Politik in den Fesseln der Zeit
Von Heerke Hummel
(Erschienen in: „Das
Blättchen“, Nr. 20/2012)
Hätte die Geschichte auch
anders verlaufen können? Diese Frage stellen vor allem wir Deutschen – und zum
Tag der Deutschen Einheit besonders gern. Einen bemerkenswerten Beitrag dazu
schrieb Evelyn Finger fast vor Jahresfrist in der „Zeit“. Sie beklagte darin
den Umgang mit Alternativen – ehemals zum DDR-Sozialismus und heute zum
derzeitigen Kapitalismus – und stellte fest, die Alternative sei eine mühsame
Arbeit gewesen, über die alle diskutierten, aber die am Ende keiner machen
wollte; auch heute. Warum? Diese sich dem Leser am Schluss stellende Frage ist
offen geblieben. Vielleicht ist uns bei
ihrer Beantwortung Karl Liebknecht mit seiner Schrift „Studien über die Bewegungsgesetze der gesellschaftlichen Entwicklung“
hilfreich.
Denn er meinte, alles, auch die Geschichte, sei „sowohl absolut,
abstrakt, logisch wie aber auch praktisch und relativ“. Liebknecht
wies in seiner Vorbemerkung darauf hin, „eine mehr konstitutive, konstruktive
Theorie, ein System zu entwickeln – im Unterschied von der Marxschen Theorie,
die nur einen Zeitgedanken, wenn auch einen ungemein fruchtbaren gibt“; und
dies „nicht mit dem Anspruch der Unfehlbarkeit und Abgeschlossenheit“.
Liebknecht wollte nicht im Entferntesten ein Dogma geben, sondern nur ein
methodisches Hilfsmittel für die Forschung, ein System von Fingerzeigen,
Richtlinien, Zeitgedanken – eine „Zergliederungsmethode“ vor allem. Er nehme
und betrachte die Dinge der Erfahrung, den Stoff, wie sie sich dem empirisch
und kritisch geschulten Blicke bieten. Dabei sei nicht Eklektizismus, sondern
Universalismus die Betrachtungsart und auch die Lebenslosung, das
psychisch-geistige Lebenselement des Verfassers. Was solche Betrachtungsweise
der Welt bedeutet, mag zum Beispiel Liebknechts Sicht auf „Die Gewalt als
bildendes Prinzip und Regulator der sozialen Gestaltungen“ zeigen. Erleben tun
wir Heutigen es täglich. Und täglich erleben wir auch, wie Liebknecht es
formuliert: „Die Politik der Gesamtgesellschaft ist die Resultante der Politik
der verschiedenen Gesellschaftsteile – nach dem Gesetz des
Kräfteparallelogramms.“ Das bis ins letzte Detail gegebene Kräfteparallelogramm
in der Welt ließ beziehungsweise lässt eben – trotz der Millionen Alternativen,
die aus individueller Sicht in jeder Situation, zu jedem Zeitpunkt möglich zu
sein scheinen – keine andere Gesamtpolitik, keinen anderen Geschichtsverlauf
als den tatsächlich vor sich gehenden zu.
So gesehen war und ist Politik immer in den Fesseln
ihrer Zeit gefangen. Es sind Fesseln der wissenschaftlichen Erkenntnis, der
unterschiedlichen natürlichen, ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen
Bedingungen und Interessen, des subjektiven Verständnisses der Akteure und
ihrer Durchsetzungskraft und nicht zuletzt ihrer charakterlichen Anlagen. Wie
schwierig muss angesichts all dessen eine Beurteilung des Geschichtsverlaufs
und auch der Akteure, insbesondere der maßgeblich die Politik bestimmenden
sein! Wer kennt sie in allen Einzelheiten ihres Wissens, Wollens und Vermögens,
ihrer inneren und äußeren Bedingungen des Handelns? Wie leicht ist es in
Kenntnis der tatsächlichen Folgen politischer Entscheidungen und des
schließlichen Geschichtsverlaufs, Akteure pauschal zu verurteilen, wo doch so
Vieles nur aus der Zeit, den gegebenen Umständen und Ursachen heraus zu
erklären, wenn auch nach heutigen Maßstäben nicht zu billigen ist!
