Montag, 29. Dezember 2014

Der Revolution bedarf es nicht mehr. Zur Selbsttransformation der bürgerlichen Gesellschaft im 20. Jahrhundert



Von Heerke Hummel
(Erschienen in: „Sozialismus“, Nr. 12/2014)


Der an der Berliner Universität der Künste lehrende koreanische Philosoph Byung-Chul Han ging unlängst in der Süddeutschen Zeitung (SZ v. 02.09. 2014) der Frage nach, warum das neoliberale Herrschaftssystem so stabil ist, kaum Widerstand erfährt, warum heute keine Revolution mehr möglich ist, obwohl die Schere zwischen Reich und Arm immer größer wird. Seine Erklärung lautet: Das neoliberale Herrschaftssystem ist ganz anders strukturiert (als das der ‚Disziplinar- und Industriegesellschaft‘ – H. H.). Hier ist die systemerhaltende Macht nicht mehr repressiv, sondern seduktiv, das heißt, verführend. Sie ist nicht mehr so sichtbar wie in dem disziplinarischen Regime. Es gibt kein konkretes Gegenüber mehr, keinen Feind, der die Freiheit unterdrückt und gegen den ein Widerstand möglich wäre.“ Der Neoliberalismus forme aus dem unterdrückten Arbeiter einen freien Unternehmer, einen Unternehmer seiner selbst. Jeder sei heute ein selbstausbeutender Arbeiter seines eigenen Unternehmers. Jeder sei Herr und Knecht in einer Person. Auch der Klassenkampf verwandle sich in einen inneren Kampf mit sich selbst. Wer heute scheitert, beschuldige sich selbst und schäme sich. Man problematisiere sich selbst statt der Gesellschaft. Heute, stellt Byung-Chul Han fest, „gibt es keine kooperierende, vernetzte Multitude, die sich zu einer globalen Protest- und Revolutionsmasse erheben würde (wie von Antonio Negri erwartet – H. H.). Vielmehr macht die Solitude des für sich isolierten, vereinzelten Selbst-Unternehmers die gegenwärtige Produktionsweise aus.“
Wenigstens in Bezug auf die Tendenz der Entwicklung in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist einer solchen Beobachtung der Erscheinungen an der Oberfläche der Gesellschaft durchaus zuzustimmen. Aber Han meint nun, man könne diesen Prozess nicht „marxistisch erklären“. Im Neoliberalismus fände nicht einmal die „berühmte ‚Entfremdung‘ von der Arbeit“ statt. Denn heute stürzten wir uns mit Euphorie in die Arbeit bis zum Burn-out. Die erste Stufe des Burn-out-Syndroms sei eben die Euphorie. Burn-out und Revolution schlössen sich aus, und so sei es ein Irrtum zu glauben, „dass die Multitude das parasitäre Empire abwirft und eine kommunistische Gesellschaft installiert.“ Und auf die Frage, wie es heute mit dem Kommunismus stehe, antwortet er: „Überall wird Sharing und Community beschworen. Die Sharing-Ökonomie soll die Ökonomie des Eigentums und des Besitzes ablösen.“ Doch sei es ein Irrtum zu glauben, dass die Sharing-Ökonomie, wie Jeremy Rifkin in seinem jüngsten Buch "Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft" behauptet, ein Ende des Kapitalismus, eine globale, gemeinschaftlich orientierte Gesellschaft einläutet. Im Gegenteil, die Sharing-Ökonomie führe letzten Endes zu einer Totalkommerzialisierung des Lebens. Und wer kein Geld besitzt, habe eben auch keinen Zugang zum Sharing. Es herrsche die harte Logik des Kapitalismus. Bei diesem schönen "Teilen" gebe paradoxerweise niemand etwas freiwillig ab. Und: „Der Kapitalismus vollendet sich in dem Moment, in dem er den Kommunismus als Ware verkauft. Der Kommunismus als Ware, das ist das Ende der Revolution.“
Lässt sich die Geschichte, wie sie sich seit gut hundert Jahren vollzogen hat, nicht aber auch anders, weniger resignierend, quasi aus einer anderen Perspektive betrachten?
