Von
Heerke Hummel
(Erschienen in: „Sozialismus“, Heft Nr. 12, Dezember
2017, Supplement „Die Oktoberrevolution 1917 und die Folgen“)
Anlässlich des hundertsten Jahrestages der russischen
Großen Sozialistischen Oktoberrevolution fehlte es nicht an Versuchen, die
geschichtliche Bedeutung dieses herausragenden Ereignisses zu kommentieren.
Viele würdigten es als den großen Versuch russisch-bolschewistischer
Sozialdemokraten, die Gesellschaftstheorie von Karl Marx und Friedrich Engels
in die Praxis umzusetzen. Andere arbeiteten besonders dasjenige heraus, was in
der Folge als Verbrechen des Stalinismus und Verletzung der Menschenrechte in
die Geschichte einging und vermeintlich zur politischen Polarisierung der Welt
führte. Und wieder andere mochten die Ironie der Geschichte im Auge gehabt
haben. Denn schlussendlich seien ja alle Opfer, die der Ost-West Konflikt der
Menschheit abverlangte, umsonst gewesen. Der Kapitalismus, dessen Überwindung
mit der von den Bolschewiki Russlands am 7. November (nach unserem Kalender)
1917
begonnenen Revolution eingeleitet werden
sollte, sei heute so mächtig und weltumspannend wie nie zuvor. Die Kommunisten
Russlands und Chinas seien von selbst in den Schoß des Kapitalismus
zurückgekehrt.
Ja, so oder so und auch so kann man die zehn Tage, die,
wie John Heartfield schrieb, die Welt erschütterten, je nach eigener
Lebenserfahrung, Bildung und Erziehung im weitesten Sinne ansehen. Hier
allerdings soll gerade deutlich gemacht werden, dass und warum sowohl einerseits
Jubel über den Sieg des Kapitalismus im Ost-West-Konflikt als auch andererseits
Wehmut über die vermeintliche Niederlage des Realsozialismus unangebracht sind.
Denn diese Wehmut wie jener Jubel verkennt wohl das Wesen dessen, was sich in
den letzten hundert Jahren ereignet hat.
Unsagbar
leidensvolle Jahre
Die Oktoberrevolution wäre nicht denkbar ohne den
ersten Weltkrieg, dessen Beendigung sie beschleunigen sollte. Das russische
Volk und seine Soldaten waren durch das unerträgliche, bis dato nicht gekannte
Leid revolutioniert und bereit, dem vom Panzerkreuzer „Aurora“ gegebenen Signal
zum Sturm auf das Winterpalais von St. Petersburg zu folgen. Es war keine
spontane Aktion. Wladimir Iljitsch Lenin hatte die gesellschaftliche Situation
Russlands und Europas bereits untersucht und festgestellt, dass sich der von
Karl Marx und Friedrich Engels analysierte Kapitalismus (der freien Konkurrenz)
weiterentwickelt hatte und in sein imperialistisches Stadium eingetreten war,
gekennzeichnet durch weitgehende Monopolisierung der Wirtschaft, ungleichmäßige
Entwicklung der imperialistischen Mächte, Aggressivität und Kampf um eine
Neuaufteilung der Welt zur Sicherung von Rohstoffressourcen und Absatzmärkten. Und
er charakterisierte diesen Imperialismus als parasitären, faulenden, sterbenden
Kapitalismus. Diese Einschätzung ist viel belächelt worden. Zu Unrecht, wie
noch zu zeigen sein wird! In der damaligen Situation jedenfalls war sie sehr
plausibel. Und so konnte Lenin auf dem außerordentlichen Kongress der
Sozialistischen Internationale 1912 in Basel einen Beschluss mit durchsetzen,
der die teilnehmenden sozialdemokratischen Parteien verpflichtete, alles
Mögliche zu tun, um den drohenden Krieg zwischen den imperialistischen Mächten
zu verhindern und, sollte dieser doch ausbrechen, die dann zu erwartende
revolutionäre Krise für den Sturz des kapitalistischen Systems und den Aufbau
einer sozialistischen Gesellschaft zu nutzen. Dies war, in groben Zügen, die
Vorgeschichte der russischen Revolution.
Als sie im Februar 1917 ausbrach, der Zar entmachtet
wurde, die neue, bürgerliche Regierung unter Kerenski den Krieg gegen
Deutschland/Österreich aber nicht beendete, während Soldaten bereits begannen,
die Schützengräben zu verlassen und sich mit ihren deutschen Feinden zu verbrüdern, hielt Lenin
den Moment für eine aussichtsreiche proletarische Initiative zur Weiterführung
der Revolution entsprechend dem Beschluss von Basel für gekommen. In Russland
sah er zu diesem Zeitpunkt das schwächste Kettenglied im System der imperialistischen
Welt, das es durch eine Weltrevolution zu stürzen galt, um der Menschheit eine
neue, friedliche, humane Perspektive zu eröffnen. Der bolschewistische Sturm
auf das Winterpalais war getragen von der Zuversicht, dass das Proletariat
Westeuropas, vor allem Deutschlands, dem russischen Beispiel folgen würde. Das
ungeheure Völkergemetzel müsste doch bei allen Geschundenen den unbedingten
Willen erzeugt haben, eine neue, sozialistische Welt zu gestalten. Die
russischen Kommunisten gingen beispielgebend voran. Ihr erstes Dekret nach der
Machtergreifung betraf die Beendigung des Krieges um jeden Preis. Und so beugte
man sich dem Diktat Deutschlands im Friedensvertrag von Brest-Litowsk. Und als
wenig später in Versailles dem deutschen Volk von den Siegermächten ein
desaströser Diktatfrieden aufgezwungen wurde, war es wiederum Lenin, der, nun
im Interesse eines dauerhaften
Friedens, die russische Unterschrift verweigerte, weil er in diesem Vertrag die
Saat für einen nächsten imperialistischen Krieg sah.
