Von
Heerke Hummel
(Erschienen in: „Das Blättchen“, Nr. 10/2016 - http://das-blaettchen.de/2016/05/sklaven-von-googlesklaven-der-gier-und-der-angst-35970.html)
Eigentlich weiß es jeder: Die Welt, in der wir heute
leben, ist längst nicht mehr die, die wir Älteren vor etwa fünfzig Jahren
erlebten, geschweige denn wie sie sich vor hundert Jahren darstellte. Nun
deutet sich wieder ein Umbruch an. Worum es geht, machte unlängst die
US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff deutlich. In der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung (3. März 2016) erklärte sie nicht nur, „wie wir
Sklaven von Google wurden“. Sie machte auch deutlich, wohin die Reise im Zug
des 21. Jahrhunderts ihrer Meinung nach zu gehen droht.
Für manchen mag es neu sein, dass Google nicht immer
eine Gewinn bringende Unternehmung war. S. Z. erklärt anschaulich, wie es kam,
dass aus einer hoch kreativen Unternehmung ein hoch profitables Unternehmen,
ein Gigant unter den Wirtschaftsriesen wurde: Google erfand ein Produkt, dessen
„Rohstoff“ kostenlos in Gestalt anfallender Daten zum Suchverhalten der Nutzer der
Suchmaschine entstand. Diese Datensammlungen wurden genutzt, um die eigene
Suchmaschine durch einen ständigen Lernprozess zu verbessern. Dabei wurden in
Wechselwirkung mit der Werbeindustrie erstaunliche analytische Fähigkeiten zur Verhaltensvorhersage entwickelt. Shoshana Zuboff
sieht darin die Gefahr möglicher Manipulierbarkeit des menschlichen Verhaltens.
Beispielsweise führt sie dem Leser vor Augen, dass durch den Zugang zu Daten
über den Echtzeitfluss unseres täglichen Lebens etwa im selbst fahrenden Auto
nicht nur die Fahrtroute berechnet, sondern auch ein Ziel vorgeschlagen werden
kann. Damit sieht sie die Prinzipien der Selbstbestimmung des Menschen in Frage
gestellt, wie sie sich im Verlaufe von Jahrhunderten und Jahrtausenden
herausgebildet haben. Nicht mehr Angebot und Nachfrage auf der Basis
tatsächlicher Bedürfnisse könnten das ökonomische Geschehen bestimmen, sondern
gestaltete Märkte würden manipulierten Bedürfnissen entsprechen.
Sehen wir uns nicht schon heute weitgehend in einer
solchen Situation? Massenkonsum hat Gruppenzwänge erzeugt, und Gruppenzwänge
haben Massenkonsum befördert. Auf der
Strecke geblieben sind dabei die soziale, die ökonomische und die ökologische
Vernunft. Auch die politische, weil die Politik nicht mehr versteht, was da in
der Wirtschaft eigentlich vor sich geht, und sich darum dem Lobbyismus ergeben
muss anstatt die Wirtschaft zu steuern. Die menschliche Gesellschaft als ganze
hat sich bereits seit langem zum Sklaven gemacht – nicht nur von Google,
sondern eines Prinzips, das da heißt: Kapitalverwertung statt Befriedigung
gesellschaftlicher Bedürfnisse als Ziel der Produktion, schrankenlose
Ausbeutung unseres Planeten bis zum Verlust seiner Bewohnbarkeit anstelle
sinnvoller Bewirtschaftung der Mutter Erde.
Und das soll erst der Anfang eines neuen ökonomischen
Monsters sein? Shoshana Zuboff nennt es Überwachungskapitalismus.
Und sie charakterisiert ihn als eine gänzlich neue Art von Kapitalismus, als
eine systemisch zusammenhängende neue Logik der Akkumulation. Deren Grundlage sei
„eine beispiellose Form von Markt, die im rechtsfreien Raum wurzelt“. Die
schlimmsten Nachteile dieser erneuten Mutation des Kapitalismus - der einst Profite aus Produkten und
Dienstleistungen schlug, dann aus Spekulation und nun in seiner neuesten Form aus
Überwachung - lassen sich nach Ansicht der Wissenschaftlerin nur schwer
erkennen und theoretisch erfassen. Denn alles laufe mit extremer
Geschwindigkeit ab und werde durch teure, nicht zu entschlüsselnde
Rechenoperationen sowie geheime betriebliche Praktiken verschleiert. Hinzu käme
eine rhetorisch meisterhafte Irreführung.
