Von
Heerke Hummel
Ein neues Buch[i] zu dieser Thematik ist gerade auf den Markt gekommen. Nichts Neues? Kennen wir zur Genüge, sehen wir täglich auf der Straße, hören wir im Freundeskreis, erleben wir vielleicht sogar in der Familie? Nein, denn Katrin Sobotha-Heidelk ist eine spannende Synthese von Information, Aufklärung, vielleicht auch Hilfe gelungen.
„Ich wollte ein Buch über Süchtige schreiben, weil
mich Menschen in Grenzsituationen interessieren“, sagte die studierte
Bibliothekswissenschaftlerin (Jg. 1968) in einem Interview. Darum führte sie in
Abstimmung und Beratung mit Suchtexperten sowie Selbsthilfegruppen Gespräche
mit ihren Protagonisten. Entstanden sind daraus zwanzig Porträts von Menschen
in Deutschland und der Schweiz, die gegen unterschiedlichste Süchte, vom
Alkoholismus bis zur Sex-Sucht, angekämpft hatten. Es sind kurz gefasste, auf Beginn
und Ursachen sowie Strategien zur Überwindung der Sucht bezogene Lebensgeschichten
der Betroffenen und schildern aus deren Sicht und in ihrer Sprache ohne Voyeurismus, aber auch ohne Rücksicht die
meist erschütternden Erlebnisse. So schafft es die Autorin, dem Leser nicht nur
viele Schrecknisse in allen Einzelheiten mitzuteilen. Nein, sie lässt sie uns
durch die ergreifenden Detailschilderungen der Kranken das von ihnen Durchlebte
wie eigenes Leid nachempfinden und selbst in deren Gefühlswelt eintauchen.
Zum Beispiel, wenn Fred erzählt. Der schlich wegen
des Ärgers mit seiner Frau heimlich und ständig in der Angst, entdeckt zu
werden, im Wohngebiet auf der Suche nach Verstecken für seine Schnapsflaschen
herum – im hohen Gras dicht an Zäunen,
wo sie vom Rasenmäher nicht erfasst wurden, oder in einer nicht verschlossenen
Streusandkiste. Verstecken und Wiederfinden musste eine Sache von Sekunden
sein, denn im Wohngebiet war man nicht lange allein und vor Blicken sicher.
Aber sicher vor den Augen anderer musste der Schatz auch sein.
Fred schildert, wie seine innig geliebte Gerda ihm
eines Tages den Inhalt der bei seinen Winterschuhen gefundenen Flasche ins
Gesicht goss, als er schlafend im Bett lag, so dass er an dem Fusel fast zu
ersticken glaubte und sie heulend anflehte, von ihm abzulassen. Sie reichte die
Scheidungsklage ein. Erst da suchte er medizinischen Rat und die Unterstützung
einer Selbsthilfegruppe. Wir können quasi miterleben, mit welchen Gefühlen er zur
ersten Sitzung ging und von welch innerlicher Dankbarkeit er danach draußen an
der frischen Luft erfüllt war – um aber doch gleich wieder eine Flasche Klaren
aus der Tasche zu ziehen und zu trinken. Er wollte irgendetwas Großes tun,
einen Punkt setzen nach dieser Runde auf einem neuen Weg. Und weil er sich danach
so schämte, am gleichen Abend noch getrunken zu haben, ging er nicht wieder hin
zu den Blaukreuzlern. Aber die Freunde aus der Selbsthilfegruppe gaben nicht
auf, kümmerten sich um ihn, bis er wieder zu ihren Sitzungen kam.
Scham und Angst waren dominierende Gefühle in Freds
Leben. Angst schließlich auch vor den körperlichen Folgen des Verzichts auf
Alkohol. Er schildert sie so: Vierundzwanzig Stunden nach dem letzten Schluck
setzte das Herzrasen ein, mitten in meiner linken Brust. Ein Infarkt? Es
drückte in der Magengegend, klemmte mir den Oberbauch ab und schnitt in meine
Lunge, sodass jeder Atemzug zu einer Angstpartie wurde. Fror ich so, weil mein
Schlafanzug zum Auswringen war? Oder zitterte ich, weil ich jetzt vielleicht
sterben musste? Sah Gerda nicht, dass ich am Ende war? Würde sie mich liegen
lassen? Es war kein Infarkt. Es war Rotbarts Prophezeiung. Entspannen, hatte er
gesagt. Wie denn, wenn mir die Arme wegzitterten? Jetzt hatte ich wohl mehrere
Tage Dauerkrampf vor mir. Und da sollte es einen Gott geben? Hans, was glaubst
Du denn?!
