Von
Heerke Hummel
(Erschienen in: „Das Blättchen, Nr. 15/2017 - http://das-blaettchen.de/2017/07/gruener-kapitalismus-40661.html)
Das Buch „Auf dem Weg zum grünen Kapitalismus?“[i] von Hendrik Sander ist die
gedruckte Version einer an der Universität Kassel verteidigten Dissertation.
Entsprechend theoretisch anspruchsvoll ist sein Inhalt. Ausgangspunkt der
Analyse ist die 2007/08 ausgebrochene Krise der Weltwirtschaft, die sich, so
der Autor, zu einer multiplen Krise der Weltgesellschaft zugespitzt hat. Dabei
interessieren ihn besonders die Entwürfe eines Green New Deal mit ihren
Vorschlägen für eine forcierte ökologische Modernisierung von Wirtschaft und
Gesellschaft im Interesse der Gestaltung einer neuen, zukunftsfähigen
Gesellschaftsform. Ein solcher grüner
Kapitalismus könnte zwar, schreibt Sander, die Ursachen der kapitalistischen
Krisenprozesse nicht lösen, aber der Bearbeitung der gesellschaftlichen
Widersprüche eine relativ stabile Bewegungsform geben. Und um die Bedeutung
eines solchen Szenarios einschätzen zu können, sei es notwendig, das Verhältnis
von Gesellschaft und Natur auf einer theoretischen Ebene zu bestimmen. Dies ist
Gegenstand des ganzen ersten Kapitels. Dabei geht der Autor der Frage nach, ob
sich in den Auseinandersetzungen um die Überwindung der multiplen Krise
gesellschaftliche Veränderungen vollziehen beziehungsweise Strategien
vorangetrieben werden, die auf eine tiefgreifende ökologische Modernisierung
der kapitalistischen Gesellschaft zielen, und ob sich dadurch ein grüner
Kapitalismus als neue historische Formation durchsetzen könnte.
Der Analyse der theoretischen Perspektive schließt
sich als „Zeitdiagnose“ die Untersuchung der Entwicklung des Kapitalismus in
den letzten Jahrzehnten an. Für Letztere ist die Formierung des Neoliberalismus
kennzeichnend, deren ökonomische Prozesse beleuchtet werden. Hier hätte sich
nach Ansicht des Verfassers angeboten, tiefer auf die Veränderungen im
Weltfinanzsystem einzugehen, die mit der Beendigung der Golddeckung des
US-Dollars im Jahre 1971 in Zusammenhang standen. Denn diese Maßnahme war
einerseits als Rettungsaktion der USA, um den Abfluss der Goldreserven der USA
im Umfang von mehr als 8.000 t dieses Edelmetalls zu stoppen, selbst Ausdruck einer
tiefen Krise. Andererseits ging dadurch ein (zumindest relativ) festes Maß der
Werte verloren, und die Risikobereitschaft bei Geschäften mit sogenannten
Finanzprodukten konnte sich weiter erhöhen, weil durch die weitgehende
Abkopplung der Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft finanzielle Verluste
nicht unmittelbar sachliche Besitzverluste der Entscheidungsträger bedeuten. Eine
von zahlreichen tatsächlichen Konsequenzen war die Bankenrettung mit
Billionen-Beträgen aus staatlichen Kassen nach 2008. Sie stellte ihrem Wesen
nach eine Vergesellschaftung vermeintlich privater Schulden dar. Kann unter
solchen Umständen noch davon gesprochen werden, dass die Entscheidungen von
Bankern und Managern in Industrie und Kapitalgesellschaften aller Art, die Finanz-
und Verteilungsverhältnisse betreffend, private Angelegenheiten berühren? Ist
also die heutige Gesellschaft mit dem Begriff Kapitalismus überhaupt noch
richtig definiert? Und ist sie nicht durch einen extrem ausgeprägten
Widerspruch zwischen ihrem objektiven Sein und ihrem Bewusstsein von der
eigenen Verfasstheit charakterisiert, zwischen ihrer weitestgehend
vergesellschafteten materiellen, ökonomischen Basis und ihrem
geistig-politisch-juristischen Überbau? Solche Fragen stellten sich dem
Verfasser bei der Lektüre des Buches aus politökonomischer Sicht. Vor nun schon
einhundert Jahren immerhin sprach W. I. Lenin bereits von Imperialismus und
charakterisierte ihn treffend als parasitären, faulenden Kapitalismus. Daraus
ist in den letzten Jahrzehnten eine Gesellschaft des Chaos‘ und des Wahnsinns in
des Wortes direkter Bedeutung geworden. Denn was – etwa in ihrem Finanzsystem –
abläuft, von Menschen praktiziert und mit Nobelpreisen dekoriert wurde,
entbehrt oft jeder Vernunft und wird zugegebenermaßen auch von Eliten in
Wirtschaft und Politik weder verstanden noch beherrscht. W. Schäuble sprach öffentlich
von „weitermachen wie bisher nach der Methode Versuch und Irrtum“.