Karl Marx war kein Moralist. Ihm ging es darum, wesentliche, notwendige allgemeine Zusammenhänge im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess aufzudecken. Es waren nicht die konkreten Erscheinungsformen künftiger gesellschaftlicher Zustände, die ihn interessierten, sondern deren Wesen. Die innere Logik der Beziehungen zwischen den Menschen war Gegenstand seines Denkens. In Bezug auf den hier besprochenen Gegenstand unterschieden Marx und Engels zunächst zwischen der materiellen, ökonomischen Basis der Gesellschaft einerseits und dem ihr entsprechenden politischen, geistig-kulturellen und juristischen Überbau andererseits, wozu vor allem der hier angesprochene staatliche Machtapparat als Herrschaftsinstrument der Kapitalistenklasse gehört. Von der ökonomischen Basis heißt es im Kommunistischen Manifest: „Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt …“  
Wie aktuell! Doch sollte sich auch herausstellen, dass die Bourgeoisie ihre Staatsmacht sowohl  zur Systemsicherung gegen die Arbeiterklasse als auch im Kampf gegen ausländische Konkurrenz einsetzte. Dass der Erste Weltkrieg als bis dato größte gesellschaftliche Katastrophe noch fast sieben Jahrzehnte auf sich warten ließ, macht deutlich, wie wenig solche Entwicklungen absehbar sein mussten, als die obigen Sätze formuliert wurden. Ebenso wenig absehbar war zu jener Zeit, wie sich die Rolle des Proletariats in der gesellschaftlichen Reproduktion und im Prozess der Produktivkräfteentwicklung verändern würde. Dem Analytiker Marx erschien das Proletariat als die Hauptproduktivkraft der Gesellschaft und damit als Zukunftsträgerin. Bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts, so müssen wir heute einschätzen, hatte diese Rolle aber eine ganz neu entstandene gesellschaftliche Kraft übernommen: die wissenschaftlich-technische Intelligenz. Sie war zum Motor des ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels geworden. Eins der folgenreichsten Versäumnisse der Kommunistischen Bewegung, des „Marxismus“ im ganzen zwanzigsten Jahrhundert dürfte gewesen sein, diesen Wandel nicht erkannt beziehungsweise theoretisch verarbeitet zu haben.
Diese neue Kraft war nicht revolutionär; jedenfalls nicht im umstürzlerischen Sinne. Dennoch revolutionierte, wandelte sie die Gesellschaft um, dank ihrer wissenschaftlich-technischen Leistungen von größter ökonomischer Bedeutung. Sie nahm dem Industrieproletariat den revolutionären Wind aus den Segeln, indem sie zur Verbesserung seiner Lebenslage und zur Herausbildung einer sogenannten Arbeiteraristokratie beitrug. Der kapitalistischen Produktion verlieh sie eine nie dagewesene Schubkraft und dem Kapital einen nie gekannten Expansionsdrang in die weite Welt. Rohstoffquellen und Absatzmärkte suchte es und kollidierte dabei mit den Interessen ausländischer Konkurrenten. Die Folge: Das gesellschaftliche Beben der Welt von 1914 bis 1918. Die äußeren Widersprüche zwischen den Nationen hatten die inneren Antagonismen zwischen den Klassen nivelliert. Bourgeoisie und Proletariat hatten sich im Taumel der bevorstehenden Katastrophe verbrüdert.
