Donnerstag, 13. November 2014

Piketty und seine linken Kritiker

(Erschienen in: „Das Blättchen“, Nr. 23/2014 – www.das-blaettchen.de)
Der französische Ökonom Thomas Piketty sorgt mit seinem Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert (2013 in Frankreich erschienen) weltweit für Furore, seit es Anfang dieses Jahres in den USA herauskam und von Nobelpreisträger Paul Krugman als vielleicht wichtigstes Buch des Jahrzehnts bezeichnet wurde. Nun liegt es auch in deutscher Übersetzung vor, und Stephan Kaufmann und Ingo Stützle haben es dem deutschen Leser mit einem Taschenbuch[i] vorgestellt.
Mit ihrem sehr ausführlichen Überblick über Pikettys ökonomische Analyse der Welt des Kapitals ersparen die Autoren dem interessierten Publikum möglicherweise, sich mühevoll durch die mehr als achthundert Seiten des Originals mit seinen zahlreichen Grafiken hindurch zu arbeiten. Zumindest dürfte die konzentrierte Zusammenfassung der wesentlichen Aussagen des Franzosen dem nur allgemein an der Debatte Interessierten das Verständnis des Gesamtwerks und die Beurteilung der Konsequenzen erleichtern.
Im Zentrum von Pikettys Analyse, heißt es in der Broschüre, steht das „Kapital-Einkommen-Verhältnis“. Piketty zufolge wachse der Vermögensbestand tendenziell schneller als die Einkommen, sodass das Kapital-Einkommen-Verhältnis zunimmt. Das komme laut Piketty daher, dass die Rendite auf Kapital („r“) im historischen Durchschnitt ungleich größer ist als das Wachstum der Wirtschaftsleistung beziehungsweise der Einkommen („g“), also r > g. Diese zentrale Formel gelte laut Piketty schon seit zweitausend Jahren. Doch erst mit dem technischen Fortschritt und der darauf basierenden Industrialisierung im 18. Jahrhundert habe es eine rapide Zunahme des ökonomischen Wachstums gegeben, sodass die Formel r > g zum ökonomischen und gesellschaftlichen Problem der ungleichen Entwicklung wurde, das am Vorabend des 1. Weltkrieges einen Höhepunkt erreicht hatte. Nach einer gewissen Nivellierung des Verhältnisses von Arm und Reich in der Folgezeit und im Gefolge der beiden Weltkriege sowie dank sozialer Zugeständnisse unter den Bedingungen der Blockkonfrontation sei das derzeit in den westlichen Industriestaaten herrschende Kapital-Einkommen-Verhältnis wieder fast so hoch wie am Vorabend des 1. Weltkriegs. Dies habe die seit der Weltwirtschaftskrise von 1973 veränderte politische Großwetterlage in den USA und Großbritannien bewirkt; Stichwort: Beginn der Phase des Neoliberalismus. Davon ausgehend zeichne sich heute ein Trend ab, „vor dessen verheerenden Folgen Piketty warnt: der Bedeutungsgewinn von Erbschaft als Vermögensquelle und der Bedeutungsverlust der ‚Leistung‘ als Einkommensquelle.“ 
All das, könnte man meinen, sollte Wasser auf die Mühlen links orientierter politischer Kräfte sein. Bereits auf einer Veranstaltung der Hellen Panke in Berlin trat der Hamburger Ökonom und Journalist Joachim Bischoff vor einigen Wochen mit einer verhaltenen Würdigung von Pikettys Buch auf. Besondere Bedeutung maß er Pikettys Vorgehen bei, sich bei der Materialbeschaffung für seine Untersuchung nicht auf öffentliche Angaben von Forschungsinstituten, Organisationen und Verbänden über das Einkommen der verschiedenen Bevölkerungskreise und seine Quellen zu verlassen, sondern die Daten direkt aus den Steuerunterlagen von Finanzämtern zu ermitteln. Dies könnte, so Bischoff, künftig weithin einen Wandel in der Arbeitsweise von Wirtschaftswissenschaftlern bewirken. Seine Gesamteinschätzung des Buches war eher ambivalent. Es bedürfe noch, so war herauszuhören, genaueren Durchdenkens. Immerhin aber habe Piketty mit seinem Buch bei der Elite dieser Gesellschaft eine ernsthafte Debatte über die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich beziehungsweise Superreich ausgelöst.
