von Heerke Hummel
(Erschienen in: "Das Blättchen", 5/2012)
Im September 2011 äußerte ich die Meinung, der damalige
Bundespräsident habe sich „in Sachen Euro-Krise weit aus dem Fenster gelehnt.
Wahrscheinlich zu weit! Seine scharfe Kritik am massiven Aufkauf von Anleihen
einzelner Staaten durch die Europäische Zentralbank könnte sich schon bald als
kurzsichtig und realitätsfremd erweisen, wenn sich die Europäische Zentralbank
vielleicht zu noch viel drastischeren Maßnahmen im Interesse der Euro-Rettung gezwungen
sