Von Heerke Hummel
(Erschienen in: „Sozialismus“, Nr. 12/2014)
Der an der Berliner Universität der Künste lehrende koreanische Philosoph
Byung-Chul Han ging unlängst in der Süddeutschen Zeitung (SZ v. 02.09. 2014)
der Frage nach, warum das neoliberale Herrschaftssystem so stabil ist, kaum
Widerstand erfährt, warum heute keine Revolution mehr möglich ist, obwohl die
Schere zwischen Reich und Arm immer größer wird. Seine Erklärung lautet: „Das
neoliberale Herrschaftssystem ist ganz anders strukturiert (als das der ‚Disziplinar- und
Industriegesellschaft‘ – H. H.). Hier ist
die systemerhaltende Macht nicht mehr repressiv, sondern seduktiv, das heißt,
verführend. Sie ist nicht mehr so sichtbar wie in dem disziplinarischen Regime.
Es gibt kein konkretes Gegenüber mehr, keinen Feind, der die Freiheit
unterdrückt und gegen den ein Widerstand möglich wäre.“ Der
Neoliberalismus forme aus dem unterdrückten Arbeiter einen freien Unternehmer,
einen Unternehmer seiner selbst. Jeder sei heute ein selbstausbeutender
Arbeiter seines eigenen Unternehmers. Jeder sei Herr und Knecht in einer Person.
Auch der Klassenkampf verwandle sich in einen inneren Kampf mit sich selbst. Wer
heute scheitert, beschuldige sich selbst und schäme sich. Man problematisiere
sich selbst statt der Gesellschaft. Heute, stellt Byung-Chul Han fest, „gibt es keine kooperierende, vernetzte
Multitude, die sich zu einer globalen Protest- und Revolutionsmasse erheben
würde (wie von Antonio Negri erwartet – H. H.). Vielmehr macht die Solitude des für sich isolierten, vereinzelten
Selbst-Unternehmers die gegenwärtige Produktionsweise aus.“
Wenigstens
in Bezug auf die Tendenz der Entwicklung in der gesellschaftlichen Wirklichkeit
ist einer solchen Beobachtung der Erscheinungen an der Oberfläche der
Gesellschaft durchaus zuzustimmen. Aber Han meint nun, man könne diesen Prozess
nicht „marxistisch erklären“. Im Neoliberalismus fände nicht einmal die „berühmte
‚Entfremdung‘ von der Arbeit“ statt. Denn heute stürzten wir uns mit Euphorie
in die Arbeit bis zum Burn-out. Die erste Stufe des Burn-out-Syndroms sei eben
die Euphorie. Burn-out und Revolution schlössen sich aus, und so sei es ein
Irrtum zu glauben, „dass die Multitude
das parasitäre Empire abwirft und eine kommunistische Gesellschaft installiert.“
Und auf die Frage, wie es heute mit dem Kommunismus stehe, antwortet er: „Überall wird Sharing und Community
beschworen. Die Sharing-Ökonomie soll die Ökonomie des Eigentums und des
Besitzes ablösen.“ Doch sei es ein Irrtum zu glauben, dass die
Sharing-Ökonomie, wie Jeremy Rifkin in seinem jüngsten Buch "Die
Null-Grenzkosten-Gesellschaft" behauptet, ein Ende des Kapitalismus, eine
globale, gemeinschaftlich orientierte Gesellschaft einläutet. Im Gegenteil, die
Sharing-Ökonomie führe letzten Endes zu einer Totalkommerzialisierung
des Lebens. Und wer kein Geld besitzt, habe eben auch keinen Zugang zum
Sharing. Es herrsche die harte Logik des Kapitalismus. Bei diesem schönen
"Teilen" gebe paradoxerweise niemand etwas freiwillig ab. Und: „Der Kapitalismus vollendet sich in dem
Moment, in dem er den Kommunismus als Ware verkauft. Der Kommunismus als Ware,
das ist das Ende der Revolution.“
Lässt sich
die Geschichte, wie sie sich seit gut hundert Jahren vollzogen hat, nicht aber
auch anders, weniger resignierend, quasi aus einer anderen Perspektive
betrachten?
