Donnerstag, 9. November 2017

Als das Ende des Kapitalismus begann



Von Heerke Hummel



(Erschienen in: „Sozialismus“, Heft Nr. 12, Dezember 2017, Supplement „Die Oktoberrevolution 1917 und die Folgen“)


Anlässlich des hundertsten Jahrestages der russischen Großen Sozialistischen Oktoberrevolution fehlte es nicht an Versuchen, die geschichtliche Bedeutung dieses herausragenden Ereignisses zu kommentieren. Viele würdigten es als den großen Versuch russisch-bolschewistischer Sozialdemokraten, die Gesellschaftstheorie von Karl Marx und Friedrich Engels in die Praxis umzusetzen. Andere arbeiteten besonders dasjenige heraus, was in der Folge als Verbrechen des Stalinismus und Verletzung der Menschenrechte in die Geschichte einging und vermeintlich zur politischen Polarisierung der Welt führte. Und wieder andere mochten die Ironie der Geschichte im Auge gehabt haben. Denn schlussendlich seien ja alle Opfer, die der Ost-West Konflikt der Menschheit abverlangte, umsonst gewesen. Der Kapitalismus, dessen Überwindung mit der von den Bolschewiki Russlands am 7. November (nach unserem Kalender) 1917  begonnenen Revolution eingeleitet werden sollte, sei heute so mächtig und weltumspannend wie nie zuvor. Die Kommunisten Russlands und Chinas seien von selbst in den Schoß des Kapitalismus zurückgekehrt.
Ja, so oder so und auch so kann man die zehn Tage, die, wie John Heartfield schrieb, die Welt erschütterten, je nach eigener Lebenserfahrung, Bildung und Erziehung im weitesten Sinne ansehen. Hier allerdings soll gerade deutlich gemacht werden, dass und warum sowohl einerseits Jubel über den Sieg des Kapitalismus im Ost-West-Konflikt als auch andererseits Wehmut über die vermeintliche Niederlage des Realsozialismus unangebracht sind. Denn diese Wehmut wie jener Jubel verkennt wohl das Wesen dessen, was sich in den letzten hundert Jahren ereignet hat. 


Unsagbar leidensvolle Jahre

Die Oktoberrevolution wäre nicht denkbar ohne den ersten Weltkrieg, dessen Beendigung sie beschleunigen sollte. Das russische Volk und seine Soldaten waren durch das unerträgliche, bis dato nicht gekannte Leid revolutioniert und bereit, dem vom Panzerkreuzer „Aurora“ gegebenen Signal zum Sturm auf das Winterpalais von St. Petersburg zu folgen. Es war keine spontane Aktion. Wladimir Iljitsch Lenin hatte die gesellschaftliche Situation Russlands und Europas bereits untersucht und festgestellt, dass sich der von Karl Marx und Friedrich Engels analysierte Kapitalismus (der freien Konkurrenz) weiterentwickelt hatte und in sein imperialistisches Stadium eingetreten war, gekennzeichnet durch weitgehende Monopolisierung der Wirtschaft, ungleichmäßige Entwicklung der imperialistischen Mächte, Aggressivität und Kampf um eine Neuaufteilung der Welt zur Sicherung von Rohstoffressourcen und Absatzmärkten. Und er charakterisierte diesen Imperialismus als parasitären, faulenden, sterbenden Kapitalismus. Diese Einschätzung ist viel belächelt worden. Zu Unrecht, wie noch zu zeigen sein wird! In der damaligen Situation jedenfalls war sie sehr plausibel. Und so konnte Lenin auf dem außerordentlichen Kongress der Sozialistischen Internationale 1912 in Basel einen Beschluss mit durchsetzen, der die teilnehmenden sozialdemokratischen Parteien verpflichtete, alles Mögliche zu tun, um den drohenden Krieg zwischen den imperialistischen Mächten zu verhindern und, sollte dieser doch ausbrechen, die dann zu erwartende revolutionäre Krise für den Sturz des kapitalistischen Systems und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu nutzen. Dies war, in groben Zügen, die Vorgeschichte der russischen Revolution.
Als sie im Februar 1917 ausbrach, der Zar entmachtet wurde, die neue, bürgerliche Regierung unter Kerenski den Krieg gegen Deutschland/Österreich aber nicht beendete, während Soldaten bereits begannen, die Schützengräben zu verlassen und sich mit ihren  deutschen Feinden zu verbrüdern, hielt Lenin den Moment für eine aussichtsreiche proletarische Initiative zur Weiterführung der Revolution entsprechend dem Beschluss von Basel für gekommen. In Russland sah er zu diesem Zeitpunkt das schwächste Kettenglied im System der imperialistischen Welt, das es durch eine Weltrevolution zu stürzen galt, um der Menschheit eine neue, friedliche, humane Perspektive zu eröffnen. Der bolschewistische Sturm auf das Winterpalais war getragen von der Zuversicht, dass das Proletariat Westeuropas, vor allem Deutschlands, dem russischen Beispiel folgen würde. Das ungeheure Völkergemetzel müsste doch bei allen Geschundenen den unbedingten Willen erzeugt haben, eine neue, sozialistische Welt zu gestalten. Die russischen Kommunisten gingen beispielgebend voran. Ihr erstes Dekret nach der Machtergreifung betraf die Beendigung des Krieges um jeden Preis. Und so beugte man sich dem Diktat Deutschlands im Friedensvertrag von Brest-Litowsk. Und als wenig später in Versailles dem deutschen Volk von den Siegermächten ein desaströser Diktatfrieden aufgezwungen wurde, war es wiederum Lenin, der, nun im Interesse eines dauerhaften Friedens, die russische Unterschrift verweigerte, weil er in diesem Vertrag die Saat für einen nächsten imperialistischen Krieg sah.
Der Verlauf der Geschichte sollte sich seine Weitsicht leider bestätigen. Aber seine Hoffnung auf das Proletariat Europas und dessen Gleichschritt mit den russischen Bolschewiki erwies sich als trügerisch. Unterstützt wurden von Westeuropa her und von den USA nicht die sowjetische Revolution, sondern – mit den Interventionskriegen in verschiedenen Regionen Sowjetrusslands – die konterrevolutionären weißgardistischen Armeen im Kampf gegen die Rote Armee. Als diese schließlich die Revolution verteidigt hatte, sollte die junge Sowjetmacht durch Handelsbeschränkungen  und Lieferverbote für wichtige Maschinen und Ausrüstungen ökonomisch isoliert und erdrosselt werden. Die Folge: In einem unglaublichen Überlebenskampf des Sowjetstaates wurde die Theorie von Marx und Engels - aus tiefer politökonomischer Erkenntnis heraus entwickelt, um alle Menschen von ihren Klassenschranken zu befreien – durch den stalinistischen Terror pervertiert; und mit ihr eine ganze Partei, eine weltumspannende politische Bewegung, die aufgebrochen war, diese Befreiung zu führen, ja ein ganzes Gesellschaftssystem, das einen Fortschritt darstellen sollte, aber schließlich  trotz des Sieges über den deutschen Faschismus nach 70 zum Teil unsagbar leidensvollen Jahren für fast zwei Milliarden Menschen des sozialistischen Lagers „implodierte“, wie der Vorgang zwischen Elbe und Stillem Ozean zu Beginn der 1990er Jahre gern bezeichnet wurde. Und dies scheinbar deshalb, weil 17 Millionen DDR-Bürger mehrheitlich nicht mehr bereit waren, weniger frei und wohlhabend zu leben als ihre „Brüder und Schwestern“ in der Bundesrepublik Deutschland. Wodurch deren Wohlstand und Freiheit zustande gekommen waren, wurde nicht hinterfragt.
Hier soll nur auf einige Aspekte dieses als „Wirtschaftswunder“ bezeichneten Vorgangs ansatzweise hingewiesen werden. Als Europa nach dem zweiten Weltkrieg ökonomisch ausgeblutet war und in weiten Teilen in Trümmern lag, stand erneut das Gespenst revolutionärer gesellschaftlicher Veränderungen – nun in ganz Europa - vor der Tür. Ähnlich wie schon knapp 30 Jahre zuvor hatten sich die USA mit ihrem, wenn auch relativ späten, Eingreifen in die Kriegshandlungen eine Möglichkeit geschaffen, den Verlauf der europäischen Geschichte mitzubestimmen. Bereits vor Kriegsende hatten sie dafür mit dem internationalen Abkommen von Bretton Woods über die Gestaltung eines neuen internationalen Währungssystems der westlichen Hemisphäre günstige finanzpolitische Voraussetzungen geschaffen. Dank ihrer militärisch und ökonomisch basierten Stärke war es ihnen gelungen, ihre nationale Währung, den US-Dollar, gegen den Widerstand beispielsweise des britischen Ökonomen J. M. Keynes zur Leitwährung des imperialistischen Weltwährungssystems zu machen und die Vereinigten Staaten endgültig als politische Führungsmacht des imperialistischen Weltsystems im Kampf gegen den Kommunismus zu etablieren. Aus westlicher Sicht war das auch notwendig.
Schon für Lenin war der Imperialismus seit den ersten Tagen der Oktoberrevolution „eine enge und feste Verkettung aller Staaten der Welt zu  einem System“ geworden. Dennoch meinte er zu Beginn des Jahres 1921 in Bezug auf den Ausgang der Intervention des Imperialismus: „Nicht wir haben gesiegt, denn unsere militärischen Kräfte sind nicht der Rede wert, sondern der Sieg wurde dadurch herbeigeführt, dass die Mächte nicht ihre ganze militärische Kraft gegen uns einsetzen konnten.“ Und: “Wir konnten nur dank der tiefen Zwietracht unter den imperialistischen Mächten siegen, nur dank dem Umstand, dass die Zwistigkeiten keine zufälligen inneren Parteizwistigkeiten waren, sondern dass es sich um einen tiefen, unausrottbaren Widerstreit der ökonomischen Interessen der imperialistischen Länder handelt, die, weil sie auf dem Boden des Privateigentums an Grund und Boden und am Kapital stehen, zwangsläufig eine solche Raubpolitik treiben müssen, bei der sich die Versuche, ihre Kräfte gegen die Sowjetmacht zu vereinigen, als fruchtlos erwiesen haben.“

Bedenkt man, dass am Ende des zweiten Weltkrieges die Truppen der Roten Armee den Westalliierten  an der Elbe gegenüber standen und Stalin am Konferenztisch der Siegermächte über Nazideutschland in Potsdam saß, ohne sich von den amerikanischen Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki einschüchtern zu lassen, so sind die Dramatik der Lage, in der sich das imperialistische System in der unmittelbaren Nachkriegszeit befand, und der Einigungsdruck sowie Führungsanspruch der USA verständlich. Die amerikanische Schlussfolgerung zog Außenminister George C. Marshall am 5. Juni 1947 in einer Rede an der Harvard-Universität: „Das Heilmittel für diese Lage“, sagte er, „liegt in … der Wiedererrichtung des Vertrauens der europäischen Bevölkerung in die wirtschaftliche Zukunft ihrer eigenen Länder und Europas überhaupt.“ Damit war die Aufgabe des bei diesem Anlass präsentierten und nach seinem Urheber benannten Marshall-Plans für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas formuliert. Für wie labil man in den USA die Lage in Europa einschätzte, geht aus dem amerikanischen Auslandshilfsgesetz von 1948 hervor, in dem es hieß, „dass die Zersetzung als Folge des Krieges nicht durch nationale Grenzen aufgehalten wird.“ Man befürchtete eine sozialistische Umwälzung in ganz Europa und ein Ausstrahlen auf Amerika. Das galt übrigens auch für die konservativen Politiker im Nachkriegsdeutschland. Die Führung der CDU unter Konrad Adenauer wusste, was sie dem deutschen Volk mit dem Ahlener Programm von 1947 versprechen musste, um Gehör zu finden. Es stand unter dem Motto „CDU überwindet Kapitalismus und Marxismus“ und begann mit den Worten: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund auf erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.“