Der Verlauf der Geschichte sollte sich seine Weitsicht
leider bestätigen. Aber seine Hoffnung auf das Proletariat Europas und dessen
Gleichschritt mit den russischen Bolschewiki erwies sich als trügerisch. Unterstützt
wurden von Westeuropa her und von den USA nicht die sowjetische Revolution,
sondern – mit den Interventionskriegen in verschiedenen Regionen
Sowjetrusslands – die konterrevolutionären weißgardistischen Armeen im Kampf
gegen die Rote Armee. Als diese schließlich die Revolution verteidigt hatte,
sollte die junge Sowjetmacht durch Handelsbeschränkungen und Lieferverbote für wichtige Maschinen und
Ausrüstungen ökonomisch isoliert und erdrosselt werden. Die Folge: In einem
unglaublichen Überlebenskampf des Sowjetstaates wurde die Theorie von Marx und
Engels - aus tiefer politökonomischer Erkenntnis heraus entwickelt, um alle
Menschen von ihren Klassenschranken zu befreien – durch den stalinistischen
Terror pervertiert; und mit ihr eine ganze Partei, eine weltumspannende
politische Bewegung, die aufgebrochen war, diese Befreiung zu führen, ja ein
ganzes Gesellschaftssystem, das einen Fortschritt darstellen sollte, aber
schließlich trotz des Sieges über den
deutschen Faschismus nach 70 zum Teil unsagbar leidensvollen Jahren für fast
zwei Milliarden Menschen des sozialistischen Lagers „implodierte“, wie der
Vorgang zwischen Elbe und Stillem Ozean zu Beginn der 1990er Jahre gern
bezeichnet wurde. Und dies scheinbar deshalb, weil 17 Millionen DDR-Bürger
mehrheitlich nicht mehr bereit waren, weniger frei und wohlhabend zu leben als
ihre „Brüder und Schwestern“ in der Bundesrepublik Deutschland. Wodurch deren
Wohlstand und Freiheit zustande gekommen waren, wurde nicht hinterfragt.
Hier soll nur auf einige Aspekte dieses als
„Wirtschaftswunder“ bezeichneten Vorgangs ansatzweise hingewiesen werden. Als Europa
nach dem zweiten Weltkrieg ökonomisch ausgeblutet war und in weiten Teilen in
Trümmern lag, stand erneut das Gespenst revolutionärer gesellschaftlicher
Veränderungen – nun in ganz Europa - vor der Tür. Ähnlich wie schon knapp 30
Jahre zuvor hatten sich die USA mit ihrem, wenn auch relativ späten, Eingreifen
in die Kriegshandlungen eine Möglichkeit geschaffen, den Verlauf der
europäischen Geschichte mitzubestimmen. Bereits vor Kriegsende hatten sie dafür
mit dem internationalen Abkommen von Bretton Woods über die Gestaltung eines neuen
internationalen Währungssystems der westlichen Hemisphäre günstige
finanzpolitische Voraussetzungen geschaffen. Dank ihrer militärisch und
ökonomisch basierten Stärke war es ihnen gelungen, ihre nationale Währung, den
US-Dollar, gegen den Widerstand beispielsweise des britischen Ökonomen J. M.
Keynes zur Leitwährung des imperialistischen Weltwährungssystems zu machen und
die Vereinigten Staaten endgültig als politische Führungsmacht des
imperialistischen Weltsystems im Kampf gegen den Kommunismus zu etablieren. Aus
westlicher Sicht war das auch notwendig.
Schon für Lenin war der Imperialismus seit den ersten
Tagen der Oktoberrevolution „eine enge und feste Verkettung aller Staaten der
Welt zu einem System“ geworden. Dennoch meinte er zu Beginn des Jahres 1921
in Bezug auf den Ausgang der Intervention des Imperialismus: „Nicht wir haben
gesiegt, denn unsere militärischen Kräfte sind nicht der Rede wert, sondern der
Sieg wurde dadurch herbeigeführt, dass die Mächte nicht ihre ganze militärische
Kraft gegen uns einsetzen konnten.“ Und: “Wir konnten nur dank der tiefen
Zwietracht unter den imperialistischen Mächten siegen, nur dank dem Umstand,
dass die Zwistigkeiten keine zufälligen inneren Parteizwistigkeiten waren,
sondern dass es sich um einen tiefen, unausrottbaren Widerstreit der
ökonomischen Interessen der imperialistischen Länder handelt, die, weil sie auf
dem Boden des Privateigentums an Grund und Boden und am Kapital stehen,
zwangsläufig eine solche Raubpolitik treiben müssen, bei der sich die Versuche,
ihre Kräfte gegen die Sowjetmacht zu vereinigen, als fruchtlos erwiesen haben.“
Bedenkt man, dass am Ende des zweiten Weltkrieges die
Truppen der Roten Armee den Westalliierten an der Elbe gegenüber standen und Stalin am
Konferenztisch der Siegermächte über Nazideutschland in Potsdam saß, ohne sich
von den amerikanischen Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki einschüchtern
zu lassen, so sind die Dramatik der Lage, in der sich das imperialistische
System in der unmittelbaren Nachkriegszeit befand, und der Einigungsdruck sowie
Führungsanspruch der USA verständlich. Die amerikanische Schlussfolgerung zog Außenminister
George C. Marshall am 5. Juni 1947 in einer Rede an der Harvard-Universität:
„Das Heilmittel für diese Lage“, sagte er, „liegt in … der Wiedererrichtung des
Vertrauens der europäischen Bevölkerung in die wirtschaftliche Zukunft ihrer
eigenen Länder und Europas überhaupt.“ Damit war die Aufgabe des bei diesem
Anlass präsentierten und nach seinem Urheber benannten Marshall-Plans für den
wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas formuliert. Für wie labil man in den USA
die Lage in Europa einschätzte, geht aus dem amerikanischen Auslandshilfsgesetz
von 1948 hervor, in dem es hieß, „dass die Zersetzung als Folge des Krieges
nicht durch nationale Grenzen aufgehalten wird.“ Man befürchtete eine
sozialistische Umwälzung in ganz Europa und ein Ausstrahlen auf Amerika. Das
galt übrigens auch für die konservativen Politiker im Nachkriegsdeutschland. Die
Führung der CDU unter Konrad Adenauer wusste, was sie dem deutschen Volk mit
dem Ahlener Programm von 1947 versprechen musste, um Gehör zu finden. Es stand
unter dem Motto „CDU überwindet Kapitalismus und Marxismus“ und begann mit den
Worten: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen
Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem
furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge
einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund auf
erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann
nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das
Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinschaftliche Ordnung soll das
deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht
und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau
unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.“
Vom
heißen in den kalten Krieg
Geboren aus der bis dato wohl tiefsten politischen
Krise des Imperialismus als Weltsystem war der Marshallplan – wie auch die ihm
folgende, politisch motivierte „soziale Marktwirtschaft“ Ludwig Erhardts in der
BRD - eine Frucht des Primats der Politik über die Ökonomie. Seine Aufgabe war
in allererster Linie eine politische, seine Inszenierung ein politischer Akt der
USA, seine Methode war Erpressung. Denn Kredite für den Ankauf von – vor allem
amerikanischen – Waren aller Art für den wirtschaftlichen Wiederaufbau bekamen
nur Staaten, die sich verpflichteten, eine freiheitlich-marktwirtschaftliche
Wirtschaftsordnung zu respektieren. Wer sich einer solchen Wirtschaftsordnung
verweigerte, wurde von der Beteiligung am amerikanischen Wiederaufbauprogramm
für Europa (ERP) ausgeschlossen und sogar mit dem Bann der Embargopolitik
belegt, angeblich weil dadurch „eine Verlängerung der menschlichen Leiden“
erstrebt würde, „um daraus politische oder sonstige Vorteile zu ziehen“. Dieser
zur Sabotage des sozialistischen Aufbaus in Osteuropa und Asien geführte Handelskrieg,
allgemeiner auch als „Kalter Krieg“ bezeichnet, hielt 40 Jahre an.
