Von
Heerke Hummel
(Erschienen in: „Das Blättchen“, Sonderausgabe
3/2012)
Aus einem sehr ungewöhnlichen Blickwinkel betrachtet
David Graeber die Finanzkrise in seinem Buch „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“.[i] Der
Anthropologe blickt weit in die Geschichte zurück, um zu ergründen, was es mit
der Schuld, dem und den Schulden, mit Kredit, Geld und Kapital sowie mit dem
Verhältnis von Staat und Markt auf sich hat. Ins Gericht geht er mit Ökonomen,
die alle menschlichen Beziehungen vorrangig auf Tausch und Tauschhandel
reduzieren. Mit Erkenntnissen der Anthropologie erläutert er „eine Sicht der
moralischen Basis des Wirtschaftslebens“ und zeigt, wie das Tauschprinzip
weitgehend als eine Folge von Gewalt entstanden ist und dass „die wahren Ursprünge
des Geldes bei Verbrechen und Vergeltung zu finden sind, bei Krieg und
Sklaverei, Ehre, Schuld und Sühne“.
Hoch interessante Darstellungen von Wirtschaft, Markt und Staat in ihrem
Wechselspiel im alten China, Indien und Orient, in der europäischen antiken
Welt sowie im Mittelalter vermitteln dem Leser eine ziemlich realistische
Vorstellung davon, wie früher gewirtschaftet wurde, wie die Wirtschaft, der
Markt und der Handel funktionierten. Zu den Überraschungen mag beispielsweise
die Tatsache gehören, dass unter anderem noch mittels antiken römischen oder
später karolingischen Geldes gehandelt wurde, als dieses schon lange nicht mehr
in seiner sachlichen Form vorhanden war. Des Rätsels Lösung: der Kredit, ein
uraltes ökonomisches Instrument.
Auf dieser Basis wirft der US-Amerikaner dann „einen
neuen Blick auf die letzten 500 Jahre, in denen die kapitalistischen Großreiche
dominierten“, um sich schließlich mit der Frage zu befassen, „was heute
tatsächlich auf dem Spiel stehen könnte“. Es handelt sich um den Zeitraum, in
welchem sich die Wirtschaft auch als selbständiger Wissenschaftszweig
etablierte. Seinen Theoretikern steht Graeber außerordentlich kritisch
gegenüber. Größtenteils wohl zu Recht! Denn der Schaden, der mit ihren Erkenntnissen
und Lehren angerichtet wurde, scheint mir unvergleichlich größer zu sein als
der Nutzen für die Menschheit, der durch sie gestiftet wurde. (Wie sähe die
Welt wohl heute vielleicht aus, hätte es nie eine Wissenschaft von der Ökonomie
gegeben?) Die klassische bürgerliche Wirtschaftswissenschaft von W. Petty über A. Smith bis D. Ricardo
brachte die Erkenntnis hervor, dass der Reichtum der Menschheit der
menschlichen Arbeit zu verdanken ist. Doch ihre Erben sahen ihre Pflicht vor
allem nur noch in der Apologetik überkommener Produktionsverhältnisse, insbesondere
des Privateigentums und des egoistischen Gewinnstrebens, sei dies auch noch so
desaströs und schließlich nur noch zu völlig sinnentleerten Zahlenkolonnen
führend, die aus mathematischen Modellen und blitzschnellen
Computerspekulationen hervorgehen – koste es was es wolle und sei es auf Kosten
der gesamten uns umgebenden Natur als unsere Lebensgrundlage überhaut. Und die
Erben des Humanisten Karl Marx, der den ökonomischen Mechanismus kapitalistischer
Ausbeutung mit dem letztlich moralischen Ziel aufdeckte, dass auf der Grundlage
seiner Erkenntnis eine wahrhaft menschliche Gesellschaft gestaltet werden könne?
Auch sie zementierten das Denken ihres Meisters in Dogmen, die schließlich zur
Perversion ökonomischer und politischer Macht auf mehr als einem Sechstel
unseres Erdballs führten.
David Graeber nun ist kein Theoretiker. Er zeichnet
ein beeindruckend plastisches Bild vom wirklichen Wirtschaften und ökonomischen
Denken früherer Epochen und macht dabei deutlich, dass, dem Wesen nach, es ziemlich
alles schon einmal gab, was heute in ökonomischer Hinsicht gedacht und getan
wird. Verändert haben sich vor allem die Dimensionen ökonomischer Handlungen
und ihrer Wirkungen. Zu Recht kritisiert er die Theoretiker unter den Ökonomen.