Und danach, am Ende des Krieges? Da schien niemand so recht aus der Katastrophe gelernt zu haben. Das Kapital, die Bourgeoisie, kannte nur Sieger und Besiegte und bereitete sich auf den nächsten Waffengang vor. Das Proletariat war zerstritten über die Rolle der Marxschen Theorie. Sozialdemokraten hielten sie für nicht mehr gültig und wurstelten, wo sie die politische Macht errungen hatten, orientierungslos und praktizistisch herum, immer auf die „demokratischen Spielregeln“ bedacht und ohne die destruktiven Kräfte des Kapitals zu zügeln zu wissen. Kommunisten erhoben die Kapital-Analyse von Karl Marx zum theoretischen Dogma, wenn auch bemüht, sie mit Lenins Imperialismus-Theorie den nicht zu ignorierenden Veränderungen in der Welt anzupassen. Doch diese Anpassung, so muss man heute einschätzen, blieb weitgehend an der Oberfläche der Erscheinungen und erreichte nicht die Qualität einer tief greifenden Analyse der veränderten gesellschaftlichen Beziehungen, auf die unten noch einzugehen ist. Wo sie die politische Macht erkämpft hatten, in der UdSSR und im späteren Ostblock (also in einem technisch-ökonomisch wenig entwickelten Teil der Welt), setzten sie das Marxsche theoretische Erbe bezüglich der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft sozusagen buchstabengetreu in die Praxis um: Errichtung einer „Diktatur des Proletariats“ und Organisation der gesellschaftlichen Produktion nach einem zentralen staatlichen Plan. Grundlage dafür war die Erklärung der Produktionsmittel zu gesamtgesellschaftlichem Eigentum. (Das sogenannte genossenschaftliche Eigentum war dies nur dem Namen nach, denn es war ebenfalls in die gesamtgesellschaftliche Planung eingebunden.)  Wo sie mit Marx praktischerweise nicht weiterkamen, etwa bei der Frage des Geldes, durfte Marx sich geirrt haben. Auf die Idee, das Wesen dieses sozialistischen „Geldes“ – ausgehend von Marx‘ Analyse der Waren produzierenden Arbeit – zu untersuchen, sollte man nicht kommen. Denn in der politisch-ökonomischen Auseinandersetzung mit dem Westen schien es geboten, sich gerade auch in Geldangelegenheiten als „solider“ Partner zu präsentieren. Dazu hätte es nicht gepasst, kein „richtiges“ Geld zu besitzen. Das wäre nämlich Wasser auf die Mühlen derjenigen Ökonomen und Politiker im Westen gewesen, die gerade dies – ausnahmsweise zurecht - behaupteten, um ihre Diskriminierung östlicher Handelspartner zu begründen. Immerhin war die Welt nach dem noch größeren Desaster des zweiten Weltkrieges schon bald in einen dritten, wenn auch nur Kalten Krieg geschlittert, der zwar ein wiederum vervielfachtes, die menschliche Zivilisation in ihrer Existenz bedrohendes Waffenpotential schweigen ließ, aber mit nicht minderer Vehemenz auf ökonomischem und politisch-ideologischem Gebiet geführt wurde. Es ging dabei um die Hirne und Herzen und um die „Mägen“ der Menschen; egal ob sie Arbeiter, Lehrer, Ingenieure oder Wissenschaftler waren. In dieser Auseinandersetzung hatte der Osten aus historisch bedingten Gründen die schlechteren Karten. Gerade viele der Deutschen, die östlich der Elbe beheimatet waren, wollten „ihren Arbeiter- und Bauernstaat“ verlassen und die Freiheit und den Wohlstand ihrer Brüder und Schwestern im Westen finden. Die DDR erwies sich als das schwächste Glied in der Kette, die das „sozialistische Lager“ zusammenschmiedete. Als im Herbst 1989 in Berlin die Mauer fiel und bald darauf Deutschland wieder vereinigt war und auch der ganze Ostblock den „Sozialismus“ zu den Akten gelegt hatte, schien die Konterrevolution gesiegt zu haben und der Kapitalismus restauriert worden zu sein. Doch es war dem Wesen nach nur eine Reform, was da vor sich gegangen war; beziehungsweise eine Reihe von Reformen in den einzelnen Ländern.