In der DDR und bei ihren östlichen Partnern wurden
diese vier Jahrzehnte als ökonomischer Wettbewerb zwischen Sozialismus und
Kapitalismus interpretiert; zeitweise mit so unrealistisch optimistischen
Zielstellungen wie das als „ökonomische Hauptaufgabe“ auf dem V. Parteitag der
SED 1958 verkündete Erreichen und Übertreffen der BRD im Pro-Kopf-Verbrauch der
Bevölkerung bis 1961 oder Walter Ulbrichts viel bespötteltes „Überholen ohne
einzuholen!“ In der UdSSR gab es ähnliche Wunschvorstellungen im Vergleich mit
den USA. Man mag das aus heutiger Sicht belächeln. Aber dennoch: die 1917 ins
Leben gerufene sozialistische Macht war mehr und mehr zu einer Herausforderung des
imperialistischen Systems geworden:
-
militärisch mit der Beseitigung des
Atombombenmonopols der USA, Englands und Frankreichs sowie mit einem sowjetischen
Raketenprogramm, das 1961 zum ersten bemannten Raumflug führen sollte,
-
politisch mit dem beginnenden Zerfall des
Kolonialsystems und Entstehung einer Gemeinschaft blockfreier Staaten,
-
ökonomisch dank Schaffung einer
leistungsfähigen, im Rahmen des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe planmäßig
kooperierenden industriellen Basis der sozialistischen Staatengemeinschaft,
-
sozial mit der nun möglich gewordenen, stärkeren
Berücksichtigung und bewussten Konzentration auf die Lebensbedürfnisse der
Bevölkerung,
-
kulturell durch Pflege und weltweiten
Austausch des kulturellen Erbes.
Mit dieser Herausforderung wirkte der sogenannte real
existierende Sozialismus auf das imperialistische System ein, veränderte es
beziehungsweise zwang es, sich selbst zu verändern. Es organisierte sich, schuf
sich politische, militärische und ökonomische Strukturen zur Koordinierung der
Aktivitäten vor allem in der Auseinandersetzung
mit dem sogenannten Ostblock, aber auch zur Steuerung, besonders
ökonomischer Prozesse, im eigenen Lager. Hingewiesen sei hier nur auf
militärische Bündnissysteme wie NATO und SEATO sowie auf internationale
Abkommen und Einrichtungen wie Weltbank, Internationaler Währungsfonds und
UNCTAD, mit denen Interessengegensätze abgebaut und günstige Voraussetzungen
für das Funktionieren des ökonomischen Systems geschaffen werden sollten. Auf
europäischer Ebene betraf das den ganzen europäischen Integrationsprozess seit
Beginn der 1950er Jahre. Mit der Schaffung eines westlich dominierten, internationalen
Handels- und Finanzsystems sollte die ökonomische Vormachtstellung des
Imperialismus in der Welt gesichert, die neokoloniale Ausbeutung der Dritten
Welt erhalten und der ökonomische Aufschwung der sozialistischen
Staatengemeinschaft massiv behindert werden. Das Wesentliche dieser tendenziellen
Weiterentwicklung der Produktions- und Funktionsweise der Gesellschaft in der
westlichen Hemisphäre bestand darin, dass damit immer wieder den
Produktivkräften, also dem technischen und technologischen Fortschritt, neuer
Entwicklungsraum, also notwendige gesellschaftliche Voraussetzungen geschaffen
wurden. Im Verlaufe der 1970er Jahre wurde die Fähigkeit zu Flexibilität und
Erneuerung zum entscheidenden Kriterium für die Überlegenheit im
Ost-West-Konflikt.
Selbstreformierung
im Ostblock
Gesellschaftswissenschaftler beispielsweise der DDR
wussten und lehrten schon damals, dass die Wissenschaft zur unmittelbaren Produktivkraft
geworden war. Und Physiker im Osten Deutschlands, die aus der Sowjetunion
zurückgekehrt waren, forschten bereits Anfang der 1950er Jahre auf den Gebieten
der Transistor- und Halbleitertechnik als Ausgangsbasis der Mikroelektronik. Jedoch
die ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für einen solch grundlegenden
Richtungswandel in der technologischen Entwicklung (dessen eigene gesellschaftsverändernde
Bedeutung seinerzeit noch längst nicht absehbar war) waren in der Welt des
Kapitals, besonders in den Vereinigten Staaten von Amerika bei weitem günstiger
als in der DDR und im gesamten Ostblock. Hingewiesen sei hier nur auf zwei
besonders wichtige Momente.
Erstens: Erforschung und sachliche Umsetzung solcher
neuen Technologien erforderten nicht nur ein sehr hohes wissenschaftlich-technisches
Niveau beispielsweise im Gerätebau, sondern auch außerordentlich große
materielle und finanzielle Aufwendungen und entsprechende Reserven. Über solche
Reserven verfügte der Osten, der sich seit Jahrzehnten in einer verzweifelten
ökonomischen Aufholjagd befunden hatte, nicht. Für die weitestgehend auf sich allein
gestellte, vom technischen Fortschritt des Westens isolierte DDR galt dies ganz
besonders. Dennoch wurden für den Aufbau der Mikroelektronik in der DDR enorme
Summen aufgewendet. Allein zwischen 1986 und 1990 sollen das rund 14 Milliarden
Mark für Forschung und Entwicklung sowie zusätzlich 15 Milliarden Mark für
Investitionen (etwa 7 % der gesamten Industrieinvestitionen) gewesen sein. Das
war notwendig, um wichtige Exportprodukte der DDR, wie zum Beispiel Werkzeugmaschinen, mit elektronischen Steuerungen
konkurrenzfähig halten zu können. Denn solcherlei Zulieferungen standen natürlich
auf den Embargolisten des Westens.