Kaufmann und Stützle wurden in ihrer Broschüre wesentlich schärfer mit der Kritik. Piketty, heißt es dort, greife die herrschende Wirtschaftsform – den Kapitalismus – zwar an, argumentiere aber nie antikapitalistisch. Die wachsende Ungleichheit sei bei ihm ein Gesetz des Reichtums per se, nicht der spezifisch kapitalistischen Form des Reichtums. Seine politischen Forderungen liefen nicht auf eine grundlegende Systemtransformation hinaus, sondern bloß auf einige Änderungen im Steuersystem, die den Kapitalismus stabiler machen sollen. Pikettys enorm konstruktive Kapitalismuskritik mache ihn anschlussfähig an den herrschenden Krisendiskurs.
Worin eine solche, bei Piketty vermisste, „grundlegende Systemtransformation“ bestehen sollte und wie sie erreicht werden könnte, legen die Autoren leider nicht dar. Sie offenbaren damit das Versagen der linken  Bewegung, die ihnen sichtbar am Herzen liegt, seit dem vor einem Vierteljahrhundert eingestellten realsozialistischen Versuch, die Theorie von Karl Marx zur Überwindung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit in die Praxis umzusetzen. Und so endet ihre Auseinandersetzung mit Pitetty fast resignierend: „Bleiben die … sozialen Kämpfe in der Krise aus, … dann bleibt Politik die Politik des Kapitals – und auch bescheidene Ziele wie eine Vermögenssteuer Illusion. Für Linke bleibt dann nur die Hoffnung,  dass ihre Argumente gehört werden, selbst wenn sie von liberalen Ökonomen wie Petty vorgetragen werden. Das ist wohl einer der Gründe, warum die Aufmerksamkeit für solche Bücher auch bei der Linken derart groß ist. Ob sich allerdings die Dinge in die richtige Richtung bewegen, darüber entscheiden nicht so sehr Bestseller und Feuilletondebatten, sondern soziale Kämpfe.“
An mangelndem Kampfeswillen und Opfern jeder Art, an Anstrengungen unzähliger Millionen auf dem Feld der Praxis während des ganzen 20. Jahrhunderts kann der ausbleibende Erfolg doch nicht gelegen haben! Also muss der praktische Misserfolg auf Fehler in der linken Theorie zurückgeführt werden! Und dies soll kein gegen Marx gerichteter Vorwurf sein! Der konnte nur eine Welt und eine Gesellschaft analysieren, wie sie zu seiner Zeit existierten. Aber sie haben sich grundlegend verändert, und darum muss Marx‘ Theorie nicht dogmenhaft interpretiert, sondern, unter Berücksichtigung der Veränderungen in der realen Welt, weitergedacht werden. Es fand nämlich während des ganzen 20. Jahrhunderts eine im Westen schleichende, im Osten abrupte Veränderung der Beziehungen der Menschen zu den Produktionsmitteln, zum Produkt der Arbeit und zueinander statt; sowohl technologisch als auch ökonomisch. Letzteres äußerte sich besonders in der Veränderung des Wesens des Geldes. Geld war zu Marx‘ Zeiten, in dessen Verständnis und in seiner Theorie als Edelmetall eine „allgemeine Ware“ mit eigenem Wert (als Produkt von Arbeit) und Gebrauchswert (wegen seiner Nützlichkeit). Im Maße wie das Edelmetall durch Papier (Banknoten) vertreten und dann ersetzt wurde, wurde das Geld zu einem Zeichen für (früher im Edelmetall vergegenständlichte) Arbeit für die Gesellschaft. Es war, marxistischer Theorie zufolge und solange die Noten gegen Gold eingetauscht werden konnten (z. B. 35 US-Dollar = 1 Feinunze Gold), Zeichen für so viel (gesellschaftlich durchschnittliche) Arbeit, wie in diesem Gold vergegenständlicht war. Als die USA 1971 das internationale Abkommen von Bretton Woods aus dem Jahre 1944 brachen und den Goldstandard des Dollars aufhoben, war dieses Geld – und alles auf den Dollar bezogene Geld - endgültig selbst keine Ware mehr und nur noch abstraktes Zeichen von Arbeit, die für die Allgemeinheit, die es als Zahlungsmittel anerkannte, geleistet wurde. Und von wie viel Arbeit? So viel, wie im Durchschnitt gearbeitet werden muss, um 1 Währungseinheit zu verdienen.
