Montag, 1. Oktober 2012

Politik in den Fesseln der Zeit



Politik in den Fesseln der Zeit
Von Heerke Hummel
(Erschienen in: „Das Blättchen“, Nr. 20/2012)
Hätte die Geschichte auch anders verlaufen können? Diese Frage stellen vor allem wir Deutschen – und zum Tag der Deutschen Einheit besonders gern. Einen bemerkenswerten Beitrag dazu schrieb Evelyn Finger fast vor Jahresfrist in der „Zeit“. Sie beklagte darin den Umgang mit Alternativen – ehemals zum DDR-Sozialismus und heute zum derzeitigen Kapitalismus – und stellte fest, die Alternative sei eine mühsame Arbeit gewesen, über die alle diskutierten, aber die am Ende keiner machen wollte; auch heute. Warum? Diese sich dem Leser am Schluss stellende Frage ist offen geblieben. Vielleicht ist uns bei ihrer Beantwortung Karl Liebknecht mit seiner Schrift „Studien über die Bewegungsgesetze der gesellschaftlichen Entwicklung“ hilfreich.
Denn er meinte, alles, auch die Geschichte, sei „sowohl absolut, abstrakt, logisch wie aber auch praktisch und relativ“. Liebknecht wies in seiner Vorbemerkung darauf hin, „eine mehr konstitutive, konstruktive Theorie, ein System zu entwickeln – im Unterschied von der Marxschen Theorie, die nur einen Zeitgedanken, wenn auch einen ungemein fruchtbaren gibt“; und dies „nicht mit dem Anspruch der Unfehlbarkeit und Abgeschlossenheit“. Liebknecht wollte nicht im Entferntesten ein Dogma geben, sondern nur ein methodisches Hilfsmittel für die Forschung, ein System von Fingerzeigen, Richtlinien, Zeitgedanken – eine „Zergliederungsmethode“ vor allem. Er nehme und betrachte die Dinge der Erfahrung, den Stoff, wie sie sich dem empirisch und kritisch geschulten Blicke bieten. Dabei sei nicht Eklektizismus, sondern Universalismus die Betrachtungsart und auch die Lebenslosung, das psychisch-geistige Lebenselement des Verfassers. Was solche Betrachtungsweise der Welt bedeutet, mag zum Beispiel Liebknechts Sicht auf „Die Gewalt als bildendes Prinzip und Regulator der sozialen Gestaltungen“ zeigen. Erleben tun wir Heutigen es täglich. Und täglich erleben wir auch, wie Liebknecht es formuliert: „Die Politik der Gesamtgesellschaft ist die Resultante der Politik der verschiedenen Gesellschaftsteile – nach dem Gesetz des Kräfteparallelogramms.“ Das bis ins letzte Detail gegebene Kräfteparallelogramm in der Welt ließ beziehungsweise lässt eben – trotz der Millionen Alternativen, die aus individueller Sicht in jeder Situation, zu jedem Zeitpunkt möglich zu sein scheinen – keine andere Gesamtpolitik, keinen anderen Geschichtsverlauf als den tatsächlich vor sich gehenden zu.
So gesehen war und ist Politik immer in den Fesseln ihrer Zeit gefangen. Es sind Fesseln der wissenschaftlichen Erkenntnis, der unterschiedlichen natürlichen, ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen und Interessen, des subjektiven Verständnisses der Akteure und ihrer Durchsetzungskraft und nicht zuletzt ihrer charakterlichen Anlagen. Wie schwierig muss angesichts all dessen eine Beurteilung des Geschichtsverlaufs und auch der Akteure, insbesondere der maßgeblich die Politik bestimmenden sein! Wer kennt sie in allen Einzelheiten ihres Wissens, Wollens und Vermögens, ihrer inneren und äußeren Bedingungen des Handelns? Wie leicht ist es in Kenntnis der tatsächlichen Folgen politischer Entscheidungen und des schließlichen Geschichtsverlaufs, Akteure pauschal zu verurteilen, wo doch so Vieles nur aus der Zeit, den gegebenen Umständen und Ursachen heraus zu erklären, wenn auch nach heutigen Maßstäben nicht zu billigen ist!