In den USA war Mitte der 1950er Jahre mit einem der Stanford
Universität in Kalifornien nahestehenden Labor (Shockley Semiconductor Laboratory)
bereits eine Keimzelle des Silicon Valleys entstanden, aus der dann mit
Wagniskapital so bekannte Firmen wie Fairchild und Intel hervorgingen und die
Entwicklung der Mikroelektronik vorantrieben. In einem profitorientierten
System mit seinem Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Produktion
und Verbrauch muss es einerseits zwar von Zeit zu Zeit Absatz- und
Überproduktionskrisen geben, doch bilden diese Überkapazitäten an
Produktionsvermögen eben andererseits in Zeiten bedeutender technologischer
Wandlungen die dafür erforderlichen ökonomischen Reserven. Und so bot
also die größte Volkswirtschaft der westlichen Hemisphäre die günstigsten
Voraussetzungen in der Welt für den Siegeszug der Mikroelektronik als
produktions- und gesellschaftsverändernde Technologie weltweit.
Wären also die Nachfahren der Bolschewiki
beziehungsweise die von denen ins Leben gerufene Denk- und Wirtschaftsweise gar
nicht in der Lage gewesen, von sich aus die Mikroelektronik hervorzubringen?
Mitnichten! Bloß wäre die Entwicklung ohne das Vorpreschen des Westens und
seinen Druck im ökonomischen Wettbewerb gewiss wesentlich langsamer vor sich
gegangen. Dies schon deshalb, weil Entscheidungen von volkswirtschaftlicher Tragweite
und strategischer Bedeutung grundsätzlich auf höchster Ebene im Rahmen einer
schwerfälligen Planungsbürokratie gefällt wurden. Als Problem wurde dieser
Umstand im Osten schon in den 1960er Jahren erkannt. In der DDR wurde noch
unter Walter Ulbricht versucht, mit einer Reform des ökonomischen Systems zu
beginnen und die Eigenverantwortung der Betriebs- und Kombinatsdirektoren zu
vergrößern. Doch das scheiterte schon bald am Einspruch Moskaus unter L. I.
Breschnew. Gut zehn Jahre später, nachdem in China der „Große Sprung“ Mao
Zedongs die Wirtschaft beinahe ruiniert hätte, leitete Deng Xiao Ping –
unabhängig von Moskau, denn China besaß dank seiner Größe und Macht die dazu
notwendige Souveränität - eine Wirtschaftsreform ein, die das Reich der Mitte
im Verlaufe von vier Jahrzehnten mit fast 900 Millionen Beschäftigten bei einer
Einwohnerzahl von 1,4 Milliarden Menschen zur stärksten Volkswirtschaft der
Welt nach der US-amerikanischen und zum Motor der Weltwirtschaft werden ließ. Die
Kommunistische Partei Chinas überwand die 1-Mann-Herrschaft und ersetzte sie
durch eine kollektive Führung, in der die Funktion des Generalsekretärs auf
maximal zwei Wahlperioden von jeweils fünf Jahren befristet wurde. Das
ökonomische System des Landes wurde weitgehend auf
marktwirtschaftlich-gewinnorientierte Prinzipien ausgerichtet. Zugleich aber
wurde das unbedingte Primat der Politik über die Ökonomie gesichert, sodass die
politische Führung durch die Kommunistische Partei Zweck und Ziel des Handelns
der ökonomischen Akteure steuern und mit geeigneten gesetzlichen Regelungen sowie
mit ökonomischen Mitteln im Interesse der ganzen chinesischen Gesellschaft
durchsetzen kann. Und diese chinesische Gesellschaft verfolgt heute das Ziel,
nach Jahrhunderten feudaler Unterdrückung, kolonialer und halbkolonialer
Ausbeutung gleichberechtigte Teilhabe am Reichtum (im weitesten Sinne) dieser
globalisierten Welt zu erlangen und zu sichern. Dies kann nicht durch blinde
Unterwerfung unter die Prinzipien der Profitmaximierung imperialer,
spekulativer Kapitalmärkte erreicht werden. Es muss das bewusst angesteuerte
Ziel der Chinesen sein, ihren eigenen Weg zum „Sozialismus chinesischer
Prägung“ zu gehen. Die Erfahrungen mit dem Kapitalismus und die ganze Geschichte
seit dem Beginn des vorigen Jahrhunderts mit ihrer ungleichmäßigen Entwicklung
der imperialistischen Welt haben gezeigt, dass privates, ausbeuterisches
Kapitaleigentum und die auf ihm beruhende Konkurrenz die menschliche
Gesellschaft spalten in arm und reich; zunächst innerhalb der Nationen, dann
zwischen den Nationen und schließlich zwischen den Kontinenten. Das heutige
Elend Afrikas, Asiens und Lateinamerikas ist die Frucht imperialistischer, vom
Diktat der Ökonomie und ihrer Prinzipien bestimmter Politik Europas und der
USA. Das Elend auch hierzulande ist nicht zu übersehen. Aber es ist nicht zu
vergleichen mit dem in der Dritten Welt. Es ist gemildert durch deren
erbarmungslose Ausbeutung, vollzogen durch unfaire, imperialistische
Wirtschafts- und Finanzbeziehungen.
Die Reformen des Ostens gegen Ende des 20.