Dieses dem Wesen nach ganz neue Geld drückt zugleich veränderte Beziehungen der Produzenten zueinander und zum Produkt sowie zum von ihnen ja geschaffenen Produktionsfonds der Gesellschaft aus. Denn jedem, der über dieses Geld verfügt, soll entsprechende Teilhabe am gesellschaftlichen Gesamtprodukt, am gesellschaftlichen Reichtum gemäß seinem Bedarf und seiner Zahlungsfähigkeit gesichert sein, weil er diesen Reichtum mit geschaffen hat (was mit dem ihm gehörenden Geld ausgedrückt wird). Für die Gewährleistung dieser Sicherheit liegt die Verantwortung bei der Herausgeberin dieses Geldes, der Notenbank. Sie handelt im Auftrag und im Interesse der Allgemeinheit und hat, ganz allgemein gesprochen, finanzpolitisch zu sichern, dass der Reproduktionsprozess der Gesellschaft funktioniert. Geldangelegenheiten und der Umgang mit Geld sind damit nicht mehr ausschließliche Privatsache von Personen oder Vereinigungen, sondern müssen bestimmten Regeln gehorchen, damit sie dem gesellschaftlichen Ziel einer harmonischen Entwicklung nicht widersprechen..
Im Grunde ist die gesamte gesellschaftliche Reproduktion, da sie durch dieses neue Geld vermittelt ist, nicht mehr Angelegenheit von Privatleuten, sondern von Agenten der Gesellschaft. Sie handeln mit einem hohen Maß an Eigenverantwortung in einem zunehmend computergestützten System der Selbstregulierung auf der Basis von Gesetzen, Vorschriften und Regeln sozialer, ökonomischer und ökologischer sowie technologischer Art. Und die Unterschiede ihrer Beziehung zum produzierten Eigentum der Gesellschaft sind nicht mehr qualitativer, sondern quantitativer Art. (Auch Piketty ist dieser Ansicht und wird dafür von Kaufmann und Stützle besonders scharf kritisiert.) Mit kapitalistischer Warenproduktion, wie Karl Marx sie analysierte, hat das kaum noch etwas zu tun. Viel eher mit seiner Vision von der neuen Gesellschaft in seiner „Kritik des Gothaer Programms“: Der Einzelne erhält einen Schein, dass er soundso viel Arbeit geliefert hat, und zieht mit ihm aus dem gesellschaftlichen Fonds Produkte, die gleichviel Arbeit kosten.
Um das Wesen der heutigen Gesellschaft – vielleicht als Übergangsgesellschaft, die darauf harrt, ihren geistig-politischen und juristischen Überbau der gegebenen ökonomischen Basis anzupassen -  zu verstehen, könnte es hilfreich sein, diesen „Kapitalismus“ mit dem ehemaligen „Realsozialismus“ zu vergleichen. Zum Einen besteht der Unterschied zwischen beiden weniger in der Erwirtschaftung eines gesellschaftlichen Mehrprodukts (das hier wie dort erzeugt wird) als Voraussetzung möglicher Ausbeutung, sondern vor allem in dem viel höheren Maß an Eigenverantwortung des derzeitigen Unternehmertums (im Unterschied zu den damaligen Betriebsleitern und Generaldirektoren des Realsozialismus) in Bezug auf die Verwendung dieses Mehrprodukts. Das macht das System flexibler und anpassungsfähiger an die sich rasch verändernden Erfordernisse des technologischen Wandels. Andererseits verzichtet diese heutige (missverständlich noch immer als kapitalistisch bezeichnete) Gesellschaft unter dem Einfluss des Neoliberalismus auf eine stärkere sozialpolitische Orientierung und Regulierung durch zielgerichtete Umverteilung von Reichtum zu Gunsten des ärmeren Teils der Gesellschaft und Förderung gesamtgesellschaftlicher Anliegen durch die öffentliche Hand.  In dieser Hinsicht einen Wandel herbeizuführen kann nicht die Aufgabe einer neuen, zur Macht strebenden Klasse sein (die es nicht gibt), sondern liegt im objektiven Interesse aller Schichten der Gesellschaft (thematisiert bereits 1959 als Weg zum „Demokratischen Sozialismus“ im „Godesberger Programm“ der SPD, wenn auch nicht politökonomisch theoretisch begründet). Thomas Piketty mit seinem Buch ist Ausdruck dessen. Joachim Bischoff formuliert es in der neuesten Ausgabe von „Sozialismus“ so: „Bei allen kritischen Einwänden im empirischen Detail, die vorgelegten Daten zu Vermögen, Vermögensverteilung und Volkseinkommen markieren eine neue Qualität und setzen somit eine Zäsur in der wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Debatte. … Auch wenn die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse weder in Nordamerika noch in Europa eine tiefgreifende Reformpolitik erwarten lassen, bleibt Pikettys Position doch richtungsweisend: Der Trend zu immer größeren Vermögen und Einkommensungleichheit kann durch eine konfiskatorische Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen gebremst und schließlich gestoppt werden.“