Vom heißen in den kalten Krieg

Geboren aus der bis dato wohl tiefsten politischen Krise des Imperialismus als Weltsystem war der Marshallplan – wie auch die ihm folgende, politisch motivierte „soziale Marktwirtschaft“ Ludwig Erhardts in der BRD - eine Frucht des Primats der Politik über die Ökonomie. Seine Aufgabe war in allererster Linie eine politische, seine Inszenierung ein politischer Akt der USA, seine Methode war Erpressung. Denn Kredite für den Ankauf von – vor allem amerikanischen – Waren aller Art für den wirtschaftlichen Wiederaufbau bekamen nur Staaten, die sich verpflichteten, eine freiheitlich-marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung zu respektieren. Wer sich einer solchen Wirtschaftsordnung verweigerte, wurde von der Beteiligung am amerikanischen Wiederaufbauprogramm für Europa (ERP) ausgeschlossen und sogar mit dem Bann der Embargopolitik belegt, angeblich weil dadurch „eine Verlängerung der menschlichen Leiden“ erstrebt würde, „um daraus politische oder sonstige Vorteile zu ziehen“. Dieser zur Sabotage des sozialistischen Aufbaus in Osteuropa und Asien geführte Handelskrieg, allgemeiner auch als „Kalter Krieg“ bezeichnet, hielt 40 Jahre an.
In der DDR und bei ihren östlichen Partnern wurden diese vier Jahrzehnte als ökonomischer Wettbewerb zwischen Sozialismus und Kapitalismus interpretiert; zeitweise mit so unrealistisch optimistischen Zielstellungen wie das als „ökonomische Hauptaufgabe“ auf dem V. Parteitag der SED 1958 verkündete Erreichen und Übertreffen der BRD im Pro-Kopf-Verbrauch der Bevölkerung bis 1961 oder Walter Ulbrichts viel bespötteltes „Überholen ohne einzuholen!“ In der UdSSR gab es ähnliche Wunschvorstellungen im Vergleich mit den USA. Man mag das aus heutiger Sicht belächeln. Aber dennoch: die 1917 ins Leben gerufene sozialistische Macht war mehr und mehr zu einer Herausforderung des imperialistischen Systems geworden:
-          militärisch mit der Beseitigung des Atombombenmonopols der USA, Englands und Frankreichs sowie mit einem sowjetischen Raketenprogramm, das 1961 zum ersten bemannten Raumflug führen sollte,
-          politisch mit dem beginnenden Zerfall des Kolonialsystems und Entstehung einer Gemeinschaft blockfreier Staaten,
-          ökonomisch dank Schaffung einer leistungsfähigen, im Rahmen des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe planmäßig kooperierenden industriellen Basis der sozialistischen Staatengemeinschaft,
-          sozial mit der nun möglich gewordenen, stärkeren Berücksichtigung und bewussten Konzentration auf die Lebensbedürfnisse der Bevölkerung,
-          kulturell durch Pflege und weltweiten Austausch des kulturellen Erbes.
Mit dieser Herausforderung wirkte der sogenannte real existierende Sozialismus auf das imperialistische System ein, veränderte es beziehungsweise zwang es, sich selbst zu verändern. Es organisierte sich, schuf sich politische, militärische und ökonomische Strukturen zur Koordinierung der Aktivitäten vor allem in der Auseinandersetzung  mit dem sogenannten Ostblock, aber auch zur Steuerung, besonders ökonomischer Prozesse, im eigenen Lager. Hingewiesen sei hier nur auf militärische Bündnissysteme wie NATO und SEATO sowie auf internationale Abkommen und Einrichtungen wie Weltbank, Internationaler Währungsfonds und UNCTAD, mit denen Interessengegensätze abgebaut und günstige Voraussetzungen für das Funktionieren des ökonomischen Systems geschaffen werden sollten. Auf europäischer Ebene betraf das den ganzen europäischen Integrationsprozess seit Beginn der 1950er Jahre. Mit der Schaffung eines westlich dominierten, internationalen Handels- und Finanzsystems sollte die ökonomische Vormachtstellung des Imperialismus in der Welt gesichert, die neokoloniale Ausbeutung der Dritten Welt erhalten und der ökonomische Aufschwung der sozialistischen Staatengemeinschaft massiv behindert werden. Das Wesentliche dieser tendenziellen Weiterentwicklung der Produktions- und Funktionsweise der Gesellschaft in der westlichen Hemisphäre bestand darin, dass damit immer wieder den Produktivkräften, also dem technischen und technologischen Fortschritt, neuer Entwicklungsraum, also notwendige gesellschaftliche Voraussetzungen geschaffen wurden. Im Verlaufe der 1970er Jahre wurde die Fähigkeit zu Flexibilität und Erneuerung zum entscheidenden Kriterium für die Überlegenheit im Ost-West-Konflikt.