Karl Marx war kein Moralist. Ihm ging es darum, wesentliche, notwendige allgemeine Zusammenhänge im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess aufzudecken. Es waren nicht die konkreten Erscheinungsformen künftiger gesellschaftlicher Zustände, die ihn interessierten, sondern deren Wesen. Die innere Logik der Beziehungen zwischen den Menschen war Gegenstand seines Denkens. In Bezug auf den hier besprochenen Gegenstand unterschieden Marx und Engels zunächst zwischen der materiellen, ökonomischen Basis der Gesellschaft einerseits und dem ihr entsprechenden politischen, geistig-kulturellen und juristischen Überbau andererseits, wozu vor allem der hier angesprochene staatliche Machtapparat als Herrschaftsinstrument der Kapitalistenklasse gehört. Von der ökonomischen Basis heißt es im Kommunistischen Manifest: „Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt …“
Karl Marx war kein Moralist. Ihm ging es darum, wesentliche, notwendige allgemeine Zusammenhänge im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess aufzudecken. Es waren nicht die konkreten Erscheinungsformen künftiger gesellschaftlicher Zustände, die ihn interessierten, sondern deren Wesen. Die innere Logik der Beziehungen zwischen den Menschen war Gegenstand seines Denkens. In Bezug auf den hier besprochenen Gegenstand unterschieden Marx und Engels zunächst zwischen der materiellen, ökonomischen Basis der Gesellschaft einerseits und dem ihr entsprechenden politischen, geistig-kulturellen und juristischen Überbau andererseits, wozu vor allem der hier angesprochene staatliche Machtapparat als Herrschaftsinstrument der Kapitalistenklasse gehört. Von der ökonomischen Basis heißt es im Kommunistischen Manifest: „Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt …“
Wie
aktuell! Doch sollte sich auch herausstellen, dass die Bourgeoisie ihre
Staatsmacht sowohl zur Systemsicherung
gegen die Arbeiterklasse als auch im Kampf gegen ausländische Konkurrenz
einsetzte. Dass der Erste Weltkrieg als bis dato größte gesellschaftliche
Katastrophe noch fast sieben Jahrzehnte auf sich warten ließ, macht deutlich,
wie wenig solche Entwicklungen absehbar sein mussten, als die obigen Sätze
formuliert wurden. Ebenso wenig absehbar war zu jener Zeit, wie sich die Rolle
des Proletariats in der gesellschaftlichen Reproduktion und im Prozess der
Produktivkräfteentwicklung verändern würde. Dem Analytiker Marx erschien das
Proletariat als die Hauptproduktivkraft der Gesellschaft und damit als
Zukunftsträgerin. Bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts, so müssen wir heute
einschätzen, hatte diese Rolle aber eine ganz neu entstandene gesellschaftliche
Kraft übernommen: die wissenschaftlich-technische Intelligenz. Sie war zum
Motor des ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels geworden. Eins der
folgenreichsten Versäumnisse der Kommunistischen Bewegung, des „Marxismus“ im
ganzen zwanzigsten Jahrhundert dürfte gewesen sein, diesen Wandel nicht erkannt
beziehungsweise theoretisch verarbeitet zu haben.
Diese
neue Kraft war nicht revolutionär; jedenfalls nicht im umstürzlerischen Sinne.
Dennoch revolutionierte, wandelte sie die Gesellschaft um, dank ihrer
wissenschaftlich-technischen Leistungen von größter ökonomischer Bedeutung. Sie
nahm dem Industrieproletariat den revolutionären Wind aus den Segeln, indem sie
zur Verbesserung seiner Lebenslage und zur Herausbildung einer sogenannten
Arbeiteraristokratie beitrug. Der kapitalistischen Produktion verlieh sie eine
nie dagewesene Schubkraft und dem Kapital einen nie gekannten Expansionsdrang
in die weite Welt. Rohstoffquellen und Absatzmärkte suchte es und kollidierte
dabei mit den Interessen ausländischer Konkurrenten. Die Folge: Das
gesellschaftliche Beben der Welt von 1914 bis 1918. Die äußeren Widersprüche
zwischen den Nationen hatten die inneren Antagonismen zwischen den Klassen
nivelliert. Bourgeoisie und Proletariat hatten sich im Taumel der
bevorstehenden Katastrophe verbrüdert.