Wieso? Ihrem Wesen nach beinhalteten diese Reformen nicht die scheinbare und allgemein angenommene Reprivatisierung gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln. Wohl änderte sich die Gesetzeslage, die juristische Fiktion nun als privates Eigentum. Doch bei genauer Betrachtung der ökonomischen Sachverhalte zeigt sich, dass zum Zeitpunkt des Mauerfalls und der Reformierung des Ostblocks fast zwei Jahrzehnte zuvor Richard Nixon als Präsident der USA das Weltfinanzsystem revolutionär verändert hatte. Durch einen sonntagabends im amerikanischen Fernsehen völlig überraschend verkündeten Präsidentenerlass waren in der Krise des Jahres 1971 der US-Dollar und alle an ihn gekoppelten Währungen ihres Goldstandards beraubt worden. Die Währung vertrat seitdem nicht mehr eine bestimmte Menge Gold, gegen die sie eingetauscht werden konnte, sondern sie repräsentierte als Zahlungsmittel direkt gesellschaftliche Arbeit; nämlich so viel Arbeitszeit, wie durchschnittlich für eine Währungseinheit zu leisten ist. Wer Geld besitzt hat seitdem nicht mehr Edelmetall mit eigenem Wert in der Hand beziehungsweise bei der Notenbank zu liegen, wo er es jederzeit abrufen, zu einem festen Satz (seinerzeit 1 Feinunze Gold je 35 US-Dollar) eintauschen könnte. Sein „Geld“ ist zu einer staatlich sanktionierten, von der Zentralbank herausgegebenen Quittung über gesellschaftliche Arbeit geworden, die Anspruch auf Produkte gleicher Menge Arbeit der Gesellschaft dokumentiert. Zugleich wird mit dieser in Währungseinheiten dargestellten Arbeitsquittung die konkrete, sehr unterschiedliche Arbeit der einzelnen Produzenten oder von Gruppen, meist auf der Grundlage eines Tarifsystems, auf abstrakte gesellschaftliche Durchschnittsarbeit reduziert. Dies alles bedeutet, dass sich die ökonomischen Beziehungen zwischen den Menschen verändert haben. Sie basieren nicht mehr auf dem privaten, direkten Austausch von Sachen und Leistungen als Produkte gesellschaftlicher Arbeit, sondern sind vermittelt durch die Zentralbank und deren an sich wertlose Bescheinigungen, die uns als das gleiche „Geld“ erscheinen wie vor dem amerikanischen Coup.
Ob mit diesem neuen Geld wirklich Produkte gekauft werden können, die dem Bedarf der Gesellschaft entsprechen, liegt in der Verantwortung seines Herausgebers, der Zentralbank. Das war auch die Erwartung von Karl Marx. In der Frühphase industrieller Entwicklung konnte dieser sich die Wahrnehmung solcher Verantwortung nicht anders vorstellen denn als Organisation der Wirtschaft durch Erarbeitung eines gemeinsamen Produktionsplans für die Gesellschaft. Eine weltweite Selbstorganisation der Produktion auf der Basis strenger gesetzlicher Regeln, Rechte und Pflichten der Akteure sowie von internationalen Vereinbarungen war offensichtlich nicht absehbar. Doch sie ist heute das Ergebnis eines hundertjährigen, im wesentlichen spontanen Reformprozesses der bürgerlichen Gesellschaft, deren Eliten das theoretische Vermächtnis von Karl Marx nie zur Kenntnis nehmen wollten, es nicht schöpferisch weiterzuentwickeln verstanden oder einfach für überholt hielten. Gerade dieses theoretische Manko ist der Grund dafür, dass sich die heutige Gesellschaft so schwer tut mit der Harmonisierung ihres Wirtschafts- und Finanzsystems, mit der Rollenverteilung von Unternehmertum, Bankwesen und Staatsmacht. Noch immer herrscht die alte Vorstellung, Produktion und Verteilung des produzierten Reichtums seien Privatsache der Individuen, würden auf dem Markt privater Akteure geregelt. Dass dieser Markt aber in einem hundertjährigen Prozess seinem Wesen nach mehr und mehr zu einem Forum von Agenten wurde, die sozusagen im Auftrag und nach bestimmten von der Gesellschaft gesetzten Regeln handeln, ist kaum ins gesellschaftliche Bewusstsein eingedrungen. Es war eine Entwicklung, die wenig zielgerichtet war und sich aus einer Vielzahl staatlicher und sonstiger Regularien ergab, die ganz konkreten Erfordernissen der Wirtschaft entsprachen, um deren Funktionieren unter immer neuen Bedingungen zu gewährleisten.