Selbstreformierung im Ostblock

Gesellschaftswissenschaftler beispielsweise der DDR wussten und lehrten schon damals, dass die Wissenschaft zur unmittelbaren Produktivkraft geworden war. Und Physiker im Osten Deutschlands, die aus der Sowjetunion zurückgekehrt waren, forschten bereits Anfang der 1950er Jahre auf den Gebieten der Transistor- und Halbleitertechnik als Ausgangsbasis der Mikroelektronik. Jedoch die ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für einen solch grundlegenden Richtungswandel in der technologischen Entwicklung (dessen eigene gesellschaftsverändernde Bedeutung seinerzeit noch längst nicht absehbar war) waren in der Welt des Kapitals, besonders in den Vereinigten Staaten von Amerika bei weitem günstiger als in der DDR und im gesamten Ostblock. Hingewiesen sei hier nur auf zwei besonders wichtige Momente.
Erstens: Erforschung und sachliche Umsetzung solcher neuen Technologien erforderten nicht nur ein sehr hohes wissenschaftlich-technisches Niveau beispielsweise im Gerätebau, sondern auch außerordentlich große materielle und finanzielle Aufwendungen und entsprechende Reserven. Über solche Reserven verfügte der Osten, der sich seit Jahrzehnten in einer verzweifelten ökonomischen Aufholjagd befunden hatte, nicht. Für die weitestgehend auf sich allein gestellte, vom technischen Fortschritt des Westens isolierte DDR galt dies ganz besonders. Dennoch wurden für den Aufbau der Mikroelektronik in der DDR enorme Summen aufgewendet. Allein zwischen 1986 und 1990 sollen das rund 14 Milliarden Mark für Forschung und Entwicklung sowie zusätzlich 15 Milliarden Mark für Investitionen (etwa 7 % der gesamten Industrieinvestitionen) gewesen sein. Das war notwendig, um wichtige Exportprodukte der DDR, wie zum Beispiel  Werkzeugmaschinen, mit elektronischen Steuerungen konkurrenzfähig halten zu können. Denn solcherlei Zulieferungen standen natürlich auf den Embargolisten des Westens.
In den USA war Mitte der 1950er Jahre mit einem der Stanford Universität in Kalifornien nahestehenden Labor (Shockley Semiconductor Laboratory) bereits eine Keimzelle des Silicon Valleys entstanden, aus der dann mit Wagniskapital so bekannte Firmen wie Fairchild und Intel hervorgingen und die Entwicklung der Mikroelektronik vorantrieben. In einem profitorientierten System mit seinem Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Produktion und Verbrauch muss es einerseits zwar von Zeit zu Zeit Absatz- und Überproduktionskrisen geben, doch bilden diese Überkapazitäten an Produktionsvermögen eben andererseits in Zeiten bedeutender technologischer Wandlungen die dafür erforderlichen ökonomischen Reserven. Und so bot also die größte Volkswirtschaft der westlichen Hemisphäre die günstigsten Voraussetzungen in der Welt für den Siegeszug der Mikroelektronik als produktions- und gesellschaftsverändernde Technologie weltweit.
Wären also die Nachfahren der Bolschewiki beziehungsweise die von denen ins Leben gerufene Denk- und Wirtschaftsweise gar nicht in der Lage gewesen, von sich aus die Mikroelektronik hervorzubringen? Mitnichten! Bloß wäre die Entwicklung ohne das Vorpreschen des Westens und seinen Druck im ökonomischen Wettbewerb gewiss wesentlich langsamer vor sich gegangen. Dies schon deshalb, weil Entscheidungen von volkswirtschaftlicher Tragweite und strategischer Bedeutung grundsätzlich auf höchster Ebene im Rahmen einer schwerfälligen Planungsbürokratie gefällt wurden. Als Problem wurde dieser Umstand im Osten schon in den 1960er Jahren erkannt. In der DDR wurde noch unter Walter Ulbricht versucht, mit einer Reform des ökonomischen Systems zu beginnen und die Eigenverantwortung der Betriebs- und Kombinatsdirektoren zu vergrößern. Doch das scheiterte schon bald am Einspruch Moskaus unter L. I. Breschnew. Gut zehn Jahre später, nachdem in China der „Große Sprung“ Mao Zedongs die Wirtschaft beinahe ruiniert hätte, leitete Deng Xiao Ping – unabhängig von Moskau, denn China besaß dank seiner Größe und Macht die dazu notwendige Souveränität - eine Wirtschaftsreform ein, die das Reich der Mitte im Verlaufe von vier Jahrzehnten mit fast 900 Millionen Beschäftigten bei einer Einwohnerzahl von 1,4 Milliarden Menschen zur stärksten Volkswirtschaft der Welt nach der US-amerikanischen und zum Motor der Weltwirtschaft werden ließ. Die Kommunistische Partei Chinas überwand die 1-Mann-Herrschaft und ersetzte sie durch eine kollektive Führung, in der die Funktion des Generalsekretärs auf maximal zwei Wahlperioden von jeweils fünf Jahren befristet wurde. Das ökonomische System des Landes wurde weitgehend auf marktwirtschaftlich-gewinnorientierte Prinzipien ausgerichtet. Zugleich aber wurde das unbedingte Primat der Politik über die Ökonomie gesichert, sodass die politische Führung durch die Kommunistische Partei Zweck und Ziel des Handelns der ökonomischen Akteure steuern und mit geeigneten gesetzlichen Regelungen sowie mit ökonomischen Mitteln im Interesse der ganzen chinesischen Gesellschaft durchsetzen kann. Und diese chinesische Gesellschaft verfolgt heute das Ziel, nach Jahrhunderten feudaler Unterdrückung, kolonialer und halbkolonialer Ausbeutung gleichberechtigte Teilhabe am Reichtum (im weitesten Sinne) dieser globalisierten Welt zu erlangen und zu sichern. Dies kann nicht durch blinde Unterwerfung unter die Prinzipien der