Jahrhunderts, auch die in der UdSSR, waren, auch wenn sie allgemein als
Zusammenbruch des Sozialismus wahrgenommen wurden, alles andere als das. Es handelte
sich um eine Korrektur der Art und Weise, die Wirtschaft zu leiten und ihre
Entwicklung zu steuern. Dem Wesen nach ging es darum, unter den Bedingungen
einer zentralen gesellschaftlichen Ansteuerung bestimmter, nationaler (oder
regionaler) Zwecke und Ziele eine hohe Flexibilität und Eigeninitiative der
Unternehmen zu ermöglichen. Das war notwendig, um – nachdem man in wenigen
Jahrzehnten straffer zentraler Planung unter Zeitdruck und schwierigsten
Bedingungen eine industrielle Basis geschaffen hatte – nicht den Anschluss an
die Entwicklung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in der Welt zu
verlieren und so Gefahr zu laufen, als Energie- und Rohstofflieferant oder
Billiglohnland in quasi neokoloniale Abhängigkeit zu geraten. Dass man sich
dabei nicht scheute, für die eigene Wirtschaft weitgehend die Methoden des
Wirtschaftens vom Westen zu übernehmen, mag zum einen daran gelegen haben, dass
die sozialistische Wirtschaftswissenschaft und -praxis nichts Besseres zu
entwickeln vermocht hatte. Zum anderen wurde so eine notwendige, intensive
ökonomische und wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit mit dem Westen
erleichtert. China konnte diesen ökonomischen Kurswechsel, der mit einer –
nicht risikofreien - „Öffnung“ zum
Westen hin verbunden war, wesentlich erfolgreicher vollziehen als Russland. Es
wurde mit seinen Billionen-Dollar-Reserven (erwirtschaftet mit dem Schweiß und den
Entbehrungen Hunderter Millionen Menschen) sogar zum bedeutendsten
Gläubigerland der imperialistischen Führungsmacht USA. Daher liegt der Gedanke
nahe, China befinde sich ungeachtet seiner sich kommunistisch nennenden Parteiführung
auf dem Weg nicht zum Sozialismus chinesischer Prägung, sondern zu einem
chinesisch geprägten Kapitalismus. Unter Kommunisten zumindest wird darüber
gestritten.
Das westliche Kapital hingegen kümmert diese Frage
wenig. Ihm geht es bei all seinen Unternehmungen vor allem um das private
Interesse am Profit. Demgegenüber ist die chinesische Politik von heute quasi
die Weiterführung der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) Lenins am Beginn der
20er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Der verstand es schon damals, die
Widersprüche des Imperialismus zum Vorteil Sowjetrusslands auf dem Weg zum
Sozialismus auszunutzen – davon überzeugt, dass dieser Imperialismus mit dem
hohen Niveau der Produktivität sowie der Organisation gesellschaftlicher Arbeit
den Vorabend des Sozialismus bildete und es nur noch eines Machtwechsels bedurfte,
um das System einem humanistisch-gesellschaftlichen Ziel und Zweck zu
unterwerfen, anstelle der Orientierung am Profit als inhumanen, desaströsen
Selbstzweck. In gewisser Weise ähnelt die heutige Situation in China dem Zustand, den Lenin wohl für eine unmittelbar
nachrevolutionäre Zeit in der damaligen imperialistischen Welt für möglich
hielt.
Doch auch das imperialistische System hat in den
letzten hundert Jahren einen bedeutenden Wandel durchgemacht. Die Veränderungen
in Wissenschaft, Technik, Technologie, Organisation der Produktion und des
Austauschs, ja im ganzen gesellschaftlichen Leben durch die Digitalisierung
haben dazu geführt, dass Entscheidungen – wo auch immer – zunehmend auf der
Basis computergestützter Informationsverarbeitung getroffen und Abläufe
organisiert werden; also immer weniger durch Überlegungen von Menschen und
immer mehr durch Maschinen entsprechend bestimmten Algorithmen. Das
gesellschaftlich bestimmende, prägende Kriterium ist dabei die Profitrate des
agierenden Kapitals (ausgedrückt beispielsweise auch in der Zielstellung
„Wirtschaftswachstum“), in der das ganz allgemeine, von Karl Marx formulierte Gesetz der Ökonomie der Zeit unter
kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Bedingungen in Erscheinung tritt. Es
besagt, dass die menschliche Gesellschaft zu allen Zeiten mit der ihr zur
Verfügung stehenden Zeit haushalten musste, um die Bedürfnisse der Menschen (an
Sachen, Kultur usw., auch Freizeit) optimal zu befriedigen, und dass sich darin
letztlich alle Ökonomie auflöst.
Unbemerkter
Wandel im Westen
Die weitgehende Digitalisierung des Lebens- und
Schaffensprozesses der menschlichen Gesellschaft hat darüber hinaus zu einer
neuen Art und Weise der Beziehungen zwischen den Menschen geführt. Während
einerseits eine zunehmende Individualisierung und Vereinzelung zu verzeichnen
ist, findet andererseits eine zunehmende, unmittelbare Kooperation im
gesellschaftlichen Aneignungsprozess der Natur über den ganzen Globus hinweg
statt. Es hat sich also ein globales System von Beziehungen herausgebildet, denen
der Tausch von Waren, Sachen und Leistungen zu Grunde liegt. Es ist ein Tausch
von Wertäquivalenten, der durch Geld vermittelt wird. Nach marxistischer Auffassung
ist das Geld selbst eine („allgemeine“) Ware, „allgemeines“ Äquivalent. Als
solche „Geldware“ dienten in der Geschichte vor allem Edelmetalle wie Gold und
Silber, die selbst aber im Laufe der Entwicklung im 20. Jahrhundert aus dem
tagtäglichen Verkehr herausgezogen und durch Papiergeld ersetzt wurden, welches
das in den Tresoren der Notenbank(en) lagernde Edelmetall vertrat. Dies war der Zustand in der westlichen Welt bis 1971.