Es war eine konfliktreiche Entwicklung, denn immer waren vermeintlich private und Gruppeninteressen im Spiel, um deren Durchsetzung gerungen wurde. Und am heftigsten prallen die Gegensätze aufeinander, wenn es direkt ums Geld geht, um die Frage beispielsweise: Wer darf was und in welchem Umfang damit tun? Hier scheint es um die privateste aller ökonomischen Angelegenheiten zu gehen, denn Geld ist in unserem Alltagsbewusstsein die Inkarnation von Eigentum und Reichtum schlechthin. Und dies war es auch, solange es eine Sache, ein zum Leben im weitesten Sinne brauchbarer Gegenstand war, Edelmetall zum Beispiel. Heute dokumentiert es als substanzlose Information nur noch Lieferung beziehungsweise Leistung von Arbeit und Anspruch auf Teilhabe am Reichtum der ganzen Gesellschaft. Letzterer entsteht nur durch Arbeit der Gesellschaft im Produktionsprozess (hier im weitesten Sinne verstanden), der kontinuierliche Erzeugung und Verbrauch erfordert. Diese Einheit von Erzeugung und Verbrauch des gesellschaftlichen Reichtums ständig zu vermitteln und als Maß von Aufwand und Verbrauch in einer gesellschaftlichen Buchführung zu dienen ist die eigentliche Funktion des Geldes. Und nur wenn es sie erfüllt, funktioniert der gesellschaftliche Reproduktionsprozess. Und dies wiederum ist abhängig von der Verteilung des Geldes, die darum gesellschaftlicher Steuerung und Regelung bedarf, wo und wenn sie den ökonomischen Erfordernissen nicht entspricht. Das Bankwesen bildet dafür das gesellschaftliche Instrumentarium. Ein privates, also privater Kapital- beziehungsweise Geldvermehrung verpflichtetes Bankwesen ist daher unter den heutigen ökonomischen Bedingungen ein Anachronismus. Das Bankwesen mit der Notenbank an der Spitze hat als gesellschaftliche Institution den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess im Interesse der Gesellschaft als Ganze zu steuern. Eben darum ist es ein grundlegender Fehler zu glauben, die Aufgabe der Notenbank, also auch der Europäischen Zentralbank erschöpfe sich darin, die Geldstabilität zu gewährleisten. Es genügt bei weitem nicht, dass in der EZB Finanzpolitik betrieben wird. Deren Grundlage muss wirtschaftspolitisches Denken sein, und in der EZB müssen wirtschaftspolitisches und finanzpolitisches Denken und Handeln zusammenfinden.