Von besonderer, zunehmender Aktualität sind Sanders
Ausführungen zur Postdemokratie, also
zu demokratischen Substanzverlusten und Autoritarisierung, ohne dass der
formale Rahmen der parlamentarischen Demokratie verlassen wird. Dem muss es
durchaus nicht widersprechen, wenn gleichzeitig festgestellt wird, „dass auch
in den subalternen Klassen eine breite Zustimmung zur imperialen Lebensweise
fortbesteht und für die Alltagspraxis plausible Alternativen fehlen.“ Die
Normalität der vorherrschenden Naturverhältnisse (Verhältnisse der Gesellschaft
zur Natur) beeinflusse die Krisenwahrnehmung und lasse die Dramatik der
ökologischen Krise kaum ins Alltagsbewusstsein vordringen, meint Hendrik Sander.
Was aber ist oder wäre Grüner Kapitalismus? „Der Kern
einer solchen Formation würde darin liegen, dass der ‚Antagonismus zwischen den
Bedürfnissen der erweiterten Kapitalakkumulation (…) und den Bedürfnissen
unseres kollektiven Überlebens in relativ stabilen öko-sozialen Systemen (…)
nicht gelöst, sondern zur Triebfeder eines neuen, grünen Kapitalismus gemacht
(wird)‘“, schreibt Sander, selbst andere Autoren zitierend. Die ökologische
Modernisierung würde da zum zentralen Vergesellschaftungsprinzip und zum
Entwicklungsmotor eines ganzen historischen Blocks werden. Hier mag der Leser
fragen: Hat nicht Ähnliches schon immer für die Wirtschaft und das Wirtschaften
der Menschen gegolten, die sich stets den natürlichen Bedingungen (in des Wortes
doppelter Bedeutung) und den technischen Errungenschaften anpassen mussten?
Weshalb also nun „grüner“ Kapitalismus, vielleicht gar neben oder in einem
„digitalen“?
Nach ausführlichen Betrachtungen zur deutschen
Energiepolitik zieht H. Sander „valide Schlussfolgerungen“, ob es zu einer
tiefgreifenden ökologischen Modernisierung der deutschen Stromversorgung kommt
und ob dieser Prozess als Keimform eines grünen Kapitalismus angesehen werden
kann und als Muster, wie ein gesellschaftlicher Weg zu einer solchen
Produktions- und Lebensweise aussehen könnte. Dabei zieht er die Bilanz, „dass
keine durchsetzungsfähigen Akteure oder Staatsapparate auszumachen sind, die
Strategien zur Ökologisierung der Energieversorgung wirksam vorangebracht
haben.“ Dennoch schreite der sukzessive ökologische Umbau der Stromversorgung
durchaus voran, wenn auch in gebremster, widersprüchlicher Form. Mit der
Bemerkung, die traditionellen grünen Akteure seien durch die Spitzen der
Exekutive ihrer Initiative und ihrer politischen Projekte beraubt worden und
verlören sukzessive die Kontrolle über die erneuerbaren Energien, spricht er
der politischen grünen Bewegung quasi ihre Daseinsberechtigung ab. Sander
spricht von einem Prozess ökologischer Modernisierung, der die Keimform eines grünen
Kapitalismus hervorbringen könnte, aber das Muster einer passiven Revolution
erkennen lasse. Dieses Schema sei dadurch gekennzeichnet, dass kein Block
gesellschaftlicher Kräfte willens oder in der Lage ist, die Etablierung einer
neuen Produktions- und Lebensweise politisch anzuführen. Aber es vollziehe sich
eine inkrementelle Transformation der Naturverhältnisse in Richtung eines
grünen Kapitalismus, die von den dominanten Kräften des Staates bestimmt werde.
Nach seinem, Sanders, Verständnis sollte eine
kritische Wissenschaft im Sinne von Gramscis Philosophie der Praxis als Orientierung für ein politisches Handeln
dienen, das auf eine umfassende gesellschaftliche Emanzipation gerichtet ist.
Das Ziel solcher Veränderungen würde in einer (nach seinen Worten
sozialistischen) Gesellschaft liegen, „in der die Menschen ihre gemeinsamen
Lebensbedingungen kollektiv gestalten können, um tatsächlich die strukturellen
Ursachen der multiplen Krise zu lösen und ein
gutes Leben für alle zu ermöglichen.“ Unter solchen Bedingungen würde
sich auch die Chance eröffnen, die Beherrschung der Natur (im Sinne ihrer
Vergewaltigung) auf dem Wege einer Demokratisierung der Naturverhältnisse
abzubauen. Denn es komme darauf an, überhaupt erst „Raum für einen
gesellschaftlichen Lern- und Reflektionsprozess“ zu schaffen, um weniger
herrschaftlich verfasste Formen der Naturaneignung zu erproben.
Alles in allem hat H. Sander ein öffentliches
Diskussionsangebot für Richtungsentscheidungen vorgelegt, das gerade in diesem
Superwahljahr auf ein breites, parteiübergreifendes Interesse stoßen dürfte.
[i] Hendrik
Sander, Auf dem Weg zum Grünen Kapitalismus? Die Energiewende nach Fukushima,
BERTZ+FISCHER GbR, Berlin 2016, ISBN 978-3-86505-801-0, 322 S.
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