Und danach,
am Ende des Krieges? Da schien niemand so recht aus der Katastrophe gelernt zu
haben. Das Kapital, die Bourgeoisie, kannte nur Sieger und Besiegte und
bereitete sich auf den nächsten Waffengang vor. Das Proletariat war zerstritten
über die Rolle der Marxschen Theorie. Sozialdemokraten hielten sie für nicht
mehr gültig und wurstelten, wo sie die politische Macht errungen hatten,
orientierungslos und praktizistisch herum, immer auf die „demokratischen
Spielregeln“ bedacht und ohne die destruktiven Kräfte des Kapitals zu zügeln zu
wissen. Kommunisten erhoben die Kapital-Analyse von Karl Marx zum theoretischen
Dogma, wenn auch bemüht, sie mit Lenins Imperialismus-Theorie den nicht zu
ignorierenden Veränderungen in der Welt anzupassen. Doch diese Anpassung, so
muss man heute einschätzen, blieb weitgehend an der Oberfläche der
Erscheinungen und erreichte nicht die Qualität einer tief greifenden Analyse
der veränderten gesellschaftlichen Beziehungen, auf die unten noch einzugehen
ist. Wo sie die politische Macht erkämpft hatten, in der UdSSR und im späteren
Ostblock (also in einem technisch-ökonomisch wenig entwickelten Teil der Welt),
setzten sie das Marxsche theoretische Erbe bezüglich der Errichtung einer
sozialistischen Gesellschaft sozusagen buchstabengetreu in die Praxis um:
Errichtung einer „Diktatur des Proletariats“ und Organisation der
gesellschaftlichen Produktion nach einem zentralen staatlichen Plan. Grundlage
dafür war die Erklärung der Produktionsmittel zu gesamtgesellschaftlichem
Eigentum. (Das sogenannte genossenschaftliche Eigentum war dies nur dem Namen
nach, denn es war ebenfalls in die gesamtgesellschaftliche Planung
eingebunden.) Wo sie mit Marx
praktischerweise nicht weiterkamen, etwa bei der Frage des Geldes, durfte Marx
sich geirrt haben. Auf die Idee, das Wesen dieses sozialistischen „Geldes“ –
ausgehend von Marx‘ Analyse der Waren produzierenden Arbeit – zu untersuchen,
sollte man nicht kommen. Denn in der politisch-ökonomischen Auseinandersetzung
mit dem Westen schien es geboten, sich gerade auch in Geldangelegenheiten als
„solider“ Partner zu präsentieren. Dazu hätte es nicht gepasst, kein
„richtiges“ Geld zu besitzen. Das wäre nämlich Wasser auf die Mühlen derjenigen
Ökonomen und Politiker im Westen gewesen, die gerade dies – ausnahmsweise
zurecht - behaupteten, um ihre Diskriminierung östlicher Handelspartner zu
begründen. Immerhin war die Welt nach dem noch größeren Desaster des zweiten
Weltkrieges schon bald in einen dritten, wenn auch nur Kalten Krieg
geschlittert, der zwar ein wiederum vervielfachtes, die menschliche
Zivilisation in ihrer Existenz bedrohendes Waffenpotential schweigen ließ, aber
mit nicht minderer Vehemenz auf ökonomischem und politisch-ideologischem Gebiet
geführt wurde. Es ging dabei um die Hirne und Herzen und um die „Mägen“ der
Menschen; egal ob sie Arbeiter, Lehrer, Ingenieure oder Wissenschaftler waren.
In dieser Auseinandersetzung hatte der Osten aus historisch bedingten Gründen
die schlechteren Karten. Gerade viele der Deutschen, die östlich der Elbe
beheimatet waren, wollten „ihren Arbeiter- und Bauernstaat“ verlassen und die
Freiheit und den Wohlstand ihrer Brüder und Schwestern im Westen finden. Die
DDR erwies sich als das schwächste Glied in der Kette, die das „sozialistische
Lager“ zusammenschmiedete. Als im Herbst 1989 in Berlin die Mauer fiel und bald
darauf Deutschland wieder vereinigt war und auch der ganze Ostblock den
„Sozialismus“ zu den Akten gelegt hatte, schien die Konterrevolution gesiegt zu
haben und der Kapitalismus restauriert worden zu sein. Doch es war dem Wesen
nach nur eine Reform, was da vor sich gegangen war; beziehungsweise eine Reihe
von Reformen in den einzelnen Ländern.