Das klingt nach scharfer Kritik. S. Z. denkt sogar an Widerstand
und Aufstand: Nur „eine soziale Revolte, die den mit der Enteignung des
Verhaltens verbundenen Praktiken die kollektive Zustimmung entzieht, wird dem
Überwachungskapitalismus die Grundlage entziehen können“, schreibt sie und
zeigt damit großes Engagement. Doch sie möchte zurück! Wir müssten herausfinden, heißt es weiter, „wie wir in die
spezifischen Mechanismen der Erzielung von Überwachungsprofiten eingreifen und
dabei der liberalen Ordnung im
kapitalistischen Projekt des 21. Jahrhunderts wieder den Vorrang sichern
können.“ (Hervorhebung von H. H.) Und wie stellt sie sich das vor? Sie argumentiert so: Mit dem Vorwurf der
Monopolbildung gegen Google oder andere Überwachungskapitalisten vorzugehen
hieße, ein Problem des 21. Jahrhunderts mit einer Lösung des 20. Jahrhunderts
anzugehen. Darum bräuchten wir „neuartige Eingriffe, die zentrale Faktoren
dieses Modells (des Überwachungskapitalismus - H. H.) behindern, verbieten oder
einer Regulierung unterwerfen“.
Das klingt überzeugend. Doch man bedenke, dass die
Geschichte massenhaft Beispiele dafür liefert, dass bahnbrechende Neuerungen
vehement bekämpft wurden aus Angst vor ihren Folgen. Bei Beginn des
Eisenbahnwesens etwa befürchteten Skeptiker, die vorbeifahrenden, dampfenden
und fauchenden Ungeheuer könnten das Vieh auf den Weiden ausbrechen lassen; den
Fahrgästen müsste übel werden bei Geschwindigkeiten um die dreißig Meilen pro
Stunde.
Abgesehen davon, dass Verbote nur selten zu
dauerhaftem Erfolg führen, ist hier zu fragen, welche Ursachen denn die
Datenanalyse so problematisch werden lassen und welche Bedeutung vielleicht die
Verhaltensvorhersage für eine wirklich demokratisch organisierte Gesellschaft
haben könnte. Die von Shoshana Zuboff gesehenen Gefahren der Datenanalyse von „Überwachungskapitalisten“
resultieren doch gerade aus der spezifisch kapitalistischen Art und Weise der
Produktion gesellschaftlichen Reichtums, also auch der Erzeugung und des
Gebrauchs von Verhaltensvorhersagen. Aber gerade dieses „kapitalistische
Projekt“ möchte die amerikanische Professorin für Betriebswirtschaftslehre für
nochmals hundert Jahre gesichert sehen. Das würde dann bedeuten: Nochmals
hundert Jahre kapitalistischer Konkurrenzkampf, Kampf um Sein oder Nichtsein,
Zwang zu unbegrenztem Wachstum, Zerstörung unserer Umwelt wie auch des
gesellschaftlichen Zusammenhalts durch noch tiefere Spaltung infolge von noch
weniger Solidarität. Kampf ums Dasein (hat diese Gesellschaft das Entwicklungsstadium
der Wildheit wirklich schon verlassen?) gebiert die Angst vor dem Untergang und
befördert die Gier, weil nur die Starken überleben. Damit wäre die eigentliche Gefahr
für die Menschheit von heute benannt: Angst und Gier als Folgen des Wolfsgesetzes
kapitalistischer Produktions- und Denkweise.
Und woher könnte die Befreiung, die Beseitigung des von
Shoshana Zuboff beschriebenen Übels kommen? Die Lösung müsste wohl heißen: Ersetzung
des kapitalistischen Konkurrenzkampfes durch das Prinzip der gesellschaftlichen
Solidarität, bestmögliche Versorgung aller durch Kooperation anstelle privater
Gewinnmaximierung auf einem „wilden“ Markt als Ziel der Produktion.
