Von
Heerke Hummel
(,Erschienen in: „Das Blättchen“, Nr. 17/2017 (http://das-blaettchen.de/2017/08/ist-china-sozialistisch-40933.html)
Es soll hier das Buch eines hundertjährigen
Kommunisten[i] besprochen werden, der die
Kämpfe des 20. Jahrhunderts nicht nur als Zeitzeuge erlebte, sondern sich als
Mitglied der KPD-Opposition auch an ihnen beteiligte und dennoch seinen
Optimismus, seine Hoffnung auf eine bessere Welt nicht verlor. Mitte Juni
dieses Jahres ist Theodor Bergmann im Alter von 101 Jahren verstorben, wenige
Monate nach Erscheinen seines nun letzten Werks. Der chinesische Weg gehörte zu
den ihn über Jahrzehnte am meisten interessierenden Fragen der Zeitgeschichte.
Unter dem Einfluss von August Thalheimer und Heinrich Brandler hatte T. Bergmann
sich schon früh nicht nur gegen den aufsteigenden Faschismus engagiert, sondern
auch gegen die stalinistische Entwicklung in der Sowjetunion und später gegen
die Diktatur Mao Zedongs und dessen „Kulturrevolution“. Umso mehr begrüßte er
nach dessen Tod die unter Deng Xiaoping eingeleiteten Reformen hin zu „einer
unverwechselbaren chinesischen Strategie“ auf dem Weg zum Sozialismus. Vierzehn
mal fuhr er nach China, meist für mehrere Wochen, besuchte Dörfer, Fabriken
Schulen, Universitäten und Forschungsinstitute, um die Entwicklung im
volkreichsten Land der Erde zu verstehen und nun mit seinem Buch den
zweifelnden Sozialisten und Kommunisten verständlich zu machen – ohne
allerdings diesen chinesischen Weg als „Modell für die Sozialisten der
Industrieländer“ empfehlen zu wollen.
Der Autor malt kein Bild eines Ideals, sondern führt
uns die Veränderung der inneren ökonomischen und politischen Bedingungen in
ihrer historischen Entwicklung als Kampf und Einheit von Gegensätzen, widersprüchlichen
Interessen in ihren spezifischen „Ausdrucksformen proletarischer Demokratie“
vor Augen. Auch wenn er es nicht immer so deutlich formuliert – es geht dabei
um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, von staatlichem Ziel und
Eigeninitiative, von Plan und Markt, von langfristigen Gesamtinteressen der
Gesellschaft und kurzfristigen Eigeninteressen der Individuen, von Produktion
und Verteilung des Produkts. Was Bergmann uns schon mit dem Titel seines Buchs vermitteln
will: China ist auf dem Weg, nicht am Ziel, auch was die Formen sozialistischer
Demokratie betrifft. Für ihn ist das ein bedeutender Unterschied zu den ehemaligen
Reformbemühungen in der Sowjetunion. „Die neue Reformführung in China nach
1978“, heißt es in seinem Buch, „hatte viel weniger Schwierigkeiten mit der
kritischen Aufarbeitung der Irrtümer der Mao-Ära als Chruschtschow mit der
Entstalinisierung.“ Dessen Abrechnung mit der Stalin-Ära habe sich wegen des
Drucks der Parteiführung in einer Geheimrede vollziehen müssen und sich auf den
Personenkult beschränkt. Die Entmaoisierung dagegen habe in einem öffentlichen
Diskussionsprozess im Laufe von drei Jahren stattgefunden und weitere Faktoren
benannt, nicht nur den Personenkult. Und man habe sich zur Mitschuld der Partei
bekannt, weil sie Maos Verhalten nicht
verhinderte. Die KP Chinas sei nicht wie die KPdSU erstarrt, sondern nach Maos
Tod zu öffentlicher Selbstkritik bereit gewesen. Und Gorbatschows Reformversuch
ab 1985 sei „in den ‚Bruderländern‘ und von den ‚Bruderparteien‘ sabotiert“
worden. So sei Michail Gorbatschow von einer erstarrten Bürokratie in der
Sowjetunion isoliert gewesen, von den Regierungen der RGW-Länder und von der
Volksrepublik China.
In der chinesischen Reformpolitik sieht Bergmann „eine
Analogie zu Lenins NÖP“ (Neue Ökonomische Politik). Er widerspricht der oft
gehörten Behauptung, Sozialismus und Marktwirtschaft seien „im Wesen
unvereinbar“. Dafür gebe es nicht nur keine Belege in den Schriften der
marxistischen Klassiker. Man müsste auch Deng Xiaoping, Raul Castro und allen
anderen sozialistischen Reformern ihre sozialistischen Intentionen absprechen
und den Reformen selbst ihren sozialistischen Charakter. Aber davon könne nicht
die Rede sein. Ernstzunehmender als solche Argumente ist T. Bergmanns Hinweis
auf die Ansichten von Bucharin und Klaus Steinitz, der meint, Markt und Plan
gehörten zusammen, ergänzten einander, der Staat kontrolliere in einer
sozialistischen Marktwirtschaft den Markt und beherrsche „nur ‚die Kommandohöhen
der Wirtschaft‘ als Volkseigentum“.