Schon heute wird der Europäischen Zentralbank unter der Führung von Mario Dragi von Beobachtern vorgeworfen, mit ihrer Null-Zins-Politik und Ankäufen maroder Wertpapiere ihre Kompetenzen zu überschreiten und gegen ihr eigenes Statut zu verstoßen. Dabei sind dies nur drastische Schritte, um, der äußersten Not gehorchend, das „System“ funktionsfähig zu erhalten. Dem dürften noch viele weitere Schritte über die derzeitigen Statutengrenzen hinaus folgen, bis eines Tages festzustellen sein wird, dass sich der Status der EZB von einer Notenbank zu einem wirtschaftsleitenden Organ der Gesellschaft gewandelt hat; so wie sich die ganze bürgerliche Welt seit ihrer Entstehung in einem spontanen, latenten Prozess von Versuch und Irrtum entwickelte. Eine solche Zentralbank wird dann jenes von Karl Marx in seiner Auseinandersetzung mit Pierre-Joseph Proudhons Tauschbank charakterisierte „board“ sein, das auf der Basis eines Höchstmaßes an Selbstorganisation der Wirtschaft die gesellschaftliche Reproduktion  mit ökonomischen, das heißt finanziellen Mitteln steuert und „für die gemeinsam arbeitende Gesellschaft Buch und Rechnung“ führt. Bis dahin werden noch viele Konflikte, vor allem im gesellschaftlichen Überbau und hier im Bereich von Wirtschaftswissenschaft und Recht, zu lösen sein. Doch einer Revolution der Multitude bedarf es dazu nicht. Es dürfte sich vielmehr um ein allmähliches Hineinwachsen in einen demokratischen Sozialismus, etwa im Sinne des Godesberger Programms der SPD von 1959, handeln.
So gesehen kann man Byung-Chul Han nicht zustimmen, wenn er feststellt, es sei ein Irrtum zu glauben, dass die Sharing-Ökonomie, wie Jeremy Rifkin in seinem jüngsten Buch ‚Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft‘ behauptet, ein Ende des Kapitalismus, eine globale, gemeinschaftlich orientierte Gesellschaft einläutet, in der Teilen mehr Wert hätte als Besitzen. Im Gegenteil: Die Sharing-Ökonomie führt letzten Endes zu einer Totalkommerzialisierung des Lebens.“ Denn sieht man einmal von dem allgemeinen Irrglauben dieser Gesellschaft ab, sie werde umso reicher je größer ihr verfügbares Finanzvermögen ist (mit allen Konsequenzen dieses Irrglaubens bis hin zum ökologisch desaströsen Wachstumswahn), so lässt sich die heutige Welt vom Wesen ihrer ökonomischen Basisbeziehungen her durchaus als eine solche „gemeinschaftlich orientierte Gesellschaft“ verstehen. Sie entspricht insofern auch der Vision von Karl Marx von einer Gesellschaft, in welcher der einzelne Produzent einen Schein bekommt, dass er soundso viel Arbeit geliefert hat, mit dem er Produkte zum gleichen Betrage aus dem allgemeinen Fonds gesellschaftlichen sachlichen Reichtums erwerben kann. Es ist dies eben die von Byung-Chul Han beobachtete neue Struktur der Gesellschaft in ihrer ökonomischen Basis. Allerdings ist dies kein (warenproduzierender) Kapitalismus mehr – ganz im Sinne von Marx‘ Prognose und auch von Rifkins Sicht auf die heutige Welt. Das grundlegende Problem der heutigen Gesellschaft besteht in dem krassen Widerspruch zwischen ihrer vergesellschafteten materiellen, ökonomischen Basis und ihrem politisch-ideologischen Überbau, insbesondere dem allgemeinen Bewusstsein von den objektiven ökonomischen Bedingen der Produktion und des „Austauschs“ und, als Folge davon, deren juristischer Kodifizierung als nach wie vor privat. Dennoch hat die neue Basisstruktur der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts bereits auch ein neues, nicht mehr konträres (Klassen-) Bewusstsein – nicht mehr konservativ einerseits und revolutionär andererseits – hervorgebracht. So gesehen ist der Neoliberalismus als Ideologie nur die notwendige Erscheinungsform eines gesellschaftlichen Bewusstseins, das einerseits – als Theorie der „Sharing-Ökonomie“ -  der vergesellschafteten ökonomischen Basis entspringt beziehungsweise ihr entspricht, andererseits aber als Folge zählebiger konservativer Dogmen unfähig ist, die ökonomische Wirklichkeit realistisch zu analysieren und wissenschaftlich zu verarbeiten. Zu diesen Dogmen gehört vor allem der unerschütterliche Glaube an die bedingungslose Freiheit des Einzelnen und, darauf aufbauend, an die unveränderlich private Natur seines ökonomischen Handelns. Nach dieser Geisteshaltung soll der Staat auf seine Funktion als politisches Ordnungs-, also Herrschaftsinstrument beschränken und das Ordnen der Wirtschaft dem freien Spiel der Kräfte auf dem Markt überlassen. Dass dies, historisch gesehen, nie so war und nie funktioniert hat, wird ignoriert.