Mehrfach schon habe ich meine Ansicht geäußert und
begründet, dass die ökonomische Basis unserer Gesellschaft ihrem Wesen nach spätestens
seit 1971 durch die Beendigung der Golddeckung des Geldes einen qualitativen
Wandel erfahren hat. Ihre Erklärung bedarf einer Weiterentwicklung, eines
Weiterdenkens der ökonomischen Analyse von Karl Marx im „Kapital“. Das heutige Geld als Nachweis oder Ausweis
eines geleisteten Beitrags an normaler gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit
zur Schaffung des Reichtums der Gesellschaft einerseits und Ausdruck des
Anspruchs auf entsprechende Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum
andererseits ist zu einem gesellschaftlichen
Instrument geworden. Seine Schaffung, Entstehung, Ausgabe und die Art und Weise
seiner Nutzung kann nicht Privatsache ökonomisch agierender Individuen oder
Vereinigungen sein. Es bedarf gesellschaftlicher Regeln für seine Nutzung und
seinen Einsatz, damit das gesellschaftliche Leben, vor allem die
gesellschaftliche Produktion in ihrem Fluss als Reproduktion einigermaßen
stabil abläuft.
In seiner beschriebenen, heutigen Art ist das Geld
auch Instrument der Verteilung. Und diese gilt es so zu gestalten, dass nicht
nur ein Anreiz zur Schaffung des Reichtums der Gesellschaft gegeben wird,
sondern auch die Möglichkeit und die Voraussetzung für dessen kontinuierlichen Verbrauch. Die
Gesellschaft als ganze kann Überschüsse an Gütern in ihrer Naturalform nicht
beliebig lange aufbewahren, also sparen, weil sie verderblich sind oder
technisch veralten. Eine Einkommensverteilung, welche die Gesellschaft immer
mehr in Arm und Reich spaltet, missachtet diese ökonomische Grundwahrheit. Und
sie ist Ausdruck einer ungeheuren Zukunftsangst, Gier und auch Dummheit derjenigen, die sich
(auf Kosten einer großen Mehrheit) bereichern. Für nichts von all dem sind sie
zu beneiden.
Was gilt es also zu verändern? Unsere Rechtsordnung
bezüglich der Wirtschaft! Denn es kann kein Menschenrecht auf unbegrenzten
Reichtum geben. Unser Planet darf nicht ökonomisch zugrundegerichtet und in die
gesellschaftliche Katastrophe geführt werden. Dazu muss unser Rechtssystem
notwendige Grenzen setzen - auch was die Einkommens- und Vermögensbildung
betrifft. Denn die bis 1971 durch den Goldstandard des Geldes gesetzten Grenzen
sind verlorengegangen, haben sich aufgelöst in einem rund hundertjährigen Transformationsprozess
der Wirtschaft, dessen formaler Abschluss der Bruch des Abkommens von Bretton
Woods war. Wenn heute Vorstände von Banken und Konzernen wie VW, nachdem sie
mit teils krimineller Energie Milliardenschäden angerichtet und die Wirtschaft
an den Rand der Katastrophe geführt haben, nicht nur nicht zur Verantwortung
gezogen werden, sondern ihre geradezu absurden, von ihnen nicht mehr zu verbrauchenden
Einkommen weiterhin beziehen, ja sogar weiter erhöhen können, ist die
Demokratie massiv in Frage gestellt. (Manche sprechen schon von einem neuen,
Finanzfeudalismus.) Und wenn dies wiederum keinen nennenswerten Widerstand
bewirkt, so sind wir offenbar von der kollektiven Angst befallen, die weit
verbreitete und wohl zur Normalität gewordene Gier zügeln zu müssen. Woher
kommt diese Angst? Das tiefere Wesen unserer wirtschaftlichen Existenzbedingungen
ist nicht begriffen worden. Wir sind Sklaven infolge ökonomischen Unverstands
und politischer Feigheit. Wir fürchten sogar die eigenen ökonomischen Daten und
Verhaltensvorhersagen. Bei realer demokratischer Kontrolle ließe sich gerade mit
denen die ökonomisch-ökologische Entwicklung in einem breiten
gesellschaftlichen Konsens steuern anstatt sie dem Wildwuchs im Chaos der
jetzigen Konkurrenzkampfgesellschaft zu überlassen.
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