Von
Heerke Hummel
(Erschienen in: „Das Blättchen“ – www.das-blaettchen.de -, Nr.9/2014)
„… na endlich“, möchte man hinzufügen, „nach einem
Vierteljahrhundert!“ Sie, das sind Generaldirektoren von Industriekombinaten
und andere hochrangige Wirtschaftsfunktionäre
der DDR. Auf einer Tagung mit dem Titel „Krise und Utopie. Was heute aus
der DDR-Planwirtschaft gelernt werden kann“ referierten sie im September 2012
über ihre Arbeits- und Lebenserfahrungen. Ihrer historischen Bedeutung wegen –
denn es geht darum, sowohl feindselige als auch ostalgische Bilder von der
Wirtschaft des ostdeutschen Staates zu korrigieren – wurden die Beiträge in
einem Buch[i]
zusammengestellt und so der Nachwelt, zur Information aus erster Hand,
erhalten.
Im „Anhang“ kommt die Kulturwissenschaftlerin Isolde
Dietrich auf die Frage „Woher rührt das Schweigen der ostdeutschen
Industriekader?“ zu sprechen. Nach Erwägung einer Vielzahl möglicher Antworten
sowie Betrachtung zahlreicher Schicksale ist sie zu dem Schluss gekommen, „dass
die industrielle Elite der DDR – anders als die politische und militärische –
vielfach wirklich keine Zeit hatte, sich ans Aufschreiben des eigenen Lebens zu
setzen.“ Denn die allermeisten Industriekader haben, der Autorin zufolge,
erfolgreiche Nachwende-Karrieren gestartet. Über die Hälfte von ihnen, ist zu
erfahren, hatte zehn Jahre nach der Wende immer noch oder wieder eine
Führungsposition mit hoher Verantwortung inne, „wo hohe Professionalität und
Pragmatismus, oft auch ihr spezielles Sozialkapital gefragt waren.“
Harry Nick, ehemals Professor für Politische
Ökonomie am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, hält dem
häufig zu hörenden Klischee, die Leiter volkseigener Betriebe seien keine
Unternehmer, sondern „von der SED dirigierte Parteisoldaten, Ausführende einer
für Planwirtschaften verbindlichen zentralistischen Wirtschaftssteuerung von
oben nach unten“ gewesen, entgegen: „Die fortschreitende Entfremdung zwischen
dem Produkt und den Produzenten, Eigentümern und Managern gehört zur Geschichte
des Kapitalismus.“ Zu den wichtigsten Eigenschaften und Fähigkeiten der
Generaldirektoren und Leiter großer volkseigener Betriebe gehörte – ganz im
Sinne des wohl bedeutendsten deutschen Unternehmenstheoretikers J. A.
Schumpeter - nach seinen, H. Nicks,
Erfahrungen eine starke Produktverbundenheit. Sie resultierte aus ihrem
Berufsinteresse und ihrer Ausbildung, was sie zu profunden Kennern ihrer
Erzeugnisse und Herstellungsverfahren gemacht habe.
Die Generaldirektoren selbst belegen dies mit ihren
Beiträgen eindrucksvoll. Vehement widersprechen sie der Behauptung, die
DDR-Wirtschaft sei ein großer Schrotthaufen gewesen. Dabei verschließen sie
durchaus nicht die Augen vor so manchem Problem und zahlreichen Schwierigkeiten
sowie Schwächen des „Realsozialismus“ ostdeutscher Prägung. Doch sie haben eben
gleichzeitig auch die dafür verantwortlichen Ursachen mit im Blick, die nicht
immer in der DDR und deren Kunst zu wirtschaften lagen. Vornehmlich gehörte
dazu die Spaltung Deutschlands, in deren Folge die DDR so gut wie keine
Schwerindustrie besaß, aber von der entsprechenden Basis im Westen
abgeschnitten war. Ferner konnte sie nach dem zweiten Weltkrieg beim
ökonomischen Wiederaufbau nicht wie die Bundesrepublik auf umfangreiche Mittel
aus dem Marshallplan der USA zurückgreifen, sondern musste umgekehrt lange
Jahre allein die deutschen Kriegsreparationen für die Sowjetunion aufbringen.
Ihr stand außerdem nicht der Weltmarkt für Technologieimporte offen, denn sie
war Opfer des Kalten Krieges zwischen den Supermächten und eines unerbittlichen
Wirtschaftskrieges, auch seitens der BRD, der zum Ziel hatte, den ökonomischen
Aufschwung der DDR mit allen Mitteln zu behindern. Das wahre deutsche
Wirtschaftswunder, schreibt Peter Grabley, seinerzeit Staatssekretär und
Stellvertretender Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, ereignete sich
in der DDR. Mit dieser Ansicht steht er durchaus nicht allein. In den 1960er
und 70er Jahren war sie unter „aufgeklärten“, weniger feindselig gesinnten
Bundesbürgern durchaus nicht selten anzutreffen; auch wenn man das heute kaum
noch glauben mag.