[i] Stephan Kaufmann / Ingo Stützle, Kapitalismus: Die ersten 200 Jahre. Thomas Pikettys „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ – Einführung, Debatte, Kritik, Berts + Fischer, Berlin 2014, ISBN 978-3-86505-730-3, 109 S., 7,90 €





Zu meinem Beitrag „Piketty und seiner linken Kritiker“ schrieb Werner Richter am 23. 11. 2014 im Forum des „Blättchens“ folgenden Kommentar:

Man kratze nur ein bißchen an Pikettys Hülle, und ein Anhänger der „Pferdeäppeltheorie“ wird sichtbar in Gestalt des harmonisierenden Verteilungstheoretikers. Niemand leugnet ernsthaft die Daseinsberechtigung der  Verteilungstheorie. Aber als alleiniger Ansatzpunkt für den Wandel der Gesellschaft zu einer menschlicheren hat sie zu wenig Substanz.
Der Autor ordnet Marxens Theorie so ein: „…[Die Verhältnisse] haben sich grundlegend verändert, und darum muss Marx‘ Theorie nicht dogmenhaft interpretiert…“. Klingt harmonisch, ist es aber nicht. „…Veränderung der Beziehungen der Menschen zu den Produktionsmitteln“ … „…technologisch als auch ökonomisch…“… „Letzteres äußerte sich besonders in der Veränderung des Wesens des Geldes.“…“ Geld war zu Marx‘ Zeiten, in dessen Verständnis und in seiner Theorie als Edelmetall eine „allgemeine Ware“…“ ist die gebräuchliche Charakterisierung.
Hier haben wir eine  übliche Vereinfachung von Marx. Zum „Wesen des Geldes“: hier - nur Ware, also nur die quantitative Seite des Geldes. Wo bleibt Marxens vollständige Gelddefinition? Neue Geldformen sind nicht automatisch Ausdruck neuer PV oder umgekehrt, wie es der Beitrag suggeriert. Es steht im Hintergrund der Vorwurf, Marx habe den WTF nicht erkannt und beachtet. Dazu sei Hobsbawm (Wie die Welt verändern?) empfohlen.
„Mit kapitalistischer Warenproduktion, wie Karl Marx sie analysierte, hat [die jetzige Gesellschaft] kaum noch etwas zu tun. Viel eher mit seiner Vision von der neuen Gesellschaft in seiner „Kritik des Gothaer Programms“: ...“ Das ist eine völlig falsche Zuordnung der Marxschen Fiktion im "Gothaer Programm". Im Gegenteil, Marx kam nie in den Sinn, aus einer Formwandlung des Papiergeldes eine neue Gesellschaft zu folgern. Wäre auch paradox, weil seine Kapitalanalyse die Analyse der allgemeinen Warenproduktion einschließt, sodaß klar ist, solange Warenproduktion dominiert, kann keine neue Gesellschaft entstehen. Von einer Übergangsgesellschaft kann erst die Rede sein, wenn signifikanten Anteile einer Nichtwarengesellschaft neben der Warenproduktion bestehen und der Übergang zur ersteren die Gesamtlage bestimmt.
„Andererseits verzichtet diese heutige (missverständlich noch immer als kapitalistisch bezeichnete) Gesellschaft ... In dieser Hinsicht einen Wandel herbeizuführen, kann nicht die Aufgabe einer neuen, zur Macht strebenden Klasse sein (die es nicht gibt), sondern liegt im objektiven Interesse aller Schichten der Gesellschaft (thematisiert bereits 1959 als Weg zum „Demokratischen Sozialismus“ im „Godesberger Programm“ der SPD, wenn auch nicht politökonomisch theoretisch begründet). Thomas Piketty mit seinem Buch ist Ausdruck dessen.“ Richtig, Piketty folgt alten Vorstellungen a la Polanyi, hat also einen politischen, nämlich nichtökonomischen Ansatz. Darum nennt er seinen Weg "politische Ökonomie" anstelle "Wirtschaftswissenschaft", ein semantischer Trick. Ein theoretisches Anliegen (Marx) wird zur Farce (Piketty). Dem entspricht auch logisch die vollständige Abstinenz eindeutiger Kategorien. Er zieht beliebig gewählte Begriffe mit unklarer Definition (Kapital, Nationaleinkommen) vor. So holt er die sagenhafte Formel aus der Versenkung: "r>g", eine Binsenweisheit, die er sehr einseitig interpretiert und die so untauglich wird, als Zentrum seiner Theorie. Bei deren Anwendung bezichtigen ihn Ökonomen jedoch der Tautologie. Gewaltige Leistung. Mein alter Mentor Helmut Faulwetter hätte gesagt: Keine echten theoretischen Erkenntnisse, aber die Fleißarbeit ist anzuerkennen. Es ist schon kurios, wenn Piketty den Begriff „Wissenschaft“ für seine Theorie wohl aus gutem Grunde ablehnt, den Mill und Polanyi, denen er kopierend folgt, diese Einordnung heftig für sich reklamierten.



