Von
Heerke Hummel
(Erschienen in: „Das Blättchen“, Nr. 23/2018 (https://das-blaettchen.de/2018/11/buergerbewegung-finanzwende-%e2%80%93-was-muss-man-was-kann-man-erwarten-46186.html)
Die schwelende Finanzkrise hat dermaßen an Dramatik zugenommen,
dass ein Bundestagsabgeordneter der „Grünen“ den mutigen Schritt unternehmen
will, zum Jahresende sein Mandat niederzulegen, um als Vorstand der von ihm
mitbegründeten „Bürgerinitiative Finanzwende“ zu arbeiten. Nachdem der
Paukenschlag dieser Nachricht verklungen und Nachdenken angesagt ist, stellt
sich die oben formulierte Frage. Zu betrachten ist, wo die Wurzeln der Krise
liegen und welche Voraussetzungen gegeben sein müssten, um die Krise nachhaltig
zu überwinden. Vorab nur dies: Es bedarf Änderungen im Grundgesetz!
Technischer Fortschritt erweiterte in Jahrzehnten und
Jahrhunderten die Arbeitsteilung und den weltweiten Austausch von Waren und
Dienstleistungen so sehr, dass er die ganze Welt produktionsseitig und
finanziell vernetzte, was seit geraumer Zeit mit dem Begriff Globalisierung zu
erfassen versucht wird. Diese Prozesse brachten auch große Veränderungen im
Geld- und Finanzsystem hervor. Das war eine mehr oder weniger kontinuierliche,
extensive Entwicklung, die aber auch mit einem qualitativen Wandel verbunden
war. Als entscheidender Kulminationspunkt ist (sowohl aus praktischer wie aus theoretischer
Perspektive) das Jahr 1971 zu betrachten, als die Leitwährung des westlichen
Systems, der US-Dollar, vom Gold abgekoppelt wurde. Das kam einer Revolution
gleich. Denn das Geld war plötzlich und endgültig von der materiellen Produktion
von Waren, darunter auch des Goldes, abgekoppelt und dem Wesen nach etwas Neues
geworden – ein Arbeitszertifikat, ein Zeichen nicht mehr für die Geldware Gold,
sondern für gesellschaftliche Arbeit; auch wenn die institutionelle
Wirtschaftswissenschaft oder sonst jemand das kaum wahrhaben will. Als
staatliches Zertifikat für gesellschaftliche Arbeit hatte das Geld seinen
privaten Charakter verloren und das Verhältnis von Politik und Ökonomie
grundsätzlich verändert; objektiv, also unabhängig davon, ob sich dessen jemand
bewusst war oder nicht. Der Staat musste
sich spätestens von nun an in die
Wirtschaft einmischen, um die Fähigkeit dieses (dem Wesen nach) neuen Geldes zu
gewährleisten, den Austausch von Waren und Leistungen zu vermitteln und den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess
stabil in Gang zu halten. Geradezu
unsinnig sind daher die Forderungen (besonders aus dem Finanzsektor), der Staat
möge sich zurückziehen und alles Wirtschaften den Märkten überlassen. Das
Wirtschaften ist nicht mehr „Privatsache“.
Und die Frage muss heute lauten: Wo liegen die Grenzen der Eigenverantwortung
von Unternehmen, Banken etc. im Umgang mit dem Geld, wie plant ein demokratisch
verfasstes Gemeinwesen seine künftige Entwicklung und wie steuert es
dementsprechend die Eigeninitiative der Unternehmer und sonstigen Akteure? Dazu bedarf
es eines neuen, ja gesellschaftlichen Denkens, das natürlich auch die positiven
wie die negativen Erfahrungen aus der Vergangenheit, nicht zuletzt des Ostens,
zu berücksichtigen hat. Dies (vor allem auf Seiten der Wissenschaft) zu
begreifen und kreativ zu verarbeiten wäre eine der wichtigsten Voraussetzungen
für den Erfolg des bürgerbewegten Reformprojekts „Finanzwende“. Sonst behielte
Wolfgang Schäuble mit seiner im Jahre 2008, wenige Wochen nach Ausbruch der
Finanzkrise, auf einer Lutherkonferenz in Berlin öffentlich vorgetragenen
Äußerung zu diesem Finanzdebakel Recht „Uns bleibt nichts anderes übrig als
weiterzumachen wie bisher – nach der Methode ‚Versuch und Irrtum‘“. Das Ergebnis
solchen, nun schon wieder zehnjährigen Versuchens ist bekannt und deprimierend.
