, im Soll verbuchte „Reichtum“ sachlich
längst verbraucht wurde (als Lebensmittel und zur Befriedigung sonstiger
privater Bedürfnisse sowie als staatliche Rüstungsaufwendungen und bei der Kriegführung),
soll der Abbau eines unermesslichen Schuldenberges mit einer maroden
realwirtschaftlichen Basis bewältigt werden. Ein Ding der Unmöglichkeit! Ganz
abgesehen von der Unsinnigkeit eines derartigen eventuellen Vorhabens, weil die
Gläubigerschaft gar keinen sachlichen, begründeten Bedarf an solcher
Schuldentilgung hat, denn sie besitzt ohnehin Geld (Ansprüche auf
gesellschaftlichen Reichtum) im Überfluss!
Ein wachsender Teil der Bevölkerung der Vereinigten
Staaten beginnt das zu spüren, wenn auch wohl kaum zu begreifen. Aber er hat
das Vertrauen in die politische Führung des Landes bereits so sehr verloren,
dass ein von vielen in aller Welt, besonders in Europa und den USA, als
Widerling angesehener Mann demokratisch gewählt ins Präsidentenamt gelangen
konnte. Dieser schockierte mit seinen Sprüchen im Wahlkampf und mit seinen
Taten bereits in den ersten Wochen seiner Amtsführung sowohl seine Vorgänger
und die Führung seiner eigenen Partei als auch Politiker und Beobachter in
aller Welt. Und das eigentlich Bemerkenswerte daran ist, dass Überraschung
allgegenwärtig war und hilflos nach Erklärungen für das Phänomen Trump gesucht
wird. Diese liegen in den hier beschriebenen politökonomischen Widersprüchen,
die im System USA und weltweit ihre Kräfte entfalten. Die Verselbständigung eines
enthemmten, unkontrollierten internationalen Finanzmarktes (befördert durch den
Rückzug des Edelmetalls aus dem Währungssystem sowie durch neoliberale
Wirtschaftstheorien) gegenüber dem produktiven, wirklichen Reichtum schaffenden
Sektor des kapitalistischen Reproduktionsprozesses unterstützte seine
globalisierte Dynamik ohne Rücksicht auf realwirtschaftliche Belange der
Volkswirtschaften. Hedgefonds konnten organisch gewachsene Unternehmen
aufkaufen und wie erlegtes Wild ausweiden, um „Filetstücke“ hochprofitabel zu
nutzen oder weiterzuverkaufen. Der Rest wurde dann abgestoßen oder die
Produktion in Billiglohngebiete verlagert. Eine bedingungslose, globalisierte
Verwertung von weitgehend fiktivem Finanzkapital geriet so in krassen
Widerspruch zu notwendiger Herausbildung und Wahrung sinnvoller
realwirtschaftlicher Strukturen in nationalem Rahmen sowie zu sozialökonomischen
Erfordernissen und entsprechenden Interessen in der Gesellschaft. Dies bildete
und bildet noch den Nährboden für das Wiedererwachen und Erstarken eines
Nationalismus, weil der freie Markt die strukturellen Fragen des Wirtschaftens
nicht zu lösen vermag, jedoch mit der Internationalisierung der Wirtschaft, der
Produktion und des Austauschs die notwendigen Steuerungsinstrumente nicht geschaffen
wurden beziehungsweise verlorengingen.
Infolgedessen bildeten sich in der Gesellschaft enorme
soziale Unterschiede und Interessengegensätze heraus. Während eine breite
Schicht, die bis in die gut verdienende Arbeitnehmerschaft reicht, von der globalisierten
Wirtschaftsweise profitiert zu haben glaubte und – als Gesamtheit - riesige
Finanzvermögen ansparen beziehungsweise akkumulieren konnte, musste ein wachsender
Bevölkerungsteil erkennen, dass seine soziale Lage sich
nicht verbesserte und sein Schuldenberg sich dramatisch vergrößerte. Dieser hofft
notgedrungen auf nationalstaatliche Wirtschaftsregulierung und bildet das Kräftereservoir
des erstarkenden nationalen Konservatismus. Doch es sind nicht nur die Elenden.