Dieser eigenartige Zustand der heutigen Gesellschaft mit ihrem gewissermaßen neuartigen, nicht mehr klassenspezifisch geprägten  Widerspruch zwischen ökonomischer Basis und politisch-ideologischem Überbau bringt keinen feindlichen Klassenkonflikt mehr hervor. Wenn sich Byung-Chul Han also wundert, dass es kein konkretes Gegenüber mehr (gibt), keinen Feind, der die Freiheit unterdrückt und gegen den ein Widerstand möglich wäre“, so lässt sich dieser Zustand sehr wohl „marxistisch erklären“. Allerdings muss man dazu bereit sein, das Werk von Karl Marx nicht als Dogmensammlung zu betrachten, sondern die heutige Welt mit seiner Methodik des Denkens zu analysieren.
Dann ist, ihrem Wesen nach, die heutige als eine Gesellschaft zu verstehen, deren Mitglieder frei und in eigener Verantwortung für die Allgemeinheit produzieren. Ihr Geld ist kein Geld und ihr Produkt keine Ware mehr wie sie von Karl Marx analysiert wurden, denn das Geld hat sich im Verlaufe einer mehr als hundertjährigen Evolution von einem „allgemeinen Äquivalent“, einer „allgemeinen Ware“ mit eigenem Wert und Gebrauchswert in ein gesellschaftliches Arbeitszertifikat und Schuldpapier verwandelt. Seine Menge lässt sich beliebig vermehren, denn es bedarf zu seiner Erzeugung keines Arbeitsaufwandes mehr. Und gerade deshalb bedarf seine Erzeugung und Nutzung gesellschaftlicher Steuerung und Kontrolle durch die Notenbank und ein ihr unterstelltes Bankwesen, das über die gesellschaftliche Produktion der freien, eigenverantwortlichen Produzenten „Buch und Rechnung führt“. Denn auch dieses neue „Geld“ vermittelt den Produktionsprozess der eigenverantwortlichen Produzenten als notwendigerweise gesellschaftlichen Reproduktionsprozess. Die wissenschaftlichen Grundlagen von dessen Steuerung vermittels der Geldpolitik hat die Wirtschaftswissenschaft zu liefern. Doch dieser Aufgabe ist sie bisher bei weitem nicht gerecht geworden. Im Gegenteil! Als neoliberale Wachstumstheorie war ihr Wirken geradezu desaströs.
Um die moderne Gesellschaft aus ihrer nun ein Jahrhundert langen Dauerkrise zu führen bedarf es daher vor allem eines neuen, der Realität gerecht werdenden wirtschaftswissenschaftlichen Fundaments und eines darauf aufbauenden, neuen gesellschaftlichen Bewusstseins im weitesten Sinne, einschließlich entsprechender Gesetzgebung. Es handelt sich um eine Aufgabenstellung, die weit über das hinaus geht, was beispielsweise Thomas Piketty mit seinem Buch „Capital in the Twenty-First Century“ in Angriff genommen hat. Denn die dort vorrangig behandelte Einkommens- und Vermögensverteilung ist nur ein einziger - und sicherlich nicht einmal der wichtigste – Aspekt der vor uns stehenden Aufgaben. Eine weltweite Revolution zur Lösung der anstehenden Widersprüche ist nicht zu erwarten und erübrigt sich auch, weil der Konservatismus nicht mehr in ökonomischen Basisbedingungen wurzelt, sondern im geistig-politischen Überbau dieser Gesellschaft als Ganze angesiedelt ist.

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