Gewiss kann eine „Finanzwende“ nicht bedeuten, das
ganze System mit einem Mal umzukrempeln. Aber auch ein Vorgehen „Schritt für
Schritt“ setzt ein allgemeines gesellschaftliches Ziel, eine Sinngebung voraus,
das sich aus dem objektiven Wesen des Gesamtprozesses ableitet und sich völlig zu
unterscheiden hat von dem bisher als Regulativ wirkenden Privatinteresse am
Maximalprofit, vor allem von Banken.
Bei all dem geht es nicht um mehr Gerechtigkeit, auf die von den Armen wie von den Begüterten und
Reichen gleichermaßen gern verwiesen wird, sondern um die notwendigen Erfordernisse
der gesellschaftlichen (und zwar weltweiten) Reproduktion unter den
Bedingungen des drohenden Klimawandels und aller letztlich daraus
resultierenden sozialen Gefahren. Im Mittelpunkt steht dabei die Eigentumsfrage. Sie wird schon lange
nicht mehr gestellt, auch nicht von der Linken, zumindest in der öffentlichen
Diskussion. Ein allgemeiner Konsens scheint in dieser Gesellschaft darüber zu
bestehen, dass das Fundament unserer Wirtschaft und unseres Wirtschaftens das
Privateigentum bildet. Kaum jemand scheint daran zu zweifeln, schon gar nicht
öffentlich, würde er doch den schwer wiegenden Vorwurf riskieren, das Grundgesetz
für die Bundesrepublik Deutschland zu missachten oder aushebeln zu wollen. Dort
heißt es in Artikel 14: „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. … Eigentum
verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
Eigentum wird hier zu einem ausschließlich juristisch
verstandenen Begriff; und zwar als privates Rechtsverhältnis der Bürger zu
einer Sache. Woher es kommt, wie es entsteht und wozu es dient, also welche
ökonomische Funktion es erfüllt, wird weder hinterfragt noch definiert. Ganz
anders war das bei der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, die im
Verlaufe von 40 Jahren zwar mehrfach geändert wurde, aber stets zwischen dem
gesellschaftlichen, produktiven Eigentum und dem privaten, persönlichen
Eigentum der Bürger als Mittel der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung unterschied
und dem ganzen ökonomischen Reproduktionsprozess der Gesellschaft große,
sachbezogene Aufmerksamkeit widmete. (In der Bundesrepublik wurde all das
weitestgehend den Märkten des Geldes und der Finanzen, dem Arbeitsmarkt und dem
Interesse und „Einfallsreichtum“ ihrer Akteure überlassen.) Noch unmittelbar
vor „Toresschluss“, am 17. Juni 1990
(das Datum regt in mancher Hinsicht zum Nachdenken an!), wurde für die ihrem
Ende entgegen gehende DDR in Vorbereitung auf den Beitritt zur Bundesrepublik
ein „Verfassungsgrundsätzegesetz“ verabschiedet. Mit ihm wurden die hier in
Rede stehenden, einer neuen, sachbezogenen ökonomischen Denkweise
entsprechenden Festlegungen der DDR-Verfassung (laut http://www.verfassungen.ch/de/ddr/ddr74.htm)
faktisch aufgehoben oder gestrichen (z. B.: „Art. 9. (3)
In der Deutschen Demokratischen Republik gilt der Grundsatz der Leitung und
Planung der Volkswirtschaft sowie aller anderen gesellschaftlichen Bereiche.
Die Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik ist sozialistische
Planwirtschaft. Die zentrale staatliche Leitung und Planung der
gesellschaftlichen Entwicklung ist mit der Eigenverantwortung der örtlichen
Staatsorgane und Betriebe sowie der Initiative der Werktätigen verbunden.“) Dieser
rigorose Rückzug des Staates aus der Wirtschaft war die Kapitulation der
Politik vor der von Privatinteressen und Profitgier getriebenen Ökonomie – nun
in ganz Deutschland.
Diese Kapitulation zu überwinden und ein Primat der
Politik über die Ökonomie auch grundgesetzlich (und natürlich auch in einer
Verfassung der Europäischen Union) zu sichern und dabei den ganzen Planet Erde im
Auge zu haben dürfte zu den entscheidenden Voraussetzungen für nachhaltige Erfolge der „Bürgerbewegung Finanzwende“ gehören.
Wie deren Organisatoren verlauten lassen, wächst sie stetig und nimmt die
ersten öffentlich sichtbaren Aktionen in Angriff, um die Finanzaufsichtsbehörde
BaFin zu zwingen, ihrer Pflicht zum Verbraucherschutz nachzukommen. Doch werden solche Aktionen –
gewissermaßen im Nach-Trab – genügen, um eine wirkliche Finanzwende herbeizuführen? Oder gilt es nicht, ein
wirklich neues, primär sachbezogenes ökonomisches Denken einzuleiten und im
Grundgesetz zu verankern? Wichtig wäre vor allem, die Frage des Eigentums neu
zu definieren, so dass die Gesetzeslage den in der Realität dem Wesen nach
bereits gegebenen Bedingungen gerecht wird. Das betrifft vor allem den
gesellschaftlichen Charakter allen produktiv-kommerziellen Eigentums, der sich
aus dem neuen Wesen des Geldes ableitet. Nicht zu übersehen ist, dass der ganze
durch Warenaustausch und Geldverkehr vermittelte Bereich des gesellschaftlichen
Lebens schon lange seinen privaten
Charakter, sein privates Wesen in mehrfacher Hinsicht verloren hat:
Erstens
hat der gesellschaftliche Reproduktionsprozess die Grenzen alles Privaten in
ökonomischer, ökologischer und politischer Hinsicht (Machtfrage und politische
Stabilität) seit langem weit überschritten, so dass die Existenz von Natur und
Gesellschaft durch ungesteuertes, vom Streben nach Maximalprofit bestimmtes
Agieren privater Akteure in Gefahr geraten ist.
Zweitens
hat das den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess und den Austausch von Waren
und Leistungen vermittelnde Medium – das Geld – seinen privaten Charakter
verloren. Spätestens seit der endgültigen Abkopplung vom Edelmetall (Gold) im
Jahre 1971 durch den Bruch des Abkommens von Bretton Woods seitens der USA ist
dieses Geld keine „Allgemeine Ware“ (Marx) und vertritt eine solche auch nicht
mehr. Es mutierte - dem Wesen nach - zu einem Zeichen für Arbeit für die Gesellschaft. Als solches drückt es für die
Gesellschaft geleistete Arbeit aus und bescheinigt Teilhabe am Reichtum der Gesellschaft. Das bedeutet, dass alle im
gesellschaftlichen Reproduktionsprozess zirkulierende, verausgabte Arbeit
beziehungsweise ihr Produkt der Gesellschaft gehört und das Geld den Anteil seines Besitzers daran
bescheinigt. Mit dieser Bescheinigung bezieht der Einzelne als Privater (nicht
als produzierender gesellschaftlicher Agent) für seinen wirklich privaten
Bedarf und Verbrauch entsprechende Produkte aus den - dem Wesen nach -
gesellschaftlichen Fonds. (Bei den kontoführenden Banken wird zwischen Privat-
und Geschäftskonten der Kunden unterschieden.)
Drittens
bedarf der Umgang mit diesem Geld, das zu einem entscheidenden Faktor
ökonomischer und politischer Macht geworden ist und durch Kredit quasi beliebig
zu vermehren ist, gesellschaftlicher Regeln und einer gesellschaftlichen
Kontrolle. Gleiches gilt für das gesamte Finanzsystem. In Ansätzen wird das sogar
bereits praktiziert, aber ohne schlüssiges Gesamtkonzept, weil man ja vom
Wirtschaften als Privatangelegenheit überzeugt ist und gesellschaftliches
Dirigieren unbedingte Ausnahme im Falle eines drohenden Kollapses sein soll.
Viertens
trägt das finanzielle Risiko unternehmerischer Entscheidungen, die fast immer
durch Versicherungen aller Art weitgehend abgesichert sind, letztendlich die
Gesellschaft als ganze, besonders dann, wenn die Schäden und Verluste das
Leistungsvermögen der Verursacher, die zudem oft nur schwer zu ermitteln und zu
belangen sind, weit übertreffen. Die Banken-, Immobilien-, Staatsschulden- und
Automobilkrisen der letzten Jahre mögen das eindrucksvoll belegen.
Dieser objektiven Sachlage der ökonomischen Realität
und den daraus erwachsenden gesetzlichen Erfordernissen werden die jetzigen
Artikel 14 und 15 des Grundgesetzes der BRD in keiner Weise mehr gerecht. Erforderlich ist eine grundgesetzliche
Anerkennung des gesellschaftlichen Charakters aller kommerziellen Produktion
und des Austauschs sowie des damit verbundenen Eigentums – im Unterschied zum
tatsächlich privaten Eigentum für den persönlichen Bedarf und Verbrauch. Eine
solche Gesetzeslage würde auch der Wirtschaftswissenschaft eine neue
Orientierung geben für die Erarbeitung weiterer rechtlicher Grundlagen und
Regelungen zum Schutz vor ökonomischen (und sicher auch politischen) Krisen,
anstatt Letzteren wie bisher mit Feuerwehraktionen hinterherzulaufen oder sie
sogar durch falsche Zielstellungen zu befeuern.
Auch wenn eine wirklich grundlegende Wende im
Finanzsystem nur Schritt für Schritt erfolgen kann, muss das größere Ziel der
gesellschaftlichen Reproduktion - die Befriedigung der konkreten Lebensbedürfnisse der Menschen statt privater, abstrakter Kapitalverwertung um jeden
Preis und auf Kosten von Mensch und Natur - klar sein sowie das notwendige
Bewusstsein vom Wesen der Sache und des Problems, das in Folgendem besteht:
Während die reale Welt dem Wesen nach die oben beschriebenen Veränderungen
durchgemacht hat, also revolutioniert wurde, ist dieses neue Wesen der Realität
vom gesellschaftlichen Bewusstsein nicht wahrgenommen worden. Die Vorstellungen
im gesellschaftlichen Bewusstsein und der ganze ideologische Überbau der
Gesellschaft sind stehengeblieben und harren bis heute dort aus, wo
beziehungsweise wie Karl Marx sie analysiert hat – mit Begriffen wie
Warenaustausch, Wert und Kapital, Privateigentum, Konkurrenzkampf und so weiter
und wie das ganze System, oberflächlich betrachtet, auch erscheint, weil es
juristisch noch immer – entgegen seinem veränderten Wesen – so im Gesetzeswerk
der Gesellschaft fixiert ist. Diesen Widerspruch zwischen Sein und Bewusstsein
der Gesellschaft, zwischen Objektivem und Subjektivem gilt es mit einer
Verfassungsänderung zu überwinden. Dies wird ein langer und schwieriger Weg
sein. Denn es gilt, mächtige Barrieren zu überwinden – nicht nur was die
persönlichen Interessen und Vorurteile von Millionen Menschen, Praktikern und
Theoretikern betrifft, sondern auch und besonders deren ökonomisches Denken und
Wahrnehmungsvermögen eines hinter den Oberflächenerscheinungen liegenden Wesens
der Realität, das so gar nicht den tagtäglichen Erfahrungen und Eindrücken der
Menschen zu entsprechen scheint. Dass dennoch Hoffnung nicht fehl am Platze
ist, mag der österreichische Ökonom Ludwig v. Mises lehren. Bereits in den 20er
Jahren des vorigen Jahrhunderts beklagte der später in die USA emigrierte
Wirtschaftswissenschaftler mit seinem Gespür für Realitäten eine zunehmende
„Sozialisierung“, die er in der Beschneidung privater Eigentumsrechte witterte
und die, wie er meinte, so weit ginge, dass schließlich vom Eigentum nur noch
der leere Name bliebe, der Unternehmer aber auf die Stellung eines am Ertrag
beteiligten Angestellten herabgedrückt würde. Das war eine bemerkenswerte
Voraussicht, die uns Heutigen das Umdenken erleichtern sollte; allerdings ohne
Fehler und falsche Dogmen der Vergangenheit zu ignorieren!
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