Die von Evelyn Finger erwähnte Unterdrückung der
Sozialismuskritik im Osten beispielsweise – war sie nicht auch eine Folge der
relativen, aus der weltweiten Auseinandersetzung im Kalten Krieg resultierenden
Schwäche des Systems, also auch bedingt durch äußere Feindseligkeiten? Freilich
verhinderte sie nicht den Zusammenbruch des Machtsystems, den Umbruch der
gesellschaftlichen Verhältnisse. Aber die Reformpolitik in der Sowjetunion
unter Gorbatschow verhinderte ihn eben auch nicht! Und China? Dort scheint die
ökonomische Reform bei Erhaltung der alten politischen Machtstrukturen gelungen
zu sein. Und der Sozialismus, ist der nun auf der Strecke geblieben? Wer das meint,
verharrt in Denkweisen, die vom Leben überholt sind. Die ganze Welt hat sich in
den letzten Jahrzehnten stark verändert, ja gewandelt, auch im sogenannten
Westen, ohne einen Idealzustand zu erreichen. Entstanden ist etwas Neues mit
einer weltweit ähnlichen ökonomischen Basis, die ohne zentrale Planwirtschaft des
ehemaligen Sozialismus auskommt. Die noch bestehenden Unterschiede im
politischen Überbau der Gesellschaft hingegen sind Relikte der Vergangenheit.
Und während in China die Volksmassen mehr politische Rechte und Freiheiten
fordern, ringen in Europa
siebenundzwanzig Regierungen darum, ihre Politik, vor allem in den Bereichen
Wirtschaft, Finanzen und Haushalt wenigstens zu koordinieren. Eine staatliche
politische Union, die in der Lage wäre, den gesellschaftlichen
Reproduktionsprozess finanzökonomisch wirkungsvoll zu regulieren, damit
Produktion und Verbrauch in Übereinstimmung gebracht und ökologisch sinnvoll
gestaltet werden und eine grundlegende Interessenübereinstimmung in der
Gesellschaft erreicht wird, liegt hier in fast aussichtsloser Ferne, so
notwendig sie aus gesamtgesellschaftlicher Sicht auch wäre.
Warum, so fragte E. Finger im Vorspann zu ihrem Artikel,
begreifen die Kapitalisten nicht, dass ihnen das gleiche Schicksal droht wie
dem Sozialismus, der alle Kritik abwehrte? Wann immer man in den vergangenen 20
Jahren den Kapitalismus kritisierte, heißt es dann bei ihr, sprang gleich
irgendein Ideologe auf und rief, der Sozialismus sei ja wohl zu Recht
gescheitert. Und: Dummerweise habe der historische Sieg des Westens über den
Osten (war das überhaupt einer? – Weder die Sowjetunion, noch China gingen in
den Westblock ein, sondern haben sich selbst reformiert, wobei das Primat der
Politik einer starken Zentralmacht erhalten bzw. in Russland wieder errichtet
wurde. Und China wurde sogar zum großen Gläubiger der USA!) die Sieger selbstherrlich
gemacht. Man merke es an dem notorischen Wort von der Alternativlosigkeit. Die
noch tiefere Ursache für die Reformunfähigkeit dürfte allerdings in einer
allgemeinen ideologischen Verkrustung dieser alten, ja veralteten Gesellschaft
liegen, deren Denken in mehr als zweihundert Jahre alten Dogmen von der totalen
Freiheit des Einzelnen und dessen unbegrenztem Recht auf privates Eigentum
gefesselt ist. Adam Smith, rund hundert Jahre vor Karl Marx geboren, war ihr
geistiger Vater. Kapitalisten sind Individualisten, Einzelgänger und vor allem
Einzelkämpfer. Sie wollen und dulden nur eine Macht über sich, die , inspiriert
durch Lobbyisten, ihre individuellen Interessen durchsetzt. Das ist der
Hintergrund allen Gehabes bürgerlicher Demokratie. Dass Demokratie auch eine
ganz andere Bedeutung haben und über andere Mechanismen wirken kann, liegt
ebenso außerhalb liberalen Vorstellungsvermögens wie eine Welt mit Grenzen für
privates Eigentum, für individuelle Entscheidungs- und Handlungsräume, für das
Wachstum von Produktion und Verbrauch und so weiter, obwohl doch jeder weiß:
Die Erde ist ein räumlich begrenzter Planet mit endlichen natürlichen
Ressourcen, die inzwischen dramatisch abnehmen.
Chinesen und Russen sind da wohl traditionell
weniger ideologisch belastet. Obwohl auch sie sich nur der Not gehorchend mit
einer Dezentralisierung der Wirtschaft reformierten, half ihnen ihre Tradition
starker politischer Zentralmacht, diesen Prozess in einer historisch sehr
kurzen Periode zu absolvieren. In Europa dagegen zieht sich die notwendige politische
Zentralisierung so qualvoll in die Länge, weil der Individualismus ökonomisch
und ideologisch zementiert ist und nur überwunden werden kann – sei die
Einsicht im Einzelfall auch da oder nicht -, wenn die äußere Not, zum Beispiel
ein zunehmender ökonomischer Druck aus Asien, keine andere Wahl lässt.
(Der
Autor veröffentlichte sein Buch „Gesellschaft im Irrgarten. Die Tragik nicht
nur linker Missverständnisse“ 2009 im NORA-Verlag)
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