Wieso? Ihrem
Wesen nach beinhalteten diese Reformen nicht die scheinbare und allgemein
angenommene Reprivatisierung gesellschaftlichen Eigentums an den
Produktionsmitteln. Wohl änderte sich die Gesetzeslage, die juristische Fiktion
nun als privates Eigentum. Doch bei genauer Betrachtung der ökonomischen
Sachverhalte zeigt sich, dass zum Zeitpunkt des Mauerfalls und der Reformierung
des Ostblocks fast zwei Jahrzehnte zuvor Richard Nixon als Präsident der USA
das Weltfinanzsystem revolutionär verändert hatte. Durch einen sonntagabends im
amerikanischen Fernsehen völlig überraschend verkündeten Präsidentenerlass
waren in der Krise des Jahres 1971 der US-Dollar und alle an ihn gekoppelten
Währungen ihres Goldstandards beraubt worden. Die Währung vertrat seitdem nicht
mehr eine bestimmte Menge Gold, gegen die sie eingetauscht werden konnte,
sondern sie repräsentierte als Zahlungsmittel direkt gesellschaftliche Arbeit;
nämlich so viel Arbeitszeit, wie durchschnittlich für eine Währungseinheit zu
leisten ist. Wer Geld besitzt hat seitdem nicht mehr Edelmetall mit eigenem
Wert in der Hand beziehungsweise bei der Notenbank zu liegen, wo er es
jederzeit abrufen, zu einem festen Satz (seinerzeit 1 Feinunze Gold je 35
US-Dollar) eintauschen könnte. Sein „Geld“ ist zu einer staatlich
sanktionierten, von der Zentralbank herausgegebenen Quittung über
gesellschaftliche Arbeit geworden, die Anspruch auf Produkte gleicher Menge
Arbeit der Gesellschaft dokumentiert. Zugleich wird mit dieser in
Währungseinheiten dargestellten Arbeitsquittung die konkrete, sehr unterschiedliche
Arbeit der einzelnen Produzenten oder von Gruppen, meist auf der Grundlage
eines Tarifsystems, auf abstrakte gesellschaftliche Durchschnittsarbeit
reduziert. Dies alles bedeutet, dass sich die ökonomischen Beziehungen zwischen
den Menschen verändert haben. Sie basieren nicht mehr auf dem privaten,
direkten Austausch von Sachen und Leistungen als Produkte gesellschaftlicher
Arbeit, sondern sind vermittelt durch die Zentralbank und deren an sich
wertlose Bescheinigungen, die uns als das gleiche „Geld“ erscheinen wie vor dem
amerikanischen Coup.
Ob mit
diesem neuen Geld wirklich Produkte gekauft werden können, die dem Bedarf der
Gesellschaft entsprechen, liegt in der Verantwortung seines Herausgebers, der
Zentralbank. Das war auch die Erwartung von Karl Marx. In der Frühphase
industrieller Entwicklung konnte dieser sich die Wahrnehmung solcher
Verantwortung nicht anders vorstellen denn als Organisation der Wirtschaft
durch Erarbeitung eines gemeinsamen Produktionsplans für die Gesellschaft. Eine
weltweite Selbstorganisation der Produktion auf der Basis strenger gesetzlicher
Regeln, Rechte und Pflichten der Akteure sowie von internationalen
Vereinbarungen war offensichtlich nicht absehbar. Doch sie ist heute das
Ergebnis eines hundertjährigen, im wesentlichen spontanen Reformprozesses der
bürgerlichen Gesellschaft, deren Eliten das theoretische Vermächtnis von Karl
Marx nie zur Kenntnis nehmen wollten, es nicht schöpferisch weiterzuentwickeln
verstanden oder einfach für überholt hielten. Gerade dieses theoretische Manko
ist der Grund dafür, dass sich die heutige Gesellschaft so schwer tut mit der
Harmonisierung ihres Wirtschafts- und Finanzsystems, mit der Rollenverteilung
von Unternehmertum, Bankwesen und Staatsmacht. Noch immer herrscht die alte Vorstellung,
Produktion und Verteilung des produzierten Reichtums seien Privatsache der
Individuen, würden auf dem Markt privater Akteure geregelt. Dass dieser Markt
aber in einem hundertjährigen Prozess seinem Wesen nach mehr und mehr zu einem
Forum von Agenten wurde, die sozusagen im Auftrag und nach bestimmten von der
Gesellschaft gesetzten Regeln handeln, ist kaum ins gesellschaftliche
Bewusstsein eingedrungen. Es war eine Entwicklung, die wenig zielgerichtet war
und sich aus einer Vielzahl staatlicher und sonstiger Regularien ergab, die
ganz konkreten Erfordernissen der Wirtschaft entsprachen, um deren
Funktionieren unter immer neuen Bedingungen zu gewährleisten.