Profitmaximierung imperialer, spekulativer Kapitalmärkte erreicht werden. Es muss das bewusst angesteuerte Ziel der Chinesen sein, ihren eigenen Weg zum „Sozialismus chinesischer Prägung“ zu gehen. Die Erfahrungen mit dem Kapitalismus und die ganze Geschichte seit dem Beginn des vorigen Jahrhunderts mit ihrer ungleichmäßigen Entwicklung der imperialistischen Welt haben gezeigt, dass privates, ausbeuterisches Kapitaleigentum und die auf ihm beruhende Konkurrenz die menschliche Gesellschaft spalten in arm und reich; zunächst innerhalb der Nationen, dann zwischen den Nationen und schließlich zwischen den Kontinenten. Das heutige Elend Afrikas, Asiens und Lateinamerikas ist die Frucht imperialistischer, vom Diktat der Ökonomie und ihrer Prinzipien bestimmter Politik Europas und der USA. Das Elend auch hierzulande ist nicht zu übersehen. Aber es ist nicht zu vergleichen mit dem in der Dritten Welt. Es ist gemildert durch deren erbarmungslose Ausbeutung, vollzogen durch unfaire, imperialistische Wirtschafts- und Finanzbeziehungen.
Die Reformen des Ostens gegen Ende des 20. Jahrhunderts, auch die in der UdSSR, waren, auch wenn sie allgemein als Zusammenbruch des Sozialismus wahrgenommen wurden, alles andere als das. Es handelte sich um eine Korrektur der Art und Weise, die Wirtschaft zu leiten und ihre Entwicklung zu steuern. Dem Wesen nach ging es darum, unter den Bedingungen einer zentralen gesellschaftlichen Ansteuerung bestimmter, nationaler (oder regionaler) Zwecke und Ziele eine hohe Flexibilität und Eigeninitiative der Unternehmen zu ermöglichen. Das war notwendig, um – nachdem man in wenigen Jahrzehnten straffer zentraler Planung unter Zeitdruck und schwierigsten Bedingungen eine industrielle Basis geschaffen hatte – nicht den Anschluss an die Entwicklung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in der Welt zu verlieren und so Gefahr zu laufen, als Energie- und Rohstofflieferant oder Billiglohnland in quasi neokoloniale Abhängigkeit zu geraten. Dass man sich dabei nicht scheute, für die eigene Wirtschaft weitgehend die Methoden des Wirtschaftens vom Westen zu übernehmen, mag zum einen daran gelegen haben, dass die sozialistische Wirtschaftswissenschaft und -praxis nichts Besseres zu entwickeln vermocht hatte. Zum anderen wurde so eine notwendige, intensive ökonomische und wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit mit dem Westen erleichtert. China konnte diesen ökonomischen Kurswechsel, der mit einer – nicht risikofreien -  „Öffnung“ zum Westen hin verbunden war, wesentlich erfolgreicher vollziehen als Russland. Es wurde mit seinen Billionen-Dollar-Reserven (erwirtschaftet mit dem Schweiß und den Entbehrungen Hunderter Millionen Menschen) sogar zum bedeutendsten Gläubigerland der imperialistischen Führungsmacht USA. Daher liegt der Gedanke nahe, China befinde sich ungeachtet seiner sich kommunistisch nennenden Parteiführung auf dem Weg nicht zum Sozialismus chinesischer Prägung, sondern zu einem chinesisch geprägten Kapitalismus. Unter Kommunisten zumindest wird darüber gestritten.
Das westliche Kapital hingegen kümmert diese Frage wenig. Ihm geht es bei all seinen Unternehmungen vor allem um das private Interesse am Profit. Demgegenüber ist die chinesische Politik von heute quasi die Weiterführung der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) Lenins am Beginn der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Der verstand es schon damals, die Widersprüche des Imperialismus zum Vorteil Sowjetrusslands auf dem Weg zum Sozialismus auszunutzen – davon überzeugt, dass dieser Imperialismus mit dem hohen Niveau der Produktivität sowie der Organisation gesellschaftlicher Arbeit den Vorabend des Sozialismus bildete und es nur noch eines Machtwechsels bedurfte, um das System einem humanistisch-gesellschaftlichen Ziel und Zweck zu unterwerfen, anstelle der Orientierung am Profit als inhumanen, desaströsen Selbstzweck. In gewisser Weise ähnelt die heutige Situation in China dem  Zustand, den Lenin wohl für eine unmittelbar nachrevolutionäre Zeit in der damaligen imperialistischen Welt für möglich hielt.
Doch auch das imperialistische System hat in den letzten hundert Jahren einen bedeutenden Wandel durchgemacht. Die Veränderungen in Wissenschaft, Technik, Technologie, Organisation der Produktion und des Austauschs, ja im ganzen gesellschaftlichen Leben durch die Digitalisierung haben dazu geführt, dass Entscheidungen – wo auch immer – zunehmend auf der Basis computergestützter Informationsverarbeitung getroffen und Abläufe organisiert werden; also immer weniger durch Überlegungen von Menschen und immer mehr durch Maschinen entsprechend bestimmten Algorithmen. Das gesellschaftlich bestimmende, prägende Kriterium ist dabei die Profitrate des agierenden Kapitals (ausgedrückt beispielsweise auch in der Zielstellung „Wirtschaftswachstum“), in der das ganz allgemeine, von Karl Marx formulierte  Gesetz der Ökonomie der Zeit unter kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Bedingungen in Erscheinung tritt. Es besagt, dass die menschliche Gesellschaft zu allen Zeiten mit der ihr zur Verfügung stehenden Zeit haushalten musste, um die Bedürfnisse der Menschen (an Sachen, Kultur usw., auch Freizeit) optimal zu befriedigen, und dass sich darin letztlich alle Ökonomie auflöst.

