Montag, 4. Dezember 2017

Abstrakte Arbeit - nicht messbar, aber verhandelbar!

Von Heerke Hummel

Der hier (https://www.wirtschaftstheorie-forum.de/wom/?p=11#comment-369) wiedergegebene Disput über Wesen und Messbarkeit der abstrakten Arbeit als Wert bildendes Moment der Produktion von Waren hätte vor mehr als 50 Jahren an der Wiwi-Fak der Humboldt-Universität Berlin geführt worden sein können. Im Zusammenhang mit den ökonomischen Reformplänen der Ulbricht-Administration im Rahmen der Theorie einer „sozialistischen Warenproduktion“ sollte erforscht werden, wie die abstrakte Arbeit gemessen und erfasst werden kann, um sie zur Grundlage einer leistungsgerechten und leistungsstimulierenden Entlohnung sowie volkswirtschaftlich effektiverer Preisbildung unter den Bedingungen eines sozialistischen Planungssystems zu machen. Ich selbst stellte als Wissenschaftlicher Assistent arbeitswissenschaftliche Untersuchungen im Lausitzer Braunkohlenrevier an. Dabei kam ich zu dem Ergebnis, dass die „Verausgabung von Hirn, Muskel und Nerv“ als Leistung von abstrakter gesellschaftlicher Arbeit nicht messbar ist und auch nicht Grundlage oder Kriterium der tatsächlichen Entlohnung der Kohlekumpel war. Auch das Tarifsystem spielte nur eine formale, untergeordnete Rolle. Entscheidend war, so stellte ich fest: Die realen, gezahlten Löhne und Gehälter mussten so hoch und so gestaffelt sein (bzw. waren es), dass die Werktätigen materiell an der Verrichtung ihrer konkreten Arbeitsaufgabe unter diesen bestimmten, notwendigen Arbeitsbedingungen interessiert waren. Zum Beispiel wurden sogar Meister – der schlechteren Vergütung von Meistern gegenüber sogenannten Häuern wegen -  in den betrieblichen Unterlagen nicht als Meister, sondern als Häuer geführt. Und ich zog daraus die Schlussfolgerung, dass die materielle Interessiertheit der Werktätigen das entscheidende Kriterium leistungsgerechter Entlohnung ist und die Herausbildung eines dementsprechenden Lohnsystems einen im Wesentlichen spontanen, nicht a priori berechneten Prozess darstellt. Nicht eine berechnete Leistung (Verausgabung von Hirn, Muskel und Nerv) bestimmt den Lohn, sondern der volkswirtschaftlich sinnvoll stimulierende Lohn drückt die Leistung, das geschaffene Wertprodukt des Werktätigen aus.

Stehen diese Schlussfolgerungen im Widerspruch zu den Erkenntnissen von Karl Marx? Zunächst natürlich nicht, denn seine ganze Analyse betrifft eine auf Privateigentum und spontaner Regulierung beruhende Produktionsweise. Diese Umstände erfordern ja gerade, dass sich das ganz allgemeine, von Marx formulierte „Gesetz der Ökonomie der Zeit“ in der bürgerlichen Gesellschaft über das Wertgesetz durchsetzt und dass im Warenaustausch der Wert als in der Ware vergegenständlichte abstrakte Arbeit im Gebrauchswert des Äquivalents erscheint.
Unter realsozialistischen Bedingungen war das nicht der Fall – ganz im Einklang mit Marx‘  Vorstellungen von der „neuen Gesellschaft“. Der prognostizierte in seiner „Kritik des Gothaer Programms“, in dieser auf der Basis von Gemeineigentum an den Produktionsmitteln nach einem gesellschaftlichen Plan wirtschaftenden, neuen Gesellschaft würde der einzelne Produzent von der Gesellschaft einen Schein bekommen, dass er soundso viel Arbeit geleistet hat. Damit könnten aus dem gesellschaftlichen Vorrat so viel Produkte bezogen werden wie gleich viel Arbeit kosten. Hier unterscheidet Marx nicht zwischen konkreter und abstrakter, hier ist konkrete gleich abstrakter Arbeit gedacht. Sie ist von vornherein, vom Plan her, als Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit anerkannt. Dies war sie im Realsozialismus zwar auch, doch sie musste der bestehenden Unterschiede und der notwendigen materiellen Stimulierung wegen auf abstrakte, gesellschaftliche Durchschnittsarbeit, reduziert werden. Letzteres war für Marx nicht vorhersehbar. Die Reduktion vollzog sich aber nicht – wie in der Marxschen Analyse des Warenaustauschs dargestellt – nach der Produktion auf dem Warenmarkt, sondern vor Beginn der Produktion im realen Lohnvereinbarungsprozess.