Es war eine
konfliktreiche Entwicklung, denn immer waren vermeintlich private und Gruppeninteressen
im Spiel, um deren Durchsetzung gerungen wurde. Und am heftigsten prallen die
Gegensätze aufeinander, wenn es direkt ums Geld geht, um die Frage
beispielsweise: Wer darf was und in welchem Umfang damit tun? Hier scheint es
um die privateste aller ökonomischen Angelegenheiten zu gehen, denn Geld ist in
unserem Alltagsbewusstsein die Inkarnation von Eigentum und Reichtum
schlechthin. Und dies war es auch, solange es eine Sache, ein zum Leben im
weitesten Sinne brauchbarer Gegenstand war, Edelmetall zum Beispiel. Heute
dokumentiert es als substanzlose Information nur noch Lieferung beziehungsweise
Leistung von Arbeit und Anspruch auf Teilhabe am Reichtum der ganzen
Gesellschaft. Letzterer entsteht nur durch Arbeit der Gesellschaft im
Produktionsprozess (hier im weitesten Sinne verstanden), der kontinuierliche
Erzeugung und Verbrauch erfordert. Diese Einheit von Erzeugung und Verbrauch
des gesellschaftlichen Reichtums ständig zu vermitteln und als Maß von Aufwand
und Verbrauch in einer gesellschaftlichen Buchführung zu dienen ist die
eigentliche Funktion des Geldes. Und nur wenn es sie erfüllt, funktioniert der
gesellschaftliche Reproduktionsprozess. Und dies wiederum ist abhängig von der
Verteilung des Geldes, die darum gesellschaftlicher Steuerung und Regelung
bedarf, wo und wenn sie den ökonomischen Erfordernissen nicht entspricht. Das
Bankwesen bildet dafür das gesellschaftliche Instrumentarium. Ein privates,
also privater Kapital- beziehungsweise Geldvermehrung verpflichtetes Bankwesen
ist daher unter den heutigen ökonomischen Bedingungen ein Anachronismus. Das
Bankwesen mit der Notenbank an der Spitze hat als gesellschaftliche Institution
den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess im Interesse der Gesellschaft als
Ganze zu steuern. Eben darum ist es ein grundlegender Fehler zu glauben, die
Aufgabe der Notenbank, also auch der Europäischen Zentralbank erschöpfe sich
darin, die Geldstabilität zu gewährleisten. Es genügt bei weitem nicht, dass in
der EZB Finanzpolitik betrieben wird. Deren Grundlage muss
wirtschaftspolitisches Denken sein, und in der EZB müssen
wirtschaftspolitisches und finanzpolitisches Denken und Handeln zusammenfinden.