Es sind alle, denen die ökonomischen Veränderungen am Beginn dieses
Jahrhunderts keine oder kaum soziale Verbesserungen gebracht haben; in Europa vor
allem die, die an den Rändern der EU leben und Opfer von (besonders deutschen)
Exportoffensiven und unausgeglichenen (Handels- und Leistungs-) Bilanzen sind.
In den USA könnte die Trump-Administration einen
Trendwechsel einleiten hin zu einem Primat
der Politik über die Ökonomie eines quasi regionalen Marktes und
wirtschaftlichen Systems als Einheit von Real- und Finanzwirtschaft. Allerdings
scheint dafür bisher das notwenige theoretische ökonomische Verständnis kaum
vorhanden zu sein und die Wirtschaftspolitik sich einfach ganz praktizistisch
von geschäftlichen Interessen und Streben nach Machterhalt leiten zu lassen, um
im Prinzip doch weiter zu wirtschafte(l)n wie bisher.
In Europa hingegen ist die Lage viel schwieriger. Hier
mangelt es dem ökonomischen System der Europäischen Union, dem regionalen
Markt, so gut wie jeglicher politischer
Zentralmacht, die ein Primat der Politik über die Ökonomie sichern und ein
gesamteuropäisches Interesse als Ziel und Zweck einer gesamteuropäischen Wirtschafts-
und Sozialpolitik im Interesse aller EU-Bürger verbindlich formulieren und
durchsetzen könnte. Abgesehen davon ist auch hier, in Europa, kaum
wahrscheinlich, dass die etablierten „demokratischen“, „gut bürgerlichen“
Parteien (sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene) gewillt
beziehungsweise in der Lage wären, wirklich eine wirtschaftspolitische Wende
herbeizuführen, die darin zu bestehen hätte, dass auf der Grundlage von
Verfassungsänderungen dem europäischen ökonomischen System ein neues
juristisches Fundament gegeben wird. Solch ein neues Rechtssystem für die
Wirtschaft müsste den seit Jahrzehnten veränderten, oben beschriebenen
ökonomischen Basisverhältnissen entsprechen und dem zunehmenden Verlangen in
der Gesellschaft nach Ordnung (in der Gesellschaft allgemein und in
ökonomischen Angelegenheiten ganz speziell) nachkommen, indem Rechte und
Pflichten des Individuums auch in Fragen, welche Erzeugung und Verbrauch des
gesellschaftlichen Reichtums betreffen, neu definiert werden. Voraussetzung
dafür wäre ein neues Verständnis vom Eigentum als angeeignete Natur und vom
Wirtschaften als Bewirtschaftung unseres Planeten im Interesse aller seiner
Bewohner, organisiert in nationalen und regionalen, ordnenden Verbänden.
Aus solcher Sicht stellt die immer häufiger als
Vorwurf zu hörende Behauptung, „rechte“ Wähler begäben sich in die Hände von
Populisten, eine Diffamierung dieses Teils des Wahlvolks dar. Denn sein
Wahlverhalten ist nur die Konsequenz der sich verschärfenden Widersprüche in der
Gesellschaft von heute, die von den Eliten in Wissenschaft,
Wirtschaft und Politik kaum erkannt und schon gar nicht gelöst wurden. Zu
fragen ist: Weshalb eigentlich nicht? Es gibt doch in der Basis der
Gesellschaft viele Initiativen, von denen die der „Akademie Solidarische
Ökonomie“ eine besonders weit gehende, weder populistische noch utopische ist! Ihr
Realismus wurzelt in dem – wenn auch nicht ausgesprochenen – Ziel von Christen,
das Himmelreich auf Erden zu errichten. Marxisten sollten ihnen die Hand
anbieten!
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