Aber er erklärt mit seinen Betrachtungen der Erscheinungen an der Oberfläche
wirtschaftlicher Prozesse auch nicht den eigentlichen Grund des heutigen
Desasters: Geld (auch virtuelles) wird heute für Reichtum gehalten, für den es
aber nur ein Symbol darstellt. (Über Symbole lässt Graeber sich über mehrere
Seiten explizit aus.) Zwar kann dieses Symbol unvergänglich sein, aber nicht
der reale Reichtum. Der muss verbraucht und ständig durch jede Generation
selbst von neuem (re)produziert werden. Heute wollen und sollen nicht nur
einige Wenige für die Zukunft sparen, sondern ganze Gesellschaften. Das ist der
große Irrtum, die Idiotie der Gegenwart.
Ein weiterer gravierender Unterschied zu früheren
Zeiten besteht heute darin, dass angesichts der modernen Produktivkräfte der
menschlichen Gesellschaft eine Produktion
um der Produktion willen die natürliche Welt zerstört. Bei Graeber spielt der
technische Fortschritt so gut wie keine Rolle bei der Betrachtung ökonomischen
Wandels. Wie auch? Der Anthropologe vergleicht ökonomische Erscheinungen vor
allem als Moralist, dem offenbar die marxistische Betrachtungsweise
gesellschaftlicher Prozesse als Dialektik von Produktivkräften und
Produktionsverhältnissen fremd ist. Dennoch leistet David Graeber einen äußerst wertvollen praktisch-moralischen
Beitrag zur Überwindung des finanzgetriebenen Systems gesellschaftlicher
Selbstzerstörung, zur Anpassung des Überbaus (gerade auch der gesellschaftlichen
Moralvorstellungen) an die hoch entwickelte materielle, ökonomische Basis der
Gesellschaft. Vielleicht ist dies (wenigstens zum jetzigen Zeitpunkt) sogar
wichtiger als die unter anderem von Marxisten gebotene intellektuelle Einsicht
in die Notwendigkeit politischer Akte, mit denen der hoch effektiven
Wirtschaftskraft der Menschheit eine neue, wieder menschliche Wirkungsrichtung
gegeben werden könnte. Denn was wir heute brauchen, ist „nur“ noch ein
Massenbewusstsein mit einer neuen Moral, welche postuliert: Schulden und ihre
Tilgung bzw. Löschung sind keine Sache der Ehre, sondern des Rechts, das es
staatlich noch neu zu setzen gilt.
Bei dem Mitbegründer und Vordenker der
Occupy-Bewegung klingt das am Schluss seines Buches so: „Ich habe den Eindruck,
ein Ablassjahr nach biblischem Vorbild ist überfällig, für Staatsschulden wie
für Konsumschulden. Ein genereller Schuldenerlass wäre nicht nur heilsam, weil
er menschliches Leid lindern könnte. Er riefe uns auch in Erinnerung, dass Geld
nichts Geheimnisvoll-Unvergleichliches ist und dass das Begleichen von Schulden
nicht das Wesen der Sittlichkeit ausmacht. All diese Vorstellungen sind
menschliche Erfindungen, und in einer richtigen Demokratie hätten alle Menschen
die Möglichkeit, ihre Gesellschaft anders zu organisieren.“
Großartig! – Auch wenn Graeber dieses letzte Kapitel
seines Buches mit „1971 – Der Anfang von etwas, das noch nicht bestimmt werden
kann“ überschrieben hat, was wohl nicht ganz stimmt. Denn Mitte August 2006 hatte
die „Junge Welt“ einen Beitrag mit dem Titel „Währung ohne Basis“ veröffentlicht,
in welchem der Autor den hier und nun von Graeber erörterten Bruch des
Abkommens von Bretton Woods im Jahre 1971 als eine weltweite Veränderung der Produktionsverhältnisse bezeichnete, weil
er das Geld – ökonomisch gesehen, nicht juristisch! – in eine gesellschaftliche
Bescheinigung über geleistete Arbeit bzw. in einen individuellen Anteil(schein)
am Reichtum der Gesellschaft verwandelte. Einen solchen Wandel hatte Karl Marx
in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ von einer kommunistischen Gesellschaft
erwartet, die seiner Meinung nach allerdings vom Proletariat gestaltet werden
sollte. Die Ironie der Geschichte wollte es, dass US-Präsident R. Nixon als der
mächtigste Interessenvertreter des Kapitals in der Welt den entscheidenden ökonomischen Akt dazu selbst vollzog,
ohne es zu ahnen. Die juristische
Seite der Angelegenheit wartet nun dringend auf ihre Angleichung. Es gilt, den geistig-politischen
und juristischen Überbau dieser Gesellschaft mit ihrer ökonomischen Basis in
Übereinstimmung zu bringen. David Graebers Buch wird dafür den Boden mit
bereiten.
[i] David
Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, Klett-Cotta, 2012, ISBN
978-3-608-94767-0, 536 S., 26,95 €
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