Die emotionale Wirkung solcher Schilderungen ist
umso größer, als der Leser von vorn herein weiß, dass die Autorin nichts
erfunden hat. Ihre Protagonisten hatten das Geschilderte wirklich durchlebt!
„Ein Leben weiter“ klagt nicht an, will nicht
belehren. Es schildert Tatsachen, gibt, oft erschütternde, Einblicke in das
Leben und in die Nöte von Menschen. Den Freunden und Bekannten, Kollegen, ja
selbst den Familien dieser Personen ist davon oftmals nichts oder lange Zeit
nichts bekannt. Das Buch macht nachdenklich: Was wissen wir eigentlich von unseren
Lieben, Freunden und Kollegen? Alyssa beispielsweise ist nicht anzusehen, dass
sie zu den Schwerstabhängigen zählt. In einem Zentrum für heroingestützte
Behandlung in der Schweiz wird ihr zweimal täglich eine Dosis Heroin
verabreicht, ohne die sie als berufstätige alleinerziehende Mutter ihren Alltag
nicht bewältigen könnte. „Ich führe ein Doppelleben“, sagt sie, „das belastet
mich enorm. Aber ich bin froh, dass ich jeden Tag im Büro so tun kann, als sei
ich eine ganz normale alleinerziehende Mutter, die arbeiten gehen muss.“ Und
niemand ahnt, dass sie jeden Morgen schon um sechs Uhr auf dem Fahrrad sitzt,
um in der Abgabestelle des Heroins eine der Ersten unter den Patienten zu sein.
Das ist notwendig, damit sie es vor der Arbeit noch schafft, mit ihrem Kind zu
frühstücken und es in die Schule zu bringen. Spätestens Alyssas Schicksal
überzeugt, dass Sucht eine Krankheit ist. Sie verändert das Leben der
Betroffenen von Grund auf. Wer sie überwunden hat oder zumindest, wie Alyssa,
beherrscht, kann sagen, dass er ein neues Leben lebt, ein Leben weiter ist.
Katrin Sobotha-Heidelk hat ein Taschenbuch
vorgelegt, das sich an einen breiten Leserkreis wendet. Es setzt Fachwissen
weder voraus noch vermittelt es solches. Es dürfte aber für Leute vom Fach und
für Betroffene ebenso lesenswert sein wie für Menschen, die das Thema
Suchtkrankheit an sich wenig oder gar nicht interessiert. Denn es geht in ihm
nicht um die eigentliche Krankheit, sondern um das Schicksal und die
Befindlichkeit betroffener Menschen. Es sind kurze, prägnante Geschichten von
Schicksalen ganz verschiedener Typen von Menschen wie von Süchten. Nichts
wiederholt sich, nichts macht Gähnen. Immer wieder kann man staunen oder
ergriffen sein von den Wechselfällen des Lebens, sich wundern über die
Möglichkeiten des Schicksals. Das Buch mag eine Warnung sein, es mag
Verständnis erzeugen, es mag hoffen lassen und auch Mut machen zum Kampf gegen
die Sucht. Denn es lässt zwanzig Menschen zu Wort kommen, die vor einem Abgrund
standen und es doch geschafft haben, die Kurve zu kriegen. Und es mag den Leser
schließlich vor die Frage stellen: Werde ich meiner Eigenverantwortung für mein
Leben im Umgang mit seinen Schwierigkeiten, Herausforderungen und Verlockungen
gerecht? Sucht und Abhängigkeit fallen nicht vom Himmel, entstehen nicht von
einem Moment auf den anderen, und Drogen lösen keine Probleme. Verantwortungsbewusste
Selbstbeobachtung und Selbstdisziplin in allen Lebenslagen sind daher wohl die
beste Prävention auch gegen Süchte und Abhängigkeiten. Auf Widersprüche dieser
ganzen Problematik macht der Chefarzt einer Klinik für
Abhängigkeitserkrankungen in Schwerin im Vorwort zu dem Buch aufmerksam.
(Erschienen in "Das Blättchen", Nr. 21/2013)
(Erschienen in "Das Blättchen", Nr. 21/2013)
[i] Katrin
Sobotha-Heidelk, Ein Leben weiter. Vom Mut, sich der Sucht zu stellen. 20
Porträts, Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2013, ISBN
978-3-86265-318-8, 272 Seiten, 9,95 € (D).
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