Von
Heerke Hummel
(Erschienen in: „Das Blättchen“, Nr. 14/2016 - http://das-blaettchen.de/19-jahrgang-2016/14-2016.html)
In Großbritannien gab es ein Donnerwetter, und durch
die westliche Hemisphäre ging eine Schockwelle. Schon tags darauf nahm die
Entscheidung einer knappen Mehrheit der Briten, die Europäische Union verlassen
zu wollen, Züge einer Posse der Weltgeschichte an. Im Kampf zweier Rivalen um
die Macht und um die Gunst des Wahlvolks hatte man den Beschluss über eine so
wichtige Streitfrage wie die nach dem Verbleib des Landes in der EU der
Wählerschaft überlassen. Dies wurde sogar zu einem Ausdruck von in dieser
Gesellschaft herrschender Demokratie hochstilisiert - in einer Gesellschaft, in
der aber auch alles zur Sache hochgradig spezialisierter Experten geworden ist!
Das ist so wie wenn ein Herzkranker seinen Klempner fragte, ob ein
Herzschrittmacher angeraten sei; nur, dass es sich beim Brexit um ein in
höchstem Maße komplexes Problem handelt. Mit dem so gern angerufenen „mündigen
Bürger“ hatte das Referendum hinterm Kanal wenig zu tun. Es ging nicht um Leben
oder Tod, Frieden oder Krieg, in den ein Mann ziehen will oder nicht, wie im
antiken Griechenland. Über so eindeutige Angelegenheiten darf das Volk schon
lange nicht mehr entscheiden.
Das jetzige Ergebnis des Referendums hat innerhalb und
außerhalb des Vereinigten Königsreichs weitestgehend überrascht, vor allem auch
diejenigen, die in gutem Glauben an die Vernunft der Mehrheit es nicht der Mühe
wert hielten, zur Wahl zu gehen. Sogar bei den Befürwortern des Austritts
scheint sich der Jubel in Grenzen zu halten. Wer der amtierenden Regierung und
vielleicht auch den EU-Oberen nur einen Denkzettel verpassen wollte, hat nun
selber Grund nachzudenken. So verwundert es nicht, dass schon achtundvierzig
Stunden nach Feststellung des Wahlergebnisses zweieinhalb Millionen Stimmen für
ein neues, Wiederholungsreferendum gesammelt waren. Die Schotten, mehrheitlich
für einen Verbleib in der EU, wollen nun einen neuen Anlauf für einen Austritt
aus dem Königreich unternehmen, damit sie in der Europäischen Union bleiben können.
Und
die britische Regierung hat es nicht eilig, dem nicht gewollten „Willen des
Volkes“ zu entsprechen und den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen
Union definitiv zu beantragen. Zwei Jahre hat sie für Verhandlungen über die Bedingungen
dieses Aktes Zeit. Die, meint man, könne genutzt werden, um die EU unter Druck
zu setzen und ihr fürderhin Vergünstigungen abzuringen. Aus dem übrigen Europa
tönt es quer durch die Union, durch Institutionen und Parteien „Hü!“ und „Hot!“
Die einen drücken auf Tempo von Austrittsverhandlungen, andere mahnen Ruhe und
Bedachtsamkeit an. Ungarns Wirtschaftsminister M. Varga bereitet gar schon „ein
Willkommenspaket für Unternehmen vor, die nach der Brexit-Entscheidung der
Briten das Land verlassen werden“, und schloss nebenbei einen Austritt Ungarns
aus der EU aus. Europa macht den Eindruck von Kopflosigkeit und Zerstrittenheit
allerorten. In Übersee macht sich US-Präsident Obama vor allem Sorgen um – wen
wundert’s? – das Geld. Die
Vereinigten Staaten würden sich mit den europäischen Verbündeten weiter
abstimmen, um die Stabilität des globalen Finanzsystems sicherzustellen, erklärte
er vor Studenten in Kalifornien. Sogar der Papst meldete sich zu Wort und
warnte, mit Blick etwa auf Schottland und Katalonien, vor einer "Balkanisierung" Europas durch
weitere Austritts- und Abspaltungsbestrebungen. Damit die EU ihre Kraft
zurückerlange, müsse sie offen sein für "Kreativität und gesunde Zwietracht". Sie müsse den
Mitgliedstaaten zudem "mehr Unabhängigkeit, mehr Freiheit" geben.
Nach
gründlicher Analyse und daraus abgeleiteter Strategie klingen solche Aussagen
nicht, eher nach Feuerwehraktionen. Auch
die ersten Reaktionen aus Berlin und den anderen EU-Metropolen lassen demnächst
kaum mehr erwarten. Die EU leidet an ihren inneren Widersprüchen und daraus
resultierenden Interessengegensätzen. Vor allem geht es dabei um die Erzeugung
und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, von dem wir alle als
Gemeinschaft leben. Wenn wir Deutschen diese Gemeinschaft wirklich wollen (und
wir müssen sie wollen, weil wir sie brauchen), dann müssen wir auch bereit sein
zu teilen – sowohl was die Arbeit als auch was die Konsumtion betrifft. Und
dies wird, wie die Geschichte lehrt, nicht im Wildwuchs von Märkten zu
erreichen sein, sondern muss demokratisch bewusst organisiert, gestaltet
werden. Dementsprechend gilt es das System der Europäischen Union umzugestalten.
