Demokratischer Kapitalismus?
Von Heerke
Hummel
(Erschienen in: "Das Blättchen", Nr. 4/2012)
Über das Verhältnis von
Demokratie und Kapitalismus sinnierte unlängst
Dirk Kurbjuweit im „Spiegel“. Unter
dem vielsagenden Titel „Rückkehr der Ruchlosen“ waren da manche Wahrheit, viel
Halbwahrheiten mit Widersprüchen und auch Irrtümer niedergeschrieben. „Rettet
den Kapitalismus!“ hätte der Essay auch betitelt werden können. Immerhin mehren
sich ja die Stimmen, welche das heutige System in Frage stellen. Laut
ARD-Deutschlandtrend sagten unlängst 51 Prozent der befragten Deutschen, die Wirtschaftsordnung
müsse grundlegend verändert werden – was natürlich noch nicht bedeutet
„sozialismus ante portas est“.
Der „Spiegel“-Autor verneint eine „klare Alternative für
Sehnsüchte nach einem anderen System“, denn der Sozialismus sei gescheitert und
ein dritter Weg liege derzeit außerhalb der Realität. Mit dem Fall der Mauer
sei der Kapitalismus von seiner größten Angst – vom Sozialismus „unter Verlust
der Eigentumsrechte“ überrollt zu werden – befreit worden. Daher brauche er die
demokratischen Staaten nicht mehr für seine Sicherheit. Der - von Kurbjuweit
personifizierte - Kapitalismus habe, anders als der brave Bürger, wieder
starke Alternativen zur Demokratie. Das seien „autoritäre Staaten wie China,
Vietnam, Russland, Kasachstan, die zwar noch keine entwickelten Rechtssysteme
bieten, aber dafür den Kapitalismus nicht mit vielen Moralvorstellungen hemmen.“
Der könne jetzt wieder ruchlos sein, Millionen chinesischer Wanderarbeiter
ausbeuten, Waren zu Billigpreisen für die wohlhabende Welt unter unmenschlichen
Bedingungen herstellen lassen.
Dem „Spiegel“-Leser
sollen wohl die Tränen kommen! Verdanken denn die Industrieländer ihren
Wohlstand dankten ihrer militärischen, politischen und ökonomischen Macht nicht
schon immer zu einem Großteil dem nichtäquivalenten Austausch, sprich:
Ausbeutung der übrigen Welt? Sind wir denn nicht längst wieder zu Völkern der
(heute) rechnenden Jäger und Sammler geworden und mitschuldig am Elend der
übrigen Welt – auf der Jagd nach Schnäppchen und auf der Suche nach Punkten,
Gratifikationen, Jobs, Ideen, die „sich rechnen“? Wo sind die
besserverdienenden „Demokraten“, die ihr nicht unmittelbar zum Wohlleben
benötigtes Einkommen – statt es in sich selbst vermehrende „Wertpapiere“ zu
verwandeln – den Bedürftigen dieser Welt zur Verfügung stellen? Wer von ihnen
verzichtet freiwillig auf auch nur einen einzigen Prozentpunkt an Zinsen oder
Dividende? Und wer oder was ist das: „der“ Kapitalismus, der sich mal der
Demokratie und mal des Totalitarismus bedient, mal sozial-marktwirtschaftlich
und mal „ruchlos“ ist?
Und was hat
Kapitalismus überhaupt mit Demokratie zu tun?
Kurbjuweit tut sich mit dieser Frage schwer, bemüht die Freiheit, die Würde
des Staatsbürgers als Souverän und die „christlich-aufgeklärte“ Moral sowie die
Gleichheit vor dem Gesetz einerseits und die Freiheit wirtschaftlichen
Handelns und ihr entspringende
Ungleichheit andererseits, um schließlich zu der Schlussfolgerung zu gelangen:
„Demokratie und Kapitalismus haben also eine relativ kleine Schnittmenge. Von
den Freiheiten braucht der Kapitalismus die Freiheit zum Eigentum und zum
wirtschaftlichen Handeln. Er braucht vom Rechtsstaat einen verlässlichen Rahmen
für Geschäfte. Die moralischen Ansprüche der Demokratie können dagegen lästig
sein, genauso die Bestrebungen, die Ungleichheit nicht ausufern zu lassen.“
Damit hat der „Spiegel“-Autor den Auftrag seiner Brötchengeber
erfüllt. Er hat dem Kapitalismus ganz allgemein eine demokratische Legitimation
gegeben und einer Unterscheidung zwischen „demokratischem“ und „ruchlosem“
Kapitalismus den Weg geebnet. Dass Kapitalismus immer die mehr oder weniger offene Diktatur des Geldes in der
menschlichen Gesellschaft einschließt, wird aus durchsichtigen Gründen
übersehen. Denn sonst könnte ja nicht die Demokratie mit dem Kapitalismus
versöhnt und so dem wieder zunehmenden demokratischen Wunsch nach einer
Veränderung des Wirtschaftssystems der
Wind aus den Segeln genommen werden. Den Herrn K. ficht nicht an, dass