Oben wurde bereits dargestellt, wie die USA bereits
1944 ihre Rolle als Führungsmacht des imperialistischen Weltsystems einerseits
und Weltpolizist andererseits mit dem Abkommen von Bretton Woods
finanzpolitisch untermauerten, indem der US-Dollar zur Leitwährung der
westlichen Hemisphäre gemacht werden konnte. Für die nationalen Währungen der
Partner wurden stabile Umtauschrelationen zum Dollar ausgehandelt, und der
Dollar selbst war bei der US-Notenbank eintauschbar gegen Gold im Verhältnis
von 35 US-Dollar = 1 Feinunze Gold. Letzteres war die – sozusagen goldene –
Basis für das Vertrauen von Amerikas Hörigen in dessen Solidität. Doch der
Glaube – beispielsweise der Europäer -, mit dem goldgedeckten Dollar im Handel
mit den USA ein Faustpfand in der Hand zu halten, war trügerisch. Denn der
Weltpolizist lebte über seine Verhältnisse, leistete sich enorme Rüstungskosten,
führte Kriege, zuerst in Korea und dann in Vietnam, zulasten der eigenen
Volkswirtschaft. Seine immensen Importe an Waren aller Art finanzierte er nicht
durch entsprechende Exporteinnahmen, sondern bezahlte mit Dollars, die ihn
nichts weiter kosteten als das Papier und der Druck beziehungsweise einfach die
Buchung auf Konten. 1971 kam die Stunde der Wahrheit. Die außerhalb der USA
kursierenden Dollarbestände übertrafen in ihrer Goldparität die amerikanischen
Reserven in Fort Knox um ein Vielfaches, und das Vertrauen europäischer Partner
der USA in die Sicherheit ihrer Dollarbestände schmolz dahin wie Schnee in der
Sonne. Mehr und mehr tauschten sie ihre Dollars bei den Amerikanern in sicheres
Gold um, bis US-Präsident Richard Nixon am Abend des 15. Augusts jenes
bedeutungsvollen Jahres in seiner sonntäglichen Fernsehansprache der
verblüfften Welt mitteilte, die USA würden ihrer ehemals übernommenen
Verpflichtung, je 35 US-Dollar gegen eine Feinunze Gold einzutauschen, ab dem
nächsten Tag nicht mehr nachkommen. Damit vollzog er, ohne einen einzigen
Schuss abzugeben und ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, was Karl Marx rund
100 Jahre zuvor als die revolutionäre Aktion des internationalen Proletariats
prognostiziert hatte. Die Schüsse waren in den Jahren zuvor gefallen und das
Blut in Strömen während des Vietnam-Krieges der USA geflossen. Die Entscheidung
des Präsidenten war, obgleich – oder gerade weil – aus einer Notsituation
heraus geboren, aus nationaler Sicht ein finanztechnischer Geniestreich; auch
wenn sie bei genauer Betrachtung als Eigentor des internationalen
Finanzkapitals zu bewerten ist, dessen man sich bis heute wohl noch gar nicht
bewusst wurde. Für die westliche ökonomische „Fachwelt“ war ein solcher Schritt
undenkbar gewesen, und er ist in seinen logischen Konsequenzen bis heute nicht
verstanden worden.
Mit diesem genialen finanztechnischen Trick entledigten
sich die USA 1971 nicht nur jeglicher finanziellen Verpflichtung gegenüber der
übrigen Welt, sondern sie veränderten direkt die Sachverhalte in den
ökonomischen Beziehungen der Gesellschaften im westlichen, nicht mehr auf Gold
basierten Geld- und Währungssystem, auch wenn dies nicht gewollt war. Solange
35 US-Dollar 1 Feinunze Gold vertraten, wurde der von ihnen repräsentierte Wert
von der Menge gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit bestimmt, die in einer
Feinunze Gold vergegenständlicht ist. Das Maß der Arbeit (auch der
gesellschaftlichen) ist und kann nur sein: die Zeit ihrer Verausgabung als
lebendige Arbeit. Denn nur als solche existiert diese wirklich, Reichtum schaffend. Als vergegenständlichte, im
Produkt geronnene (abstrakte) Arbeit ist sie nur noch dessen Wert darstellendes
Element, welches bestimmend ist für die Tauschrelationen im Austausch von Waren.
Im privaten, marktwirtschaftlichen Austausch von Arbeitsprodukten als Waren bringt
nun
aber der realisierte Preis des Produkts nicht eine bestimmte Menge
gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit zum Ausdruck, die in ihrer lebendigen
Verausgabung gemessen wurde, sondern im Goldäquivalent des Produkts. Das
bedeutet: Gemessen wird der gesellschaftlich notwendige Arbeitsaufwand des
Produkts nicht im Verlaufe der Arbeitsverausgabung im Produktionsprozess,
sondern danach, beim Tausch von Ware gegen Ware beziehungsweise von Ware gegen
Geld.
Was aber geschieht, seitdem das Geld keine bestimmte
Menge Edelmetall beziehungsweise die in ihm fixierte Menge gesellschaftlich
notwendiger Durchschnittsarbeit mehr vertritt? Es drückt nun einen Anspruch –
nicht auf eine bestimmte Menge Gold, respektive in ihm vergegenständlichte
gesellschaftlich notwendige Arbeit – aus, sondern direkt einen Anspruch auf
gesellschaftliche Arbeit, aufgewendet für die Erzeugung von Produkten und
Leistungen. Und wer misst wo und wie, wieviel gesellschaftliche
Durchschnittsarbeit das Geld, die Währungseinheit ausdrückt? Diese Messung
findet statt als soziale Auseinandersetzung im Prozess der Lohn- und
Gehaltsvereinbarung, als Dialektik des Kampfes und der Einheit von Gegensätzen,
von Individuum und Gesellschaft. Also drückt beispielsweise der Euro so viel
gesellschaftliche Arbeit aus, wie im Durchschnitt der Euro-Zone gearbeitet
werden muss, um einen Euro zu verdienen. Das Geld, der Euro (wie zum Beispiel
auch der Dollar, der Rubel oder der Yen) ist zu einem gesellschaftlichen
Arbeitszertifikat geworden. Und das Gesamtsystem der finanziellen Beziehungen
in der Gesellschaft ist zu einer besonderen Art und Weise der Buch- und
Rechnungsführung der Gesellschaft über ihren Reproduktionsprozess geworden,
über die Erzeugung und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Aber nicht
weil die allermeisten finanziellen Transaktionen nur noch über Kontenbuchungen
eines Bankensystems erfolgen, sondern weil es sich um veränderte gesellschaftliche
Beziehungen im Reproduktionsprozess handelt! Die Verteilung des
gesellschaftlichen Reichtums findet hier nicht mehr am Ende eines
Produktionsprozesses im Wettbewerb auf dem Warenmarkt statt, sondern in den
Lohn- und Gehaltsauseinandersetzungen, auf dem sogenannten Arbeitsmarkt.
Ein zweiter Aspekt der Veränderungen im
gesellschaftlichen Reproduktionsprozess besteht darin, dass letzterer seinen
privaten Charakter weitgehend verloren hat und der Staat als Währungshüter eine
neue Verantwortung auch für den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess als
solchen trägt. Denn wo Lohn oder Gehalt eines Beschäftigten nicht mehr eine
Ware von bestimmtem Wert (Goldmenge) sind oder Anspruch darauf belegen, sondern
eine Bestätigung für geleistete gesellschaftliche Arbeit sind, trägt der
Herausgeber dieses Dokuments, der Staat als Repräsentant der Gesellschaft, die
Verantwortung dafür, dass mit diesem Geld tatsächlich Produkte des
gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses bedarfsgerecht gekauft werden können.