Unbemerkter Wandel im Westen 

Die weitgehende Digitalisierung des Lebens- und Schaffensprozesses der menschlichen Gesellschaft hat darüber hinaus zu einer neuen Art und Weise der Beziehungen zwischen den Menschen geführt. Während einerseits eine zunehmende Individualisierung und Vereinzelung zu verzeichnen ist, findet andererseits eine zunehmende, unmittelbare Kooperation im gesellschaftlichen Aneignungsprozess der Natur über den ganzen Globus hinweg statt. Es hat sich also ein globales System von Beziehungen herausgebildet, denen der Tausch von Waren, Sachen und Leistungen zu Grunde liegt. Es ist ein Tausch von Wertäquivalenten, der durch Geld vermittelt wird. Nach marxistischer Auffassung ist das Geld selbst eine („allgemeine“) Ware, „allgemeines“ Äquivalent. Als solche „Geldware“ dienten in der Geschichte vor allem Edelmetalle wie Gold und Silber, die selbst aber im Laufe der Entwicklung im 20. Jahrhundert aus dem tagtäglichen Verkehr herausgezogen und durch Papiergeld ersetzt wurden, welches das in den Tresoren der Notenbank(en) lagernde Edelmetall vertrat. Dies war der Zustand in der westlichen Welt bis 1971.
Oben wurde bereits dargestellt, wie die USA bereits 1944 ihre Rolle als Führungsmacht des imperialistischen Weltsystems einerseits und Weltpolizist andererseits mit dem Abkommen von Bretton Woods finanzpolitisch untermauerten, indem der US-Dollar zur Leitwährung der westlichen Hemisphäre gemacht werden konnte. Für die nationalen Währungen der Partner wurden stabile Umtauschrelationen zum Dollar ausgehandelt, und der Dollar selbst war bei der US-Notenbank eintauschbar gegen Gold im Verhältnis von 35 US-Dollar = 1 Feinunze Gold. Letzteres war die – sozusagen goldene – Basis für das Vertrauen von Amerikas Hörigen in dessen Solidität. Doch der Glaube – beispielsweise der Europäer -, mit dem goldgedeckten Dollar im Handel mit den USA ein Faustpfand in der Hand zu halten, war trügerisch. Denn der Weltpolizist lebte über seine Verhältnisse, leistete sich enorme Rüstungskosten, führte Kriege, zuerst in Korea und dann in Vietnam, zulasten der eigenen Volkswirtschaft. Seine immensen Importe an Waren aller Art finanzierte er nicht durch entsprechende Exporteinnahmen, sondern bezahlte mit Dollars, die ihn nichts weiter kosteten als das Papier und der Druck beziehungsweise einfach die Buchung auf Konten. 1971 kam die Stunde der Wahrheit. Die außerhalb der USA kursierenden Dollarbestände übertrafen in ihrer Goldparität die amerikanischen Reserven in Fort Knox um ein Vielfaches, und das Vertrauen europäischer Partner der USA in die Sicherheit ihrer Dollarbestände schmolz dahin wie Schnee in der Sonne. Mehr und mehr tauschten sie ihre Dollars bei den Amerikanern in sicheres Gold um, bis US-Präsident Richard Nixon am Abend des 15. Augusts jenes bedeutungsvollen Jahres in seiner sonntäglichen Fernsehansprache der verblüfften Welt mitteilte, die USA würden ihrer ehemals übernommenen Verpflichtung, je 35 US-Dollar gegen eine Feinunze Gold einzutauschen, ab dem nächsten Tag nicht mehr nachkommen. Damit vollzog er, ohne einen einzigen Schuss abzugeben und ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, was Karl Marx rund 100 Jahre zuvor als die revolutionäre Aktion des internationalen Proletariats prognostiziert hatte. Die Schüsse waren in den Jahren zuvor gefallen und das Blut in Strömen während des Vietnam-Krieges der USA geflossen. Die Entscheidung des Präsidenten war, obgleich – oder gerade weil – aus einer Notsituation heraus geboren, aus nationaler Sicht ein finanztechnischer Geniestreich; auch wenn sie bei genauer Betrachtung als Eigentor des internationalen Finanzkapitals zu bewerten ist, dessen man sich bis heute wohl noch gar nicht bewusst wurde. Für die westliche ökonomische „Fachwelt“ war ein solcher Schritt undenkbar gewesen, und er ist in seinen logischen Konsequenzen bis heute nicht verstanden worden.
Mit diesem genialen finanztechnischen Trick entledigten sich die USA 1971 nicht nur jeglicher finanziellen Verpflichtung gegenüber der übrigen Welt, sondern sie veränderten direkt die Sachverhalte in den ökonomischen Beziehungen der Gesellschaften im westlichen, nicht mehr auf Gold basierten Geld- und Währungssystem, auch wenn dies nicht gewollt war. Solange 35 US-Dollar 1 Feinunze Gold vertraten, wurde der von ihnen repräsentierte Wert von der Menge gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit bestimmt, die in einer Feinunze Gold vergegenständlicht ist. Das Maß der Arbeit (auch der gesellschaftlichen) ist und kann nur sein: die Zeit ihrer Verausgabung als lebendige Arbeit. Denn nur als solche existiert diese wirklich, Reichtum schaffend. Als vergegenständlichte, im Produkt geronnene (abstrakte) Arbeit ist sie nur noch dessen Wert darstellendes Element, welches bestimmend ist für die Tauschrelationen im Austausch von Waren. Im privaten, marktwirtschaftlichen Austausch von Arbeitsprodukten als Waren bringt nun aber der realisierte Preis des Produkts nicht eine bestimmte Menge gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit zum Ausdruck, die in ihrer lebendigen Verausgabung gemessen wurde, sondern im Goldäquivalent des Produkts. Das bedeutet: Gemessen wird der gesellschaftlich notwendige Arbeitsaufwand des Produkts nicht im Verlaufe der Arbeitsverausgabung im Produktionsprozess, sondern danach, beim Tausch von Ware gegen Ware beziehungsweise von Ware gegen Geld.