Dennoch: Ist es nicht zu hoch gestochen, und wird
das Buch seinem Untertitel gerecht „Was heute aus der DDR-Wirtschaft zu lernen
ist“? Die Generaldirektoren selbst geben darauf keine direkte Antwort. Aber in
ihren Ausführungen finden wir durchaus bestätigt, worauf Harry Nick als etwas
dem heutigen Kapitaleigner Verlorengegangenes hinweist: Die auf das sachliche
Produkt gerichtete Denkweise. „Für die Wirtschaftsleiter in der DDR“, schreibt
er, „war die Fokussierung auf die technische Entwicklung … die verlässlichste
Orientierung für die interne Leitung und Planung der betrieblichen
Entwicklung“. Und bei Heiner Rubarth, zuletzt Generaldirektor des VEB Kombinat
Elektromaschinenbau in Dresden, lesen wir dazu ergänzend: „Für die meisten
Wirtschaftsfunktionäre in der DDR galt der Leitspruch: ‚Wir arbeiten zum Wohle
der Menschen!‘ Und das hatten wir wirklich verinnerlicht.“ Was den Menschen in
der DDR geboten werden konnte, seien zwei wesentliche Dinge gewesen: eine
vernünftige Lebensaufgabe und ein sicheres sowie auskömmliches Leben.
Dieses im Vergleich mit dem Westen Deutschlands
gegensätzliche Denken bewirkte auch eine andere Arbeitsweise der
Generaldirektoren im Osten, wo „ein Kombinat nie nur ein wirtschaftliches
Unternehmen darstellte, sondern … immer auch eine soziale Einheit bildete.“ Zu erkennen ist das bei den meisten Autoren.
Herbert Richter belegt das am Beispiel „seines“ Betriebes, des Gaskombinats
Schwarze Pumpe. „Während das Kombinat in der DDR aus sich heraus dafür sorgte,
die Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten zu gestalten“, schreibt
er, „sparen sich die Betriebe heute die Ausgaben für diese Bereiche. Zumeist
werden Kultur und Soziales ohnehin durch Steuergelder finanziert oder über
freie Trägerschaften und auf Privatinitiative hin realisiert.“ Die Betriebe,
meint er, vergäben sich damit die Chance, ihre Belegschaft durch konkrete
eigene Maßnahmen zusammenzuschweißen und an die Firma zu binden.
Kann das aber in der heutigen Welt mit ihrer
außerordentlichen Dynamik über Ländergrenzen hinweg überhaupt noch ein wesentliches
Ziel sein? Und ganz allgemein ist zu fragen: Was können diese Erfahrungen,
diese Lehren aus der DDR-Wirtschaft heute tatsächlich noch bewirken? Die DDR
war nicht der Nabel der Welt. Geht es, was die Zukunft betrifft, heute nicht um
etwas viel Allgemeineres – die Wiedererlangung des Primats der Politik über die
Wirtschaft? Darum, dem ökonomisch
Notwendigen mit Hilfe der Politik optimale Bedingungen der Durchsetzung zu
schaffen? In dieser Hinsicht könnte vielleicht von China gelernt werden, das
sich bereits Ende der 1970er Jahre bei Beibehaltung einer starken politischen
Zentralmacht zu reformieren begann; wenn denn der dortige Weg sich als dauerhaft
stabil und erfolgreich erwiese. Und dann müsste wohl die schon in der unmittelbaren
Vorwendezeit Osteuropas von Gorbatschow in Berlin formulierte Lehre gezogen
werden: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Auch in Brüssel und den
Hauptstädten Europas sollte man sich das ins Stammbuch schreiben. In Washington
ist man sicherlich sowieso beratungsresistent.
Neues Denken, in den 1980er Jahren auch in der
Sowjetunion gefordert und praktiziert, war nicht nur eine innenpolitische
Losung. Diese Aufforderung war, im Interesse der ganzen Menschheit, ebenso an
die Weltgemeinschaft gerichtet und zielte auf ganzheitliches Denken ab. Die
Welt als ganze betrachten und die Interessen aller im Auge haben!
Absicht der damals angestrebten Dezentralisierung
ökonomischer Macht- und Entscheidungsstrukturen konnte nicht eine Rolle rückwärts in die Verhältnisse des illusionären
Finanzkapitalismus sein. Im Gegenteil: Der Westen war - und ist noch - ebenso vor
die Aufgabe gestellt, sich weiter zu reformieren, indem der Staat als
Interessenvertreter der ganzen Gesellschaft das Finanzsystem so gestaltet, dass
mit seiner Hilfe ein ökonomisch und ökologisch stabiler Reproduktionsprozess
der Weltgesellschaft angesteuert wird.
Das vorliegende Buch dürfte zum Nachdenken und zur
weiterführenden Diskussion anregen und besonders für all jene von Bedeutung
sein, die die DDR nie selbst erlebten. Auf jeden Fall kann es einen Beitrag
dazu leisten, dass der Nachwelt ein halbwegs realistisches Bild von der
Ökonomik des ostdeutschen Teilstaates der Nachkriegsgeschichte vermittelt wird.
[i] Die
Kombinatsdirektoren. Jetzt reden wir! Was heute aus der DDR-Wirtschaft zu
lernen ist, herausgegeben von Rohnstock Biografien, edition berolina, Berlin
2014, 221 S., 9,99 €
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