Schon heute
wird der Europäischen Zentralbank unter der Führung von Mario Dragi von
Beobachtern vorgeworfen, mit ihrer Null-Zins-Politik und Ankäufen maroder
Wertpapiere ihre Kompetenzen zu überschreiten und gegen ihr eigenes Statut zu
verstoßen. Dabei sind dies nur drastische Schritte, um, der äußersten Not
gehorchend, das „System“ funktionsfähig zu erhalten. Dem dürften noch viele
weitere Schritte über die derzeitigen Statutengrenzen hinaus folgen, bis eines
Tages festzustellen sein wird, dass sich der Status der EZB von einer Notenbank
zu einem wirtschaftsleitenden Organ der Gesellschaft gewandelt hat; so wie sich
die ganze bürgerliche Welt seit ihrer Entstehung in einem spontanen, latenten
Prozess von Versuch und Irrtum entwickelte. Eine solche Zentralbank wird dann
jenes von Karl Marx in seiner Auseinandersetzung mit Pierre-Joseph Proudhons
Tauschbank charakterisierte „board“ sein, das auf der Basis eines Höchstmaßes
an Selbstorganisation der Wirtschaft die gesellschaftliche Reproduktion mit ökonomischen, das heißt finanziellen
Mitteln steuert und „für die gemeinsam arbeitende Gesellschaft Buch und
Rechnung“ führt. Bis dahin werden noch viele Konflikte, vor allem im
gesellschaftlichen Überbau und hier im Bereich von Wirtschaftswissenschaft und
Recht, zu lösen sein. Doch einer Revolution der Multitude bedarf es dazu nicht.
Es dürfte sich vielmehr um ein allmähliches Hineinwachsen in einen
demokratischen Sozialismus, etwa im Sinne des Godesberger Programms der SPD von
1959, handeln.
So gesehen
kann man Byung-Chul Han nicht
zustimmen, wenn er feststellt, es sei „ein Irrtum zu glauben, dass die
Sharing-Ökonomie, wie Jeremy Rifkin in seinem jüngsten Buch ‚Die
Null-Grenzkosten-Gesellschaft‘ behauptet, ein Ende des Kapitalismus, eine
globale, gemeinschaftlich orientierte Gesellschaft einläutet, in der Teilen
mehr Wert hätte als Besitzen. Im Gegenteil: Die Sharing-Ökonomie führt letzten
Endes zu einer Totalkommerzialisierung des Lebens.“ Denn sieht man
einmal von dem allgemeinen Irrglauben dieser Gesellschaft ab, sie werde umso
reicher je größer ihr verfügbares Finanzvermögen ist (mit allen Konsequenzen
dieses Irrglaubens bis hin zum ökologisch desaströsen Wachstumswahn), so lässt
sich die heutige Welt vom Wesen ihrer ökonomischen Basisbeziehungen her
durchaus als eine solche „gemeinschaftlich orientierte Gesellschaft“ verstehen.
Sie entspricht insofern auch der Vision von Karl Marx von einer Gesellschaft,
in welcher der einzelne Produzent einen Schein bekommt, dass er soundso viel
Arbeit geliefert hat, mit dem er Produkte zum gleichen Betrage aus dem
allgemeinen Fonds gesellschaftlichen sachlichen Reichtums erwerben kann. Es ist
dies eben die von Byung-Chul Han
beobachtete neue Struktur der Gesellschaft in ihrer ökonomischen Basis.
Allerdings ist dies kein (warenproduzierender) Kapitalismus mehr – ganz im
Sinne von Marx‘ Prognose und auch von Rifkins Sicht auf die heutige Welt. Das
grundlegende Problem der heutigen Gesellschaft besteht in dem krassen
Widerspruch zwischen ihrer vergesellschafteten materiellen, ökonomischen Basis
und ihrem politisch-ideologischen Überbau, insbesondere dem allgemeinen
Bewusstsein von den objektiven ökonomischen Bedingen der Produktion und des
„Austauschs“ und, als Folge davon, deren juristischer Kodifizierung als nach
wie vor privat. Dennoch hat die neue Basisstruktur der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts
bereits auch ein neues, nicht mehr konträres (Klassen-) Bewusstsein – nicht
mehr konservativ einerseits und revolutionär andererseits – hervorgebracht. So
gesehen ist der Neoliberalismus als Ideologie nur die notwendige
Erscheinungsform eines gesellschaftlichen Bewusstseins, das einerseits – als
Theorie der „Sharing-Ökonomie“ - der vergesellschafteten ökonomischen Basis
entspringt beziehungsweise ihr entspricht, andererseits aber als Folge
zählebiger konservativer Dogmen unfähig ist, die ökonomische Wirklichkeit
realistisch zu analysieren und wissenschaftlich zu verarbeiten. Zu diesen
Dogmen gehört vor allem der unerschütterliche Glaube an die bedingungslose
Freiheit des Einzelnen und, darauf aufbauend, an die unveränderlich private
Natur seines ökonomischen Handelns. Nach dieser Geisteshaltung soll der Staat
auf seine Funktion als politisches Ordnungs-, also Herrschaftsinstrument
beschränken und das Ordnen der Wirtschaft dem freien Spiel der Kräfte auf dem
Markt überlassen. Dass dies, historisch gesehen, nie so war und nie
funktioniert hat, wird ignoriert.
