Egon Krenz, wie er China sieht
Von
Heerke Hummel
(Erschienen in: "Junge Welt", 11. Juni 2018, gekürzt unter "Eine ernste Partei")
(Erschienen in: "Junge Welt", 11. Juni 2018, gekürzt unter "Eine ernste Partei")
Das öffentliche Interesse war groß, als Egon Krenz
sein Buch „China, wie ich es sehe“[i] vorstellte. Der Saal im Berliner
Karl-Liebknecht-Haus war überfüllt. Was hat gerade dieser Mann heute über
dieses umstrittene Land und seine von Vielen nicht weniger beargwöhnte
Kommunistische Partei zu sagen? Um es gleich vorweg zu nehmen: Er bewundert China
und seine Führung. Kein Wunder, werden jene sagen, die in ihm noch immer den
Hardliner in der SED-Führung und Verantwortlichen für „Schießbefehle“ sehen,
der nicht zu Kreuze kriechen und sich Asche aufs Haupt streuen wollte. Erstaunlich
werden es vielleicht jene finden, die meinen, die DDR würde es noch geben, wäre
dieser Staat nicht von reformunwilligen Betonköpfen geführt worden.
Krenz‘ Buch könnte den einen oder anderen vielleicht
etwas nachdenklich machen. Der Autor beginnt mit Betrachtungen zum Anlass
seiner China-Reise im Herbst vergangenen Jahres – einer Einladung zu einer
Konferenz der Akademie für Gesellschaftswissenschaften der VR China zum 100.
Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution. Da werden das
politische Fundament und der gesellschaftliche Rahmen des chinesischen
Aufschwungs beschrieben und die bedeutenden wissenschaftlich-technischen und
ökonomischen Erfolge, insbesondere bei der Bekämpfung von Hunger und Armut,
beleuchtet. Doch es wird auch gezeigt, vor welchen Herausforderungen
ökonomischer, ökologischer und politischer Art das Land noch steht. Aber der optimistische
Grundgedanke, der die ganze Schrift durchzieht, ist eine Weiterentwicklung und
Erneuerung des Marxismus im 21. Jahrhundert durch die chinesische Führung. Die
Grundlage dafür, so Krenz, wurde schon vor hundert Jahren durch Lenin gelegt,
auf den sich auch die heutige chinesische Führung noch beruft.
Das wohl am meisten Beeindruckende an China ist für
den Autor die Einheit von Kontinuität und Erneuerung im Denken der chinesischen
Parteiführung, die ihre Geschichte wirklich aufgearbeitet habe, indem sie sich
in einer breiten, öffentlichen Diskussion mit den Ursachen von Fehlern unter
Mao auseinandersetzte und Schlussfolgerungen für die Zukunft zog. Fixiert sind
diese in den Programmen, die den chinesischen Weg zum Sozialismus prägen. Dabei
werde der Begriff Marktwirtschaft immer mit dem Adjektiv „sozialistisch“
gebraucht, was wohl zu bedeuten habe, „dass die führende Rolle der Partei in
der Lage sei, negative Auswirkungen der Marktwirtschaft im Zaume zu halten.“
Und weiter heißt es bei Krenz: „Die Kommunistische Partei Chinas hat sich bei
der Öffnung des Landes nicht überrumpeln
lassen. Chaos wie in Gorbatschows und Jelzins Russland hat es in China bei der
Öffnung nicht gegeben.“ Generalsekretär Xis Zusammenfassung der ungelösten
Probleme und die Orientierung zu ihrer Überwindung habe einem Hinweis Lenins
geglichen, „den wir in der SED vernachlässigten: ‚Einen Fehler offen zugeben,
seine Ursachen aufdecken, die Umstände, die ihn hervorgerufen haben,
analysieren, die Mittel zur Behebung des Fehlers sorgfältig prüfen – das ist
das Merkmal einer ernsten Partei.‘“ Egon Krenz benennt solche Fehler und Fehleinschätzungen
der SED-Führung unter Erich Honecker, der auch er selbst angehört habe, in der
Auseinandersetzung mit Auffassungen von Walter Ulbricht. Dabei sei man in die
Falle von Wünschen und Illusionen getappt. Darum beruhige es ihn zu sehen, dass
die chinesische Führung am Marxismus-Leninismus festhält, denn sie verstehe ihn
unverändert als Kompass für den „Sozialismus chinesischer Prägung“. Und ihn
beeindruckt der Weitblick, mit dem sie gesellschaftliche Entwicklungen angeht,
der Zeitraum, mit dem die Führung strategische Ziele anvisiert und tatsächlich
führt.
Diesen chinesischen Weitblick belegt der Autor zum
Beispiel mit Auszügen aus der jüngsten Parteitagsrede von Xi Jingping, in
welcher dieser die Völker der Welt zu einer koordinierten Entwicklung unseres
Planeten aufrief. An alle Völker wird appelliert, mit vereinten Kräften eine
Schicksalsgemeinschaft der Menschheit zu gestalten und eine Welt aufzubauen,
die durch dauerhaften Frieden, allgemeine Sicherheit, gemeinsame Prosperität
sowie Offenheit und Inklusion gekennzeichnet ist. Es gelte, so Xi, sich
gegenseitig zu achten und auf Augenhöhe zu konsultieren, das Denkmuster aus der
Zeit des Kalten Krieges und die Machtpolitik über Bord zu werfen sowie einen
neuen Weg der zwischenstaatlichen Kontakte einzuschlagen, der durch Dialog
statt Konfrontation und durch Partnerschaft statt Bündnisbildung gekennzeichnet
ist.