Was aber war der Arbeitslohn im Realsozialismus seinem Wesen nach? War er – wie es der formalen Ähnlichkeiten wegen scheinen könnte – wie in der kapitalistischen Welt Wertäquivalent bzw. Preis der Ware Arbeitskraft? Dann hätte der Werktätige seine Arbeitskraft verkaufen gemusst haben. In solchem Fall: an wen aber? An „die Gesellschaft“, deren Mitglied, deren Teil er selber war? Nein, der Lohn im Realsozialismus war eine Bescheinigung über Arbeit, die für die Gesellschaft geleistet wurde entsprechend dem „Gesetz der Verteilung nach der Leistung“ (Leistungsprinzip), und entsprach insofern den Erwartungen von Karl Marx. Doch das Maß war nicht die Zeit der Verausgabung von konkreter Arbeit, sondern die Menge geleisteter abstrakter Arbeit, wobei die Reduktion konkreter auf gesellschaftlich durchschnittliche, abstrakte Arbeit nicht auf Messungen oder Berechnungen beruhte, sondern durch vertragliche Vereinbarungen im Rahmen gesetzlicher Bestimmungen, Vorschriften und Tarifsysteme zustande kam.
Und heute? Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts ist die hier geführte Diskussion über  die Interpretation des von Marx entwickelten Wertbegriffs insofern gegenstandslos, als sich die von Marx analysierten gesellschaftlichen Bedingungen grundlegend verändert haben, gar nicht mehr existieren. Denn was Lenin vor genau hundert Jahren mit einem revolutionären Akt gezielt initiierte – die Vergesellschaftung des Eigentums an Produktionsmitteln und der Produktion -, das vollzog sich in der westlichen Welt im Verlauf von gut einem halben Jahrhundert – und auch wesentlich durch den im Osten existierenden Sozialismus beeinflusst - als spontaner Prozess der Selbsttransformation schleichend, bis heute so gut wie nicht bemerkt beziehungsweise nicht verstanden hinter dem Rücken der Gesellschaft. Produktion, Verteilung und Austausch des gesellschaftlichen Reichtums, einschließlich der damit verbundenen Risiken, haben die Grenzen des Privaten weit überschritten. Das zentrale Element in diesem gesellschaftlichen Prozess des Wirtschaftens, das Geld, hat seinen privaten Charakter mit der Aufhebung des Goldstandards durch die Kündigung des Abkommens von Bretton Woods im Jahre 1971 endgültig verloren. Denn seitdem ist es nichts weiter als ein Arbeitszertifikat, eine Bescheinigung der Gesellschaft für geleistete gesellschaftliche Arbeit und entsprechenden Anspruch auf Teilhabe am Reichtum der Gesellschaft. Es bescheinigt bzw. ist Information über Anspruch auf Produkte beliebiger konkreter Arbeit der Gesellschaft im Maß der abstrakten Arbeit (dargestellt im Geld beziehungsweise im Preis der Ware). Direkt gemessen wird diese abstrakte Arbeit nicht. Sie wird vereinbart und mittels (von Notenbanken kreierten) Währungseinheiten wie Dollar oder Euro ausgedrückt im Preis (als Lohn, Vergütung) der lebendigen konkreten Arbeit,  deren Maß die Zeit ihrer Verausgabung ist. Es handelt sich um einen Prozess der sozialen Auseinandersetzung, der weitgehend spontan, wenn auch nicht unorganisiert abläuft. Und der Unternehmer ist in diesem Prozess zum gesellschaftlichen Agenten geworden.
Wir sehen: Der Westen kam 1971 unwissentlich da an, wo der Osten 1917 bewusst begonnen hatte. Doch der Westen bewahrte immer die unternehmerische Eigenverantwortung und gewährleistete so die ihm eigene hohe Flexibilität in der Wirtschaft. Um diese ging es dann später bei den Reformen des Realsozialismus, die allgemein als dessen Zusammenbruch wahrgenommen, besser: missverstanden wurden.

Und worin besteht heute das Problem? Es besteht vor allem darin, dass in dieser neuen, heutigen Gesellschaft, in der das Geld nur noch eine Information darstellt, der Umgang mit diesem Medium einer gesellschaftlichen Regelung (und Kontrolle) bedarf. Während die unternehmerische Eigenverantwortung im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess in dessen sachlichen Strukturen und Aspekten bereits einer weitest gehenden Regulierung und Kontrolle durch Gesetze, Vorschriften und Bestimmungen unterliegt, ist die Freiheit im Umgang mit dem Geld, diesem ganz allgemeinen, abstrakten Inbegriff von Reichtum, der in seiner Abstraktheit keinerlei Lebensgrundlage mehr darstellt, fast grenzenlos. In diesem Widerspruch liegen die Wurzeln des seit dem Ende des 20. Jahrhunderts zu beobachtenden, geradezu von Erscheinungen des Wahnsinns geprägten ökonomischen, ökologischen und sozialen Desasters der Weltgesellschaft.
Worauf kommt es also an?  Zu allererst auf die Gewährleistung eines Primats der Politik über die Ökonomie! Denn die notwendige, sicherlich schrittweise Einschränkung der Freiheit im Umgang mit dem Geld und den Finanzen im weitesten Sinne – und seien diese Eingrenzungen noch so gering – wird immer ein politischer, gesetzgeberischer Akt sein. Dafür gilt es parlamentarische Mehrheiten zu organisieren.
(Siehe auch: H. Hummel, Als das Ende des Kapitalismus begann –
https://sites.google.com/site/heerkehummel/artikel/als-das-ende-des-kapitalismus-begann)

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