Der Unternehmer, der dieses Dokument dem Beschäftigten aushändigt, agiert,
genau betrachtet, nicht mehr als Privatmann, sondern als gesellschaftlicher
Agent mit besonderen Kompetenzen im Rahmen eines bestimmten gesellschaftlichen
Regelwerks von gesetzlichen Vorschriften für sein Handeln. Als Unternehmer wirtschaftet
darüber hinaus nur noch eine verschwindende Minderheit mit eigenem, privatem
Vermögen. Die große Masse der in der Wirtschaft agierenden Finanzmittel ist
geliehen, zur Verfügung gestellt – letztlich von der Notenbank, dem zentralen
gesellschaftlichen Finanzorgan. Wer dessen Geld in Händen hält, hat Anspruch
auf einen entsprechenden (wertmäßigen) Anteil am sachlichen, in der Wirtschaft
kursierenden beziehungsweise agierenden gesellschaftlichen Reichtum.
Angebahnt hat sich dieser ökonomische Zusammenhang in
der Gesellschaft quasi hinter deren Rücken und ganz allmählich seit der Abkehr
von der unmittelbaren Goldmünzwährung bis hin zum endgültigen Verschwinden des
Edelmetalls aus dem gesellschaftlichen Finanzsystems im Jahre 1971. (Dass Gold
dennoch auch heute noch geschatzt und als „Währungsreserve“ verwendet wird,
liegt an den besonderen Eigenschaften dieses Materials, die es zu einer „immer
verkäuflichen Ware“ machen, und ist für die hier entwickelte Logik der
objektiven Realität nicht von Bedeutung.) Der springende Punkt aber ist nun,
dass dieser gesellschaftliche Wandel vor genau einhundert Jahren auf einem
Sechstel unseres Erdballs durch einen revolutionären, bewussten Akt der
Bolschewiki vollzogen wurde. Sie wollten mit ihrer proletarischen Revolution
das Vermächtnis von Karl Marx verwirklichen, das Eigentum an den
Produktionsmitteln vergesellschaften und eine neue Gesellschaft errichten, die,
wie Marx in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ formuliert hatte, „eben aus
der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht; die also in jeder Beziehung,
ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten
Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt. Demgemäß erhält der einzelne
Produzent von der Gesellschaft einen Schein, dass er soundso viel Arbeit
geliefert … und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat … so
viel heraus, als gleichviel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der
Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der andern zurück."
Auf Folgendes ist an dieser Stelle aufmerksam zu
machen: Für Marx kann es nicht absehbar gewesen sein, dass aus einer Reihe von
wissenschaftlich-technischen, sozialen und ökonomischen Gründen die menschliche
Arbeit in ihrer lebendigen Form je nach dem konkreten Arbeitsprozess für lange
Zeit als mehr oder weniger komplizierte Arbeit unterschiedlich zu bewerten sein
würde. Unter kapitalistischen Bedingungen waren diese Unterschiede in
unterschiedlichem Grade wertbildend und verbunden mit Unterschieden im Wert der
Ware Arbeitskraft selbst, das heißt ihren Reproduktionskosten, beziehungsweise
ihrem Preis als Lohn des Arbeiters. Und auch in den Ländern des Realsozialismus
wurde die Arbeit je nach Qualität und körperlich-geistiger Belastung
unterschiedlich entlohnt. Hier, im Osten, leitete die wirtschaftswissenschaftliche
Lehrmeinung daraus sogar die Weiterexistenz von Ware-Wert-Beziehungen auch
zwischen den volkseigenen Betrieben und die Darstellung des gesellschaftlich
notwendigen Arbeitsaufwandes als Wert mittels Währungseinheiten ab. Ferner ist
darauf hinzuweisen, dass Marx an der hier zitierten Stelle nur das Prinzip der
Teilhabe und Verteilung in einer sozialistischen Gesellschaft darstellen
wollte. Und auch darüber, dass auch in einer solchen Gesellschaft der Einzelne nicht
den ganzen „Wertanteil“ seiner Arbeit (Anteil seiner individuellen Arbeit an
der verausgabten gesellschaftlichen Gesamtarbeit) erhalten kann, wenn die
Gesellschaft beispielsweise akkumulieren, die Masse der im gesellschaftlichen
Reproduktionsprozess gebundenen vergegenständlichten Arbeit vermehren,
Arbeitsunfähige miternähren muss etc., war er sich vollständig im Klaren.
Worum
es geht: Das Primat der Politik
Was nun den hier beschriebenen Wandel in den
gesellschaftlichen Beziehungen betrifft, den die kapitalistische Welt in mehr
als einem halben Jahrhundert unbemerkt durchmachte und den Lenin und seine
Genossen im Handumdrehen gezielt durchsetzten, so stellt sich heute die Frage,
worin sich die beiden konträren Gesellschaftssysteme von West und Ost nach dem
Bruch des Abkommens von Bretton Woods durch die USA eigentlich noch unterschieden.
Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass im Westen ungeachtet der hier
beschriebenen objektiven
Vergesellschaftung der materiellen Basis, also des Eigentums an den
Produktionsmitteln, die weitgehende Handlungsfreiheit der Unternehmer, nun (objektiv) als Agenten der Gesellschaft,
erhalten blieb. Erhalten blieb aber auch – weil der ganze Wandel ein unbewusster,
nicht gewollter Prozess war – der
geistige, juristische und politische Überbau einer bürgerlich-kapitalistischen
Gesellschaft, quasi als subjektives
Pendant der materiellen Basis. Er, der Überbau, steht daher in einem größer
werden Widerspruch zur hier beschriebenen materiellen gesellschaftlichen
Grundlage, was diese ganze Gesellschaft destabilisiert und in den Krisen des globalisierten
Imperialismus der heutigen Welt in Erscheinung tritt. Im Besonderen ist es der
geistige Konservatismus, der im Widerspruch zur objektiv vergesellschafteten
ökonomischen Basis steht. Seit Urzeiten schaffen die Menschen ihre
Lebensgrundlagen in einem gesellschaftlichen
Prozess der Auseinandersetzung mit der Natur und deren Aneignung durch
produktive Veränderung, so dass der Einzelne nicht mehr ohne die Allgemeinheit
existieren könnte. Über Tausende von Jahren prägte dies im gesellschaftlichen
Bewusstsein die Vorstellung, dass das Schicksal des Einzelnen von dem der Allgemeinheit
abhängt und ihm insofern untergeordnet ist. Und über Tausende von Jahren, seit
der Herausbildung des Privateigentums und des Staates, war das eine –
vermeintlich gottgewollte - herrschaftliche
Unterordnung. (Immer wieder lesenswert ist in diesem Zusammenhang Friedrich
Engels‘ Schrift „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“,
an deren Schluss der amerikanische Anthropologe Lewis Henry Morgan
folgendermaßen zitiert wird: „Seit dem Eintritt der Zivilisation ist das
Wachstum des Reichtums so ungeheuer geworden, seine Formen so verschiedenartig,
seine Anwendung so umfassend und seine Verwaltung so geschickt im Interesse der
Eigentümer, dass dieser Reichtum, dem Volk gegenüber, eine nicht zu
bewältigende Macht geworden ist. Der Menschengeist steht ratlos und gebannt da
vor seiner eignen Schöpfung. Aber dennoch wird die Zeit kommen, wo die
menschliche Vernunft erstarken wird zur Herrschaft über den Reichtum, wo sie
feststellen wird sowohl das Verhältnis des Staats zu dem Eigentum, das er
schützt, wie die Grenzen der Rechte der Eigentümer. Die Interessen der
Gesellschaft geh‘n den Einzelinteressen absolut vor, und beide müssen in ein
gerechtes und harmonisches Verhältnis gebracht werden. …“)
Erst die französische bürgerliche Revolution brachte
mit dem Schlachtruf „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“ ein grundsätzlich anderes,
bürgerliches Bewusstsein der Gesellschaft vom Verhältnis zwischen Individuum
und Gesellschaft zum Durchbruch. Als Bewusstsein einer neuen herrschenden
Klasse wurde es - und blieb es dann - das herrschende Bewusstsein der
bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft, ungeachtet aller späteren, oben
beschriebenen Wandlungen der inneren Beziehungen dieser Gesellschaft. Es setzte
die Freiheit des Individuums über alles und meinte in erster Linie die
unternehmerische Freiheit als Freiheit des Kapitals.
Das Verharren in einem neoliberalen
Bewusstseinszustand auch seit den 1970er Jahren – nachdem beispielsweise die
deutsche Sozialdemokratie in ihrem Godesberger Programm längst schon einmal
einen demokratischen Sozialismus angestrebt hatte - mit der Überzeugung, der
Staat müsse sich als Diener der Allgemeinheit in seinem Handeln gefälligst aus der
Wirtschaft heraushalten und sich auf die Gewährleistung der Sicherheit
gesellschaftlicher Rahmenbedingungen des privaten Wirtschaftens beschränken, hatte
zur Folge, dass der Profit, die Verwertung des eingesetzten Kapitals, der
allgemeine Sinn und Zweck allen Wirtschaftens blieb – ungeachtet aller
objektiven Prozesse der Vergesellschaftung in der Wirtschaft. In dem
unbedingten Glauben an den Markt als ökonomischen Regulator, an das
„Wirtschaftswachstum“ als Ziel staatlicher Wirtschaftspolitik ist dieses
Prinzip sogar zur Staatsraison geworden, allen katastrophalen Erfahrungen mit
der Jagd nach Profit durch Spekulation sowie Ruinierung ganzer
Volkswirtschaften und der Umwelt zum Trotz. Und es war eine geistige Bankrotterklärung
des deutschen Staates, als Herr W. Schäuble, damals noch Innen- und bald darauf
Finanzminister, am 10. November 2008, unmittelbar nach Ausbruch der großen
Finanzkrise, auf einer „LutherKonferenz:
Die Freiheit eines Christenmenschen im Wirtschaftsleben“ erklärte, er habe gar
nicht verstanden, was da auf den internationalen Finanzmärkten abläuft, und: „Uns
bleibt nichts weiter übrig als weiterzumachen wie bisher – nach der Methode
‚Versuch und Irrtum‘“. Kann der schreiende Widerspruch zwischen
gesellschaftlichem Sein der heutigen Gesellschaft, also ihrer vergesellschafteten
ökonomischen Basis, und ihrem geistig-kulturellen, politischen und juristischen
Überbau prägnanter zum Ausdruck kommen als in solcher Aussage? Was diese zerrissene
Gesellschaft des 21. Jahrhunderts mit ihrem Kapitalismus des Wahns zu ihrer
Befriedung und Befreiung (als Einsicht in die Notwendigkeit) braucht, ist ein
neuer, der ökonomischen Basis entsprechender politischer, juristischer und
geistig-kultureller Überbau, vor allem ein europäisches Grundgesetz, das die
vergesellschaftete ökonomische Grundlage als solche und die steuernde Rolle der
Politik anerkennt, gleichzeitig aber die ökonomische, auch unternehmerische
Freiheit des Individuums innerhalb von gesetzten Grenzen (auch für den Umgang
mit Geld – Mindesteinkommen, Höchsteinkommen und vieles andere mehr) definiert,
die der ganzen Gesellschaft dienlich sind.
Mit der russischen Oktoberrevolution wurde vor hundert
Jahren der erste, bewusste und entscheidende Schritt hin zu solch einem neuen
„Gesellschaftsvertrag“ getan. Doch der Start fand unter denkbar ungünstigen
Bedingungen statt. Darüber waren sich Lenin und die Bolschewiki schon bald im
Klaren. Was danach geschah, war die Resultante aller wirkenden Kräfte in der
Welt – um einen philosophischen Gedanken von Karl Liebknecht aufzugreifen. Wie
immer auch diese Resultante beurteilt werden mag – die russische Revolution vom
Oktober 1917 bedeutete einen Bruch in der Entwicklung der menschlichen
Gesellschaft, mit dem sich das Verhältnis von Ökonomie und Politik in dem Sinne
zu verändern begann, dass, zunächst in einem Teil der Welt, die Politik sich
die Ökonomie unterordnete und ihr ein gesellschaftliches Ziel gab: Die
Befriedigung der Bedürfnisse der Gesellschaft als Ganze. Es war die Befreiung der
Ökonomie von dem verselbständigten, desaströsen Prinzip der Kapitalverwertung
als Selbstzweck, ihre Unterordnung unter die Vernunft.
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Was uns alle beschäftigt – Wo erhalten Kleinanleger den grössten Ertrag? Wohl dort, wo sich Unternehmen für die digital–analoge Zukunft engagieren! In der Schweiz sticht ein Unternehmen ganz besonders heraus und macht neugierig... http://bit.ly/2zlb1pr
Dank für das Lob! Doch an wen geht er eigentlich? Gruß, Heerke
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