Was aber geschieht, seitdem das Geld keine bestimmte Menge Edelmetall beziehungsweise die in ihm fixierte Menge gesellschaftlich notwendiger Durchschnittsarbeit mehr vertritt? Es drückt nun einen Anspruch – nicht auf eine bestimmte Menge Gold, respektive in ihm vergegenständlichte gesellschaftlich notwendige Arbeit – aus, sondern direkt einen Anspruch auf gesellschaftliche Arbeit, aufgewendet für die Erzeugung von Produkten und Leistungen. Und wer misst wo und wie, wieviel gesellschaftliche Durchschnittsarbeit das Geld, die Währungseinheit ausdrückt? Diese Messung findet statt als soziale Auseinandersetzung im Prozess der Lohn- und Gehaltsvereinbarung, als Dialektik des Kampfes und der Einheit von Gegensätzen, von Individuum und Gesellschaft. Also drückt beispielsweise der Euro so viel gesellschaftliche Arbeit aus, wie im Durchschnitt der Euro-Zone gearbeitet werden muss, um einen Euro zu verdienen. Das Geld, der Euro (wie zum Beispiel auch der Dollar, der Rubel oder der Yen) ist zu einem gesellschaftlichen Arbeitszertifikat geworden. Und das Gesamtsystem der finanziellen Beziehungen in der Gesellschaft ist zu einer besonderen Art und Weise der Buch- und Rechnungsführung der Gesellschaft über ihren Reproduktionsprozess geworden, über die Erzeugung und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Aber nicht weil die allermeisten finanziellen Transaktionen nur noch über Kontenbuchungen eines Bankensystems erfolgen, sondern weil es sich um veränderte gesellschaftliche Beziehungen im Reproduktionsprozess handelt! Die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums findet hier nicht mehr am Ende eines Produktionsprozesses im Wettbewerb auf dem Warenmarkt statt, sondern in den Lohn- und Gehaltsauseinandersetzungen, auf dem sogenannten Arbeitsmarkt.
Ein zweiter Aspekt der Veränderungen im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess besteht darin, dass letzterer seinen privaten Charakter weitgehend verloren hat und der Staat als Währungshüter eine neue Verantwortung auch für den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess als solchen trägt. Denn wo Lohn oder Gehalt eines Beschäftigten nicht mehr eine Ware von bestimmtem Wert (Goldmenge) sind oder Anspruch darauf belegen, sondern eine Bestätigung für geleistete gesellschaftliche Arbeit sind, trägt der Herausgeber dieses Dokuments, der Staat als Repräsentant der Gesellschaft, die Verantwortung dafür, dass mit diesem Geld tatsächlich Produkte des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses bedarfsgerecht gekauft werden können. Der Unternehmer, der dieses Dokument dem Beschäftigten aushändigt, agiert, genau betrachtet, nicht mehr als Privatmann, sondern als gesellschaftlicher Agent mit besonderen Kompetenzen im Rahmen eines bestimmten gesellschaftlichen Regelwerks von gesetzlichen Vorschriften für sein Handeln. Als Unternehmer wirtschaftet darüber hinaus nur noch eine verschwindende Minderheit mit eigenem, privatem Vermögen. Die große Masse der in der Wirtschaft agierenden Finanzmittel ist geliehen, zur Verfügung gestellt – letztlich von der Notenbank, dem zentralen gesellschaftlichen Finanzorgan. Wer dessen Geld in Händen hält, hat Anspruch auf einen entsprechenden (wertmäßigen) Anteil am sachlichen, in der Wirtschaft kursierenden beziehungsweise agierenden gesellschaftlichen Reichtum.
Angebahnt hat sich dieser ökonomische Zusammenhang in der Gesellschaft quasi hinter deren Rücken und ganz allmählich seit der Abkehr von der unmittelbaren Goldmünzwährung bis hin zum endgültigen Verschwinden des Edelmetalls aus dem gesellschaftlichen Finanzsystems im Jahre 1971. (Dass Gold dennoch auch heute noch geschatzt und als „Währungsreserve“ verwendet wird, liegt an den besonderen Eigenschaften dieses Materials, die es zu einer „immer verkäuflichen Ware“ machen, und ist für die hier entwickelte Logik der objektiven Realität nicht von Bedeutung.) Der springende Punkt aber ist nun, dass dieser gesellschaftliche Wandel vor genau einhundert Jahren auf einem Sechstel unseres Erdballs durch einen revolutionären, bewussten Akt der Bolschewiki vollzogen wurde. Sie wollten mit ihrer proletarischen Revolution das Vermächtnis von Karl Marx verwirklichen, das Eigentum an den Produktionsmitteln vergesellschaften und eine neue Gesellschaft errichten, die, wie Marx in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ formuliert hatte, „eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht; die also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt. Demgemäß erhält der einzelne Produzent von der Gesellschaft einen Schein, dass er soundso viel Arbeit geliefert … und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat … so viel heraus, als gleichviel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der andern zurück."
Auf Folgendes ist an dieser Stelle aufmerksam zu machen: Für Marx kann es nicht absehbar gewesen sein, dass aus einer Reihe von wissenschaftlich-technischen, sozialen und ökonomischen Gründen die menschliche Arbeit in ihrer lebendigen Form je nach dem konkreten Arbeitsprozess für lange Zeit als mehr oder weniger komplizierte Arbeit unterschiedlich zu bewerten sein würde. Unter kapitalistischen Bedingungen waren diese Unterschiede in unterschiedlichem Grade wertbildend und verbunden mit Unterschieden im Wert der Ware Arbeitskraft selbst, das heißt ihren Reproduktionskosten, beziehungsweise ihrem Preis als Lohn des Arbeiters. Und auch in den Ländern des Realsozialismus wurde die Arbeit je nach Qualität und körperlich-geistiger Belastung unterschiedlich entlohnt. Hier, im Osten, leitete die wirtschaftswissenschaftliche Lehrmeinung daraus sogar die Weiterexistenz von Ware-Wert-Beziehungen auch zwischen den volkseigenen Betrieben und die Darstellung des gesellschaftlich notwendigen Arbeitsaufwandes als Wert mittels Währungseinheiten ab. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass Marx an der hier zitierten Stelle nur das Prinzip der Teilhabe und Verteilung in einer sozialistischen Gesellschaft darstellen wollte. Und auch darüber, dass auch in einer solchen Gesellschaft der Einzelne nicht den ganzen „Wertanteil“ seiner Arbeit (Anteil seiner individuellen Arbeit an der verausgabten gesellschaftlichen Gesamtarbeit) erhalten kann, wenn die Gesellschaft beispielsweise akkumulieren, die Masse der im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess gebundenen vergegenständlichten Arbeit vermehren, Arbeitsunfähige miternähren muss etc., war er sich vollständig im Klaren.