ökonomische Macht immer auch politische Macht bedeutet, weil der Staat, auch
der „demokratische“, entgegen allen bürgerlichen Beteuerungen, eben doch „das Machtinstrument
der jeweils herrschenden Klasse“ ist, wie wir dereinst einmal lernten. Und wenn
er nicht umhin kommt, einzugestehen, dass im „angstfreien Kapitalismus … die Finanzinstitute
einflussreicher geworden“ sind und „sich eine Parallelwelt geschaffen haben, in
der sie mit merkwürdigen Finanzprodukten einen sinnlosen Handel betreiben,
geleitet allein von der Gier“, so ist angeblich eben auch das nur „ruchloser
Kapitalismus. Er lässt die Menschen körperlich unversehrt, beutet nicht
Kolonien oder Arbeiter aus, er handelt gleichwohl ohne Moral, ohne Rücksicht
auf das Gemeinwohl, auf die Demokratie.“ Und woher kommt das? „Ein großer
Fehler der Demokratien war, sich dem Kapitalismus anzubiedern, ihm die Zügel zu
lockern.“ „Und fast alle Demokratien haben sich durch exzessive Schuldenpolitik
in die Hände der ruchlosen Kapitalisten begeben.“ Zu dieser halben Wahrheit
gehört dann aber wenigstens die Ergänzung: Diese Staatsverschuldung war nur der
demokratisch-opportunistische Weg zur Finanzierung sachlicher staatlicher
Zielsetzungen und Aufgaben. Er belastete zunächst weder die Armen noch die
Reichen durch eine entsprechende Besteuerung. Erst im Zuge der jüngsten
Finanzkrise mit ihrer Entwicklung zur Staatsschuldenkrise wurde eine Lösung des
Problems (das nicht nur die so genannten PIG-Staaten, sondern die gesamte EU
einschließlich Deutschland und darüber hinaus praktisch die ganze „demokratische“ Welt betrifft)
unaufschiebbar. Und die jetzige Sparlösung fiel – entsprechend den realen
„demokratischen“ Machtverhältnissen - zu Ungunsten der ohnehin schon Ärmeren
dieser Gesellschaft aus.
Das Problem sei,
meint Kurbjuweit, dass der Kapitalismus Alternativen zur Demokratie habe, aber
die Demokratie nicht zum Kapitalismus. Dieser simplen Behauptung folgt gleich
die ebenso dreiste zweite als Totschlagargument gegen alle
Veränderungswilligen: Der Sozialismus müsse „die Freiheiten drastisch beschränken,
damit er leben kann.“ Allerdings, auch der Kapitalismus zerstöre die Demokratien,
wenn er sich so aufführt wie zuletzt. Die Bürger würden nicht verstehen, warum
den Banken ständig geholfen wird, wo doch die Banken in ihren „ruchlosen
Sparten“ ein großer Teil des Problems seien. Sind sie das wirklich?
Das Problem
besteht doch wohl seinem Wesen nach darin, dass wir es schon lange mit einer
Diktatur nicht mehr einer ganzen herrschenden Klasse, sondern nur noch einer
quasi global agierenden Finanzoligarchie zu tun haben, die zwar, wie in Heft
Nr.2 Professor Max Otte zitiert wurde, keinen Masterplan besitzt, aber dennoch
ihre Interessen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verfolgt. Seit
Jahrzehnten beherrscht sie mehr und mehr alle Bereiche des gesellschaftlichen
Lebens. Und zu ihren wichtigsten Mitteln gehört eine instrumentalisierte
Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie, die in ihrem Wahrheitsgehalt und in
ihren geradezu absurden Konsequenzen kaum noch von jemandem durchschaut wird
(auch nicht von Politikern und selbst von Fachleuten nicht – so die
Einschätzung von Altbundeskanzler Helmut Schmidt!). Zu den Opfern solcher
„wissenschaftlicher“ Meinungsbildung sollte man gerechterweise auch Dirk
Kurbjuweit zählen, der einmal Volkswirtschaftslehre in der Altbundesrepublik
studierte und nun keinen besseren Rat zu geben weiß als: „Auf keinen Fall …
(sollten) sich die europäischen Demokratien auf einen Wettlauf mit den
autoritären Staaten um die größte wirtschaftliche Freizügigkeit einlassen. Damit
gäben sie ihre moralische Grundlage und ihre Würde auf, langfristig ihre
Existenz. … Sie dürfen nur den Kapitalismus zulassen, den sie vertragen können,
sie müssen Regeln setzen, sie müssen die Gier beschränken, zum Beispiel durch eine
Finanztransaktionssteuer und eine strengere Regulierung der Banken. … Damit
wird der Kapitalismus in Europa nicht aufgegeben.“ Und Kurbjuweits Hoffnung
wäre erfüllt.
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