Was gebraucht wird ist eine Regulierung der innereuropäischen Reproduktion mit ökonomischen,
finanziellen Mitteln anstelle kleinlicher Vorschriften. Eine zentrale Rolle
dürfte dabei die Europäische Zentralbank in Gestalt einer obersten Finanzbehörde
spielen. Sie hätte – entsprechend den sachlichen Erfordernissen beziehungsweise
Strukturempfehlungen einer europäischen Planungsinstitution – Geld zur
Verfügung zu stellen und so umzuverteilen, dass die geistigen und sachlichen
Ressourcen dieser Gemeinschaft vollständig für die Befriedigung ihrer
Bedürfnisse entfaltet und genutzt werden können.
Voraussetzung
einer solchen Strategie wäre ein neues ökonomisches Denken, das nicht auf
Wachstum und Kapitalverwertung als Selbstzweck zielt. Ein Denken in dem
Bewusstsein, dass die Billionen auf beiden Seiten des großen, allgemeinen Kontos von Soll und Haben in
der Summe immer Null ergeben und dass wahrer Reichtum immer von sachlicher, zu
gebrauchender, bedürfnisbefriedigender Natur ist! Er lässt sich nicht sparen,
sondern muss ständig neu, also reproduziert
und konsumiert werden; und zwar von allen. Darum ist die von Deutschland
betriebene und vehement verteidigte Sparpolitik, verbunden mit einseitiger
Exportoffensive, desaströs für Europa und – neben anderen auch - eine
bedeutende Ursache des europäischen Dilemmas. Bislang sieht es leider nicht
danach aus, dass dies in Berlin begriffen beziehungsweise in absehbarer Zeit
danach gehandelt wird. Doch gerade von hier müssten die entscheidenden
Initiativen für Systemveränderungen in der Europäischen Union ausgehen.
So gesehen
werden die nächsten Verhandlungen in Brüssel und sonst wo nicht zum Ende des
derzeitigen Theaterstücks auf der europäischen Bühne führen, sondern nur den
nächsten Akt der Tragödie Europas einleiten. Das Gezänk wird weitergehen, aber
die Spannung dahin schwinden, wenn anstelle von Fortschritten
Zerfallserscheinungen die Handlung dominieren. Dann könnte es zu einem Ende
ohne Applaus kommen und das Volk – nun wieder als Akteur in der Realität - sich
einem anderen Stück mit ganz neuen Angeboten zuwenden.
Den Briten
ist insofern zu danken, als sie der EU den Ernst der Lage in der Wirklichkeit vor
Augen geführt haben. Die da den Brexit wählten, waren zumeist älteren
Semesters. Zufall? Wohl kaum! Sie dürften noch von der Denkweise aus der
Frühzeit des Kapitalismus geprägt, vielleicht auch seine Nutznießer (gewesen) sein
– auf Kosten anderer. Nun, da weltweit von Teilen die Rede ist, fürchten sie
irrtümlicherweise um ihr Gespartes. Dass ihr heutiger Wohlstand von der heutigen,
jüngeren Generation, dank und innerhalb der EU geschaffen wird, übersehen sie
mit ihrem Bild von einer Gesellschaft, in der – im Großen, Nationalen, wie im Kleinen,
Persönlichen - jeder seines eigenen Glückes Schmied ist. Dieser Individualismus
ist Teil ihres geistigen Erbes und natürlich nicht nur den Briten eigen. Er ist
die Frucht von Bildung und Erziehung über Jahrhunderte, an der die
Gesellschaftswissenschaft, vor allem auch die ökonomische, bis heute
bedeutenden Anteil hatte und besonders in Gestalt des Neoliberalismus noch hat.
Freiheit ist das große Modewort, sogar der Papst bedient sich seiner, eben auch
im Zusammenhang mit der Europäischen Union und ihrer Krise. Von der
Notwendigkeit wird ungern gesprochen. Sie wird als Zumutung empfunden und gern
anderen überlassen.
Nach einem
Jahrhundert mit zwei Weltkriegen und anderen furchtbaren Krisen hat sich die
Mehrheit der Staaten Europas endlich in einer Union zusammengerauft, um das
Zusammenleben der Völker gemeinsam, friedlich und zum Wohle aller zu gestalten.
Das erfordert Einordnung aller, nicht Unterordnung der einen unter die anderen.
Ob die weiteren Verhandlungen in und um Brüssel herum davon geprägt sein
werden, ist fraglich.
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