Der chinesische Parteichef und Präsident schlug ferner
vor, die Entwicklungsländer stärker zu unterstützen, um zum Abbau des
Nord-Süd-Gefälles beizutragen, Freihandelszonen und eine offene Weltwirtschaft
aufzubauen. Da mag sich mancher Leser fragen, ob das alles nicht propagandistische
Illusionen sind und wie da Vernunft zum Zuge kommen sollte. Doch er wird
Aufklärung ebenfalls bei Xi finden: Dieser spricht von einem durch gemeinsame
Konsultation, gemeinsamen Aufbau und gemeinsames Gewinnen gekennzeichneten
Konzept des globalen Regierens. Könnte das nicht vielleicht ein Konzept zur
Durchsetzung des Primats der Politik über die Ökonomie in globalem Maßstab und
im Interesse aller Erdenbürger sein? China jedenfalls, so hieß es in der
Orientierung des Parteitags der KPCh, befürwortet die Demokratisierung der
internationalen Beziehungen und hält daran fest, dass alle Länder
gleichberechtigt sind. Es unterstützt die aktive Rolle der Vereinten Nationen,
ist für mehr Repräsentativität und Mitspracherecht der Entwicklungsländer in
den internationalen Beziehungen.
Könnte solches Denken als ein neues Verständnis vom
Marxschen proletarischen Internationalismus entsprechend den Bedingungen des
21. Jahrhunderts angesehen werden? So direkt formuliert es Egon Krenz nicht.
Aber der Gedanke kommt einem bei der Lektüre seines Buches des Öfteren,
beispielsweise auch, wo der Autor sich mit der Frage auseinandersetzt, wie die
chinesischer Führung gesellschaftliche Widersprüche zu lösen und das
Vertrauensverhältnis zwischen Volk, Staat und Partei zu festigen versucht. Da
spielen der Sinn des Lebens und die Suche nach einem lebenswerten Sozialismus
eine Rolle, aber eben auch die Feststellung, dass es ohne die Führung durch die
kommunistische Partei keine sozialistische Demokratie gebe. Wichtig scheint dem
Autor, wie eine regierende Partei mit der Macht umgeht. Und er zitiert den
chinesischen Generalsekretär mit den Worten: „Wir müssen dem Volk die Kontrolle
über die Macht sichern, damit die Machtausübung transparent verläuft und die
Macht in den ‚Käfig‘ des Regelwerkes gesperrt wird.“
Dies alles nur leere Versprechen? Für E. Krenz
beweisen die Erfolge Chinas einerseits und die Widersprüche in der Welt von
heute andererseits, dass die Lehre von Marx, Engels und Lenin „nicht obsolet“
ist. Diese Denker seien nicht schuld daran, dass es den europäischen
Sozialismus nicht mehr gibt. „Eher waren Leute wie ich, die große Verantwortung
trugen, schuld daran, dass der Marxismus-Leninismus bei uns zu oft nur ein
Dogma blieb“, stellt er sehr selbstkritisch fest. Er kann - und er will es auch
gar nicht - keine theoretische Begründung für seine Einschätzungen geben. Er
sei kein Ökonom oder gar Volkswirt und könne die Wirkung der chinesischen
Politik von „Reform und Öffnung“, von „Sozialistischem Marktwirtschaftssystem“
einerseits und „Teilnahme an der Weltwirtschaft“ andererseits fachlich nicht
beurteilen. Er sehe aber in der Ausnutzung der Gesetze des Marktes und entsprechender
kapitalistischer Methoden keine Rückkehr zum Kapitalismus, solange die
Ergebnisse dem Wohl des Volkes dienen. Krenz verlässt sich nach eigener Aussage
„auf die Praxis als Prüfstein für die Theorie“.
Unter diesem Dilemma, dem theoretischen Defizit,
dürfte derzeit wohl die ganze sozialistische beziehungsweise Veränderungs- und
Erneuerungsbewegung in der Welt leiden. Sie steht vor der Frage: Was soll denn
im sogenannten Westen ökonomisch eigentlich verändert werden, wenn das gleiche
ökonomische System in China als sozialistisch gilt? Aus den Betrachtungen von
Krenz kann sich der Leser die Antwort selbst schlussfolgern: Nichts! Es geht
nur noch um die politische Macht, die Wirtschaft zu beherrschen und ihr mit
entsprechenden Gesetzen gesellschaftlich sinnvolle Zielstellungen zu geben und
Grenzen zu setzen. Das wusste übrigens schon vor hundert Jahren Lenin, noch vor
der Oktoberrevolution.
Und die ökonomische Theorie von Karl Marx, seine
Analyse von Ware, Wert und Kapital? Sie muss weitergedacht werden – ausgehend
davon, dass sich die ökonomischen Verhältnisse (auch hinter dem Rücken der westlichen
Gesellschaft) grundlegend verändert haben, indem sich das Geld von einer sachlichen
Ware als allgemeinem Äquivalent in ein gesellschaftliches Arbeitszertifikat
(ideelle Darstellung gesellschaftlicher Arbeit) verwandelte (Näheres dazu auf
der Web-Site des Rezensenten unter https://sites.google.com/site/heerkehummel/amerikasgeniestreich).
[i] Egon Krenz, China. Wie ich es sehe, edition ost im
Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2018, ISBN 978-3-360-01885-4, 155 S., 12,99 €
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