Worum es geht: Das Primat der Politik

Was nun den hier beschriebenen Wandel in den gesellschaftlichen Beziehungen betrifft, den die kapitalistische Welt in mehr als einem halben Jahrhundert unbemerkt durchmachte und den Lenin und seine Genossen im Handumdrehen gezielt durchsetzten, so stellt sich heute die Frage, worin sich die beiden konträren Gesellschaftssysteme von West und Ost nach dem Bruch des Abkommens von Bretton Woods durch die USA eigentlich noch unterschieden. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass im Westen ungeachtet der hier beschriebenen objektiven Vergesellschaftung der materiellen Basis, also des Eigentums an den Produktionsmitteln, die weitgehende Handlungsfreiheit der Unternehmer, nun (objektiv) als Agenten der Gesellschaft, erhalten blieb. Erhalten blieb aber auch – weil der ganze Wandel ein unbewusster, nicht gewollter Prozess war – der geistige, juristische und politische Überbau einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, quasi als subjektives Pendant der materiellen Basis. Er, der Überbau, steht daher in einem größer werden Widerspruch zur hier beschriebenen materiellen gesellschaftlichen Grundlage, was diese ganze Gesellschaft destabilisiert und in den Krisen des globalisierten Imperialismus der heutigen Welt in Erscheinung tritt. Im Besonderen ist es der geistige Konservatismus, der im Widerspruch zur objektiv vergesellschafteten ökonomischen Basis steht. Seit Urzeiten schaffen die Menschen ihre Lebensgrundlagen in einem gesellschaftlichen Prozess der Auseinandersetzung mit der Natur und deren Aneignung durch produktive Veränderung, so dass der Einzelne nicht mehr ohne die Allgemeinheit existieren könnte. Über Tausende von Jahren prägte dies im gesellschaftlichen Bewusstsein die Vorstellung, dass das Schicksal des Einzelnen von dem der Allgemeinheit abhängt und ihm insofern untergeordnet ist. Und über Tausende von Jahren, seit der Herausbildung des Privateigentums und des Staates, war das eine – vermeintlich gottgewollte - herrschaftliche Unterordnung. (Immer wieder lesenswert ist in diesem Zusammenhang Friedrich Engels‘ Schrift „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“, an deren Schluss der amerikanische Anthropologe Lewis Henry Morgan folgendermaßen zitiert wird: „Seit dem Eintritt der Zivilisation ist das Wachstum des Reichtums so ungeheuer geworden, seine Formen so verschiedenartig, seine Anwendung so umfassend und seine Verwaltung so geschickt im Interesse der Eigentümer, dass dieser Reichtum, dem Volk gegenüber, eine nicht zu bewältigende Macht geworden ist. Der Menschengeist steht ratlos und gebannt da vor seiner eignen Schöpfung. Aber dennoch wird die Zeit kommen, wo die menschliche Vernunft erstarken wird zur Herrschaft über den Reichtum, wo sie feststellen wird sowohl das Verhältnis des Staats zu dem Eigentum, das er schützt, wie die Grenzen der Rechte der Eigentümer. Die Interessen der Gesellschaft geh‘n den Einzelinteressen absolut vor, und beide müssen in ein gerechtes und harmonisches Verhältnis gebracht werden. …“)  
Erst die französische bürgerliche Revolution brachte mit dem Schlachtruf „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“ ein grundsätzlich anderes, bürgerliches Bewusstsein der Gesellschaft vom Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft zum Durchbruch. Als Bewusstsein einer neuen herrschenden Klasse wurde es - und blieb es dann - das herrschende Bewusstsein der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft, ungeachtet aller späteren, oben beschriebenen Wandlungen der inneren Beziehungen dieser Gesellschaft. Es setzte die Freiheit des Individuums über alles und meinte in erster Linie die unternehmerische Freiheit als Freiheit des Kapitals.
Das Verharren in einem neoliberalen Bewusstseinszustand auch seit den 1970er Jahren – nachdem beispielsweise die deutsche Sozialdemokratie in ihrem Godesberger Programm längst schon einmal einen demokratischen Sozialismus angestrebt hatte - mit der Überzeugung, der Staat müsse sich als Diener der Allgemeinheit in seinem Handeln gefälligst aus der Wirtschaft heraushalten und sich auf die Gewährleistung der Sicherheit gesellschaftlicher Rahmenbedingungen des privaten Wirtschaftens beschränken, hatte zur Folge, dass der Profit, die Verwertung des eingesetzten Kapitals, der allgemeine Sinn und Zweck allen Wirtschaftens blieb – ungeachtet aller objektiven Prozesse der Vergesellschaftung in der Wirtschaft. In dem unbedingten Glauben an den Markt als ökonomischen Regulator, an das „Wirtschaftswachstum“ als Ziel staatlicher Wirtschaftspolitik ist dieses Prinzip sogar zur Staatsraison geworden, allen katastrophalen Erfahrungen mit der Jagd nach Profit durch Spekulation sowie Ruinierung ganzer Volkswirtschaften und der Umwelt zum Trotz. Und es war eine geistige Bankrotterklärung des deutschen Staates, als Herr W. Schäuble, damals noch Innen- und bald darauf Finanzminister, am 10. November 2008, unmittelbar nach Ausbruch der großen Finanzkrise, auf einer „LutherKonferenz: Die Freiheit eines Christenmenschen im Wirtschaftsleben“ erklärte, er habe gar nicht verstanden, was da auf den internationalen Finanzmärkten abläuft, und: „Uns bleibt nichts weiter übrig als weiterzumachen wie bisher – nach der Methode ‚Versuch und Irrtum‘“. Kann der schreiende Widerspruch zwischen gesellschaftlichem Sein der heutigen Gesellschaft, also ihrer vergesellschafteten ökonomischen Basis, und ihrem geistig-kulturellen, politischen und juristischen Überbau prägnanter zum Ausdruck kommen als in solcher Aussage? Was diese zerrissene Gesellschaft des 21. Jahrhunderts mit ihrem Kapitalismus des Wahns zu ihrer Befriedung und Befreiung (als Einsicht in die Notwendigkeit) braucht, ist ein neuer, der ökonomischen Basis entsprechender politischer, juristischer und geistig-kultureller Überbau, vor allem ein europäisches Grundgesetz, das die vergesellschaftete ökonomische Grundlage als solche und die steuernde Rolle der Politik anerkennt, gleichzeitig aber die ökonomische, auch unternehmerische Freiheit des Individuums innerhalb von gesetzten Grenzen (auch für den Umgang mit Geld – Mindesteinkommen, Höchsteinkommen und vieles andere mehr) definiert, die der ganzen Gesellschaft dienlich sind.
Mit der russischen Oktoberrevolution wurde vor hundert Jahren der erste, bewusste und entscheidende Schritt hin zu solch einem neuen „Gesellschaftsvertrag“ getan. Doch der Start fand unter denkbar ungünstigen Bedingungen statt. Darüber waren sich Lenin und die Bolschewiki schon bald im Klaren. Was danach geschah, war die Resultante aller wirkenden Kräfte in der Welt – um einen philosophischen Gedanken von Karl Liebknecht aufzugreifen. Wie immer auch diese Resultante beurteilt werden mag – die russische Revolution vom Oktober 1917 bedeutete einen Bruch in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, mit dem sich das Verhältnis von Ökonomie und Politik in dem Sinne zu verändern begann, dass, zunächst in einem Teil der Welt, die Politik sich die Ökonomie unterordnete und ihr ein gesellschaftliches Ziel gab: Die Befriedigung der Bedürfnisse der Gesellschaft als Ganze. Es war die Befreiung der Ökonomie von dem verselbständigten, desaströsen Prinzip der Kapitalverwertung als Selbstzweck, ihre Unterordnung unter die Vernunft.


2 Kommentare:

  1. Ganz toller Beitrag... eventuell interessiert dich auch folgender Artikel...
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    1. Dank für das Lob! Doch an wen geht er eigentlich? Gruß, Heerke

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