Zu fragen wäre an dieser Stelle zunächst: Welche sind
denn – sachlich, objektiv betrachtet – die Kommandohöhen, und wodurch sollte
dieses Volkseigentum gekennzeichnet sein, sich von der übrigen Wirtschaft
unterscheiden? Haben nicht gerade der Ideenreichtum und die Initiative kleiner
und kleinster Unternehmen durch die Entwicklung der Mikroelektronik während der letzten fünfzig Jahre die
Wirtschaft und die Wirtschaftsweise, sogar die Lebensweise der menschlichen
Gesellschaft revolutioniert? Bergmanns von K. Steinitz übernommener Hinweis auf
die Rolle dieses „öffentlichen Eigentums“ in „Schlüsselbereichen der Wirtschaft
und besonders in der Finanzwirtschaft, in den sozialen Sicherungssystemen und
in der Infrastruktur“ beantwortet die hier gestellten Fragen kaum. Er spricht
von einem „langwierigen Prozess des sozialistischen Aufbaus“ und fragt, „ob die
alten Begriffe unter neuen sozialen Verhältnissen noch adäquat sind“. Schon
Lenin habe bereits 1919 infrage gestellt, ob man nach den siegreichen
sozialistischen Revolutionen noch von Klassenverhältnissen sprechen kann, ob
der Begriff der Klasse noch auf die unterschiedlichen Interessengruppen
anwendbar ist.
Solche allgemeinen Einschätzungen untermauert Bergmann
mit ausführlichen Analysen des technischen, ökonomischen und sozialen
Fortschritts sowie des Aufschwungs im Bildungswesen Chinas. Dennoch bleibt
seine Ansicht, China befinde sich im Aufbau des Sozialismus, nicht unbedingt
schlüssig, auch wo sich der Autor mit gegenteiligen Meinungen auseinandersetzt,
etwa mit Prognosen aus den Jahren 2011 und 2014, „dass in zehn, spätestens 20
Jahren die Arbeiterklasse die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) in einer
Revolution stürzen würde.“
Am Schluss seines Buches fasst B. seine „Vorstellungen
über die weitere Entwicklung“ in 13 Thesen zusammen. Darin plädiert er unter
anderem für eine Trennung von Staat und Partei, wobei er sich auf Deng Xiaoping
und Lenin beruft. Nach dieser Trennung, schreibt er, „kann und muss sich die KP
wieder ihren eigentlichen Aufgaben zuwenden: geistige Führung der Gesellschaft
durch Vorausdenken der neuen gesellschaftlichen Aufgaben, Erziehung ihrer
Funktionäre und Mitglieder zu Vorbildern der Gesellschaft, Kampf gegen die
sozialen Missstände und Fehlentwicklungen, die mit der Öffnung einhergehen. Die
KP darf nicht mehr für ihre Mitglieder Karriereleiter und Privilegienverteiler
sein.“ Dies in absehbarer Zeit ernsthaft zu erwarten, gar zu wollen, verlangt
wahrlich großen Optimismus, was den Mensch als solchen, seine Natur und sein
Verhalten betrifft. Denn mit der Erziehung und mangelnder Selbstkontrolle im
Umgang mit der Macht gibt es genügend schlechte Erfahrungen weltweit. Theodor
Bergmann dürfte sich dessen bewusst gewesen sein. Gleich in seiner ersten These
heißt es, auch eine radikale soziale Revolution löse nicht alle Probleme eines
Landes und schaffe keine endgültige, neue soziale Ordnung. Die Entwicklung des
Sozialismus bedürfe der ständigen Kritik und Reform, was Ausarbeitung und
offene Diskussion von Alternativen voraussetze. Da Geschichte, Kultur, sozialökonomischer
und technologischer Entwicklungsstand in jedem Land spezifisch sind, müssten
auch die Modelle des sozialistischen Aufbaus länderspezifisch sein.
Erkennt man dies an, so bleibt schließlich nur noch
die Frage: Und was soll das entscheidende Kriterium eines sozialistischen Weges
sein? Die Antwort gibt uns Bergmann mit Hinweis auf einen Kommentar auf der
chinesischen Internetseite China.org.de. Der entscheidende Unterschied zwischen
kapitalistischer („sozialer“) und sozialistischer Marktwirtschaft bestehe
darin, „dass bei dieser Planwirtschaft die Bedürfnisse der Gesellschaft und der
Bevölkerung maßgeblich sind, nicht die Rendite des investierten Kapitals oder
die Forderung der Aktionäre nach einem hohen Shareholdervalue. Dass für eine
solche Strategie eine dementsprechend starke, unabhängige politische
Zentralmacht erforderlich ist, bleibt allerdings unausgesprochen. Dennoch liegt
hierin die Erklärung für den Erfolg der Volksrepublik China bei der Gestaltung
einer neuen Gesellschaft, die das Gesicht der Welt im 21. Jahrhundert
maßgeblich bestimmen dürfte.
Ob man das eines Tages Sozialismus nennen wird, ist
nicht wichtig. Von Bedeutung für uns Europäer kann nur sein, ob und wie wir es
schaffen, nicht dem chinesischen Weg etwas entgegen zu setzen, sondern der
europäischen Politik eine gleichermaßen wirkungsvolle Macht über die Ökonomie und
gesellschaftlich sinnvollen Orientierungswillen zu geben entsprechend unseren
geschichtlichen, kulturellen, sozialökonomischen und technologischen
Bedingungen.
[i] Theodor
Bergmann, Der chinesische Weg. Versuch, eine ferne Entwicklung zu verstehen,
VSA Verlag, Hamburg 2017, 140 S., ISBN 978-3-89965-744-9
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