Dazu hier meine Erwiderung am 26. 11. 2914 im Forum des "Blättchens":

Natürlich geht es um eine neue Qualität!

Lieber Werner Richter, Dank für Ihren Kommentar vom 23. November! Wiederholung soll ja die Mutter der Weisheit sein, auch was das Nachdenken darüber, was in der Wirtschaft vor sich geht und was die Politik in Bezug auf die Wirtschaft zu tun hat, betrifft. Ich fasse mich in meiner Erwiderung auf Ihre Ausführungen so kurz wie möglich und konzentriere mich auf die Frage des Geldes.

Erstens: Ich betrachte durchaus nicht „nur die quantitative Seite des Geldes“. Im Gegenteil! Sein verändertes Wesen, nämlich nicht mehr (allgemeines) Äquivalent zu sein, drückt eine neue Qualität aus. Es ist beziehungsweise hat keinen eigenen Wert, vertritt solchen auch nicht (zum Beispiel den des Goldes), sondern ist zur direkten Information über gesellschaftliche Durchschnittsarbeit und Anspruch darauf geworden. Darin äußert sich auch eine neue Qualität der Beziehungen zwischen den Menschen im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess, der mittels dieses Mediums der (Zentral-)Bank reguliert wird. Das ist nicht nur eine „neue Geldform“, sondern der Sache und Funktionsweise nach etwas anderes als das Geld des 19. Jahrhunderts. Zentrale gesellschaftliche Regulierung ist heute nicht nur eine Notwendigkeit, sondern weitgehend auch Realität geworden – wenn auch noch mit völlig ungenügender Konsequenz. Insbesondere mangelt es an der Erkenntnis, dass der Umgang mit diesem neuen „Geld“ nicht mehr eine private, sondern eine gesellschaftliche Angelegenheit ist und gesellschaftlicher Regeln und Regulierung bedarf, beispielsweise die Einkommen und die Verfügung darüber betreffend. Und dies gilt nicht nur im nationalen Rahmen, sondern wenigstens auch für ganze Währungszonen wie den Euro-Raum (Stichwort beispielsweise: Länderfinanzausgleich). Finanzminister Schäuble hingegen glaubt, in seinem Sparwahn den anderen EU-Ländern ein Vorbild sein zu müssen. Dem Schwaben steckt der Zwang zum Sparen tief im Blut. Er hat es von der Pieke auf so gelernt, und seine Vorstellungen vom Geld und vom Wirtschaften sind eben noch die voriger Jahrhunderte.

Zweitens: Man mag die Sache so sehen und verstehen wie ich oder wie Sie, lieber W. Richter. Die allermeisten Zeitgenossen scheinen ohnehin nur (dies oder das oder sonst was, gewöhnlich das Althergebrachte) zu glauben und nur der äußersten Not gehorchend dementsprechend, meist blind, zu handeln. Leider und vor allem wohl auch die Politiker!
Was dabei die ganze ehemals und heute sozialistisch orientierte Bewegung betrifft, so wäre gerade für sie wichtig, die Gräben zu überwinden, die vor etwas mehr als hundert Jahren ihren Ursprung in zunächst theoretischen und dann politisch-praktischen Meinungsverschiedenheiten hatten. Bezeichnend dafür war die Auseinandersetzung zwischen Rosa Luxemburg und Eduard Bernstein. Mir scheint heute die Zeit reif zu sein, nach ersten praktischen politischen Versuchen auch in theoretischer Hinsicht durch neues Denken die Basis gemeinsamen Handelns zu festigen. Dies war zwar nicht der Zweck meiner umstrittenen Überlegungen, doch ihr Ergebnis führte mich zu auch für mich zuvor nicht erwarteten Schlussfolgerungen. Ihr Kern: Bei einer auch theoretisch begründeten Überwindung alter Feindschaften kann eine überwältigende gesellschaftliche Basis geschaffen werden, um dieser in ihrer ökonomischen Basis bereits entstandenen neuen Gesellschaft ihr absurd-kapitalistisches Antlitz zu nehmen und durch Reformen im Wirtschaftsrecht und Finanzwesen einen von den gesellschaftlichen Bedürfnissen geprägten Charakter zu geben (Stichwort: Überwindung des Wachstums- und Verwertungswahns durch ein Wirtschafts- und Finanzrecht, das den heutigen Erfordernissen gerecht wird).

 

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