Dieser eigenartige Zustand der heutigen Gesellschaft mit ihrem
gewissermaßen neuartigen, nicht mehr klassenspezifisch geprägten Widerspruch zwischen ökonomischer Basis und
politisch-ideologischem Überbau bringt keinen feindlichen Klassenkonflikt mehr
hervor. Wenn sich Byung-Chul Han also wundert, dass es „kein konkretes Gegenüber mehr
(gibt), keinen Feind, der die Freiheit unterdrückt und gegen den ein Widerstand
möglich wäre“, so lässt
sich dieser Zustand sehr wohl „marxistisch erklären“. Allerdings muss man dazu
bereit sein, das Werk von Karl Marx nicht als Dogmensammlung zu betrachten,
sondern die heutige Welt mit seiner Methodik des Denkens zu analysieren.
Dann ist,
ihrem Wesen nach, die heutige als eine Gesellschaft zu verstehen, deren
Mitglieder frei und in eigener Verantwortung für die Allgemeinheit produzieren.
Ihr Geld ist kein Geld und ihr Produkt keine Ware mehr wie sie von Karl Marx
analysiert wurden, denn das Geld hat sich im Verlaufe einer mehr als
hundertjährigen Evolution von einem „allgemeinen Äquivalent“, einer
„allgemeinen Ware“ mit eigenem Wert und Gebrauchswert in ein gesellschaftliches
Arbeitszertifikat und Schuldpapier verwandelt. Seine Menge lässt sich beliebig
vermehren, denn es bedarf zu seiner Erzeugung keines Arbeitsaufwandes mehr. Und
gerade deshalb bedarf seine Erzeugung und Nutzung gesellschaftlicher Steuerung
und Kontrolle durch die Notenbank und ein ihr unterstelltes Bankwesen, das über
die gesellschaftliche Produktion der freien, eigenverantwortlichen Produzenten
„Buch und Rechnung führt“. Denn auch dieses neue „Geld“ vermittelt den
Produktionsprozess der eigenverantwortlichen Produzenten als notwendigerweise gesellschaftlichen
Reproduktionsprozess. Die wissenschaftlichen Grundlagen von dessen Steuerung
vermittels der Geldpolitik hat die Wirtschaftswissenschaft zu liefern. Doch
dieser Aufgabe ist sie bisher bei weitem nicht gerecht geworden. Im Gegenteil!
Als neoliberale Wachstumstheorie war ihr Wirken geradezu desaströs.
Um die
moderne Gesellschaft aus ihrer nun ein Jahrhundert langen Dauerkrise zu führen
bedarf es daher vor allem eines neuen, der Realität gerecht werdenden
wirtschaftswissenschaftlichen Fundaments und eines darauf aufbauenden, neuen
gesellschaftlichen Bewusstseins im weitesten Sinne, einschließlich
entsprechender Gesetzgebung. Es handelt sich um eine Aufgabenstellung, die weit
über das hinaus geht, was beispielsweise Thomas
Piketty mit seinem Buch „Capital in the Twenty-First Century“ in Angriff
genommen hat. Denn die dort vorrangig behandelte Einkommens- und
Vermögensverteilung ist nur ein einziger - und sicherlich nicht einmal der
wichtigste – Aspekt der vor uns stehenden Aufgaben. Eine weltweite Revolution
zur Lösung der anstehenden Widersprüche ist nicht zu erwarten und erübrigt sich
auch, weil der Konservatismus nicht mehr in ökonomischen Basisbedingungen
wurzelt, sondern im geistig-politischen Überbau dieser Gesellschaft als Ganze
angesiedelt ist.
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