Die von Evelyn Finger erwähnte Unterdrückung der Sozialismuskritik im Osten beispielsweise – war sie nicht auch eine Folge der relativen, aus der weltweiten Auseinandersetzung im Kalten Krieg resultierenden Schwäche des Systems, also auch bedingt durch äußere Feindseligkeiten? Freilich verhinderte sie nicht den Zusammenbruch des Machtsystems, den Umbruch der gesellschaftlichen Verhältnisse. Aber die Reformpolitik in der Sowjetunion unter Gorbatschow verhinderte ihn eben auch nicht! Und China? Dort scheint die ökonomische Reform bei Erhaltung der alten politischen Machtstrukturen gelungen zu sein. Und der Sozialismus, ist der nun auf der Strecke geblieben? Wer das meint, verharrt in Denkweisen, die vom Leben überholt sind. Die ganze Welt hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert, ja gewandelt, auch im sogenannten Westen, ohne einen Idealzustand zu erreichen. Entstanden ist etwas Neues mit einer weltweit ähnlichen ökonomischen Basis, die ohne zentrale Planwirtschaft des ehemaligen Sozialismus auskommt. Die noch bestehenden Unterschiede im politischen Überbau der Gesellschaft hingegen sind Relikte der Vergangenheit. Und während in China die Volksmassen mehr politische Rechte und Freiheiten fordern,  ringen in Europa siebenundzwanzig Regierungen darum, ihre Politik, vor allem in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen und Haushalt wenigstens zu koordinieren. Eine staatliche politische Union, die in der Lage wäre, den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess finanzökonomisch wirkungsvoll zu regulieren, damit Produktion und Verbrauch in Übereinstimmung gebracht und ökologisch sinnvoll gestaltet werden und eine grundlegende Interessenübereinstimmung in der Gesellschaft erreicht wird, liegt hier in fast aussichtsloser Ferne, so notwendig sie aus gesamtgesellschaftlicher Sicht auch wäre.
Warum, so fragte E. Finger im Vorspann zu ihrem Artikel, begreifen die Kapitalisten nicht, dass ihnen das gleiche Schicksal droht wie dem Sozialismus, der alle Kritik abwehrte? Wann immer man in den vergangenen 20 Jahren den Kapitalismus kritisierte, heißt es dann bei ihr, sprang gleich irgendein Ideologe auf und rief, der Sozialismus sei ja wohl zu Recht gescheitert. Und: Dummerweise habe der historische Sieg des Westens über den Osten (war das überhaupt einer? – Weder die Sowjetunion, noch China gingen in den Westblock ein, sondern haben sich selbst reformiert, wobei das Primat der Politik einer starken Zentralmacht erhalten bzw. in Russland wieder errichtet wurde. Und China wurde sogar zum großen Gläubiger der USA!) die Sieger selbstherrlich gemacht. Man merke es an dem notorischen Wort von der Alternativlosigkeit. Die noch tiefere Ursache für die Reformunfähigkeit dürfte allerdings in einer allgemeinen ideologischen Verkrustung dieser alten, ja veralteten Gesellschaft liegen, deren Denken in mehr als zweihundert Jahre alten Dogmen von der totalen Freiheit des Einzelnen und dessen unbegrenztem Recht auf privates Eigentum gefesselt ist. Adam Smith, rund hundert Jahre vor Karl Marx geboren, war ihr geistiger Vater. Kapitalisten sind Individualisten, Einzelgänger und vor allem Einzelkämpfer. Sie wollen und dulden nur eine Macht über sich, die , inspiriert durch Lobbyisten, ihre individuellen Interessen durchsetzt. Das ist der Hintergrund allen Gehabes bürgerlicher Demokratie. Dass Demokratie auch eine ganz andere Bedeutung haben und über andere Mechanismen wirken kann, liegt ebenso außerhalb liberalen Vorstellungsvermögens wie eine Welt mit Grenzen für privates Eigentum, für individuelle Entscheidungs- und Handlungsräume, für das Wachstum von Produktion und Verbrauch und so weiter, obwohl doch jeder weiß: Die Erde ist ein räumlich begrenzter Planet mit endlichen natürlichen Ressourcen, die inzwischen dramatisch abnehmen.
Chinesen und Russen sind da wohl traditionell weniger ideologisch belastet. Obwohl auch sie sich nur der Not gehorchend mit einer Dezentralisierung der Wirtschaft reformierten, half ihnen ihre Tradition starker politischer Zentralmacht, diesen Prozess in einer historisch sehr kurzen Periode zu absolvieren. In Europa dagegen zieht sich die notwendige politische Zentralisierung so qualvoll in die Länge, weil der Individualismus ökonomisch und ideologisch zementiert ist und nur überwunden werden kann – sei die Einsicht im Einzelfall auch da oder nicht -, wenn die äußere Not, zum Beispiel ein zunehmender ökonomischer Druck aus Asien, keine andere Wahl lässt.
(Der Autor veröffentlichte sein Buch „Gesellschaft im Irrgarten. Die Tragik nicht nur linker Missverständnisse“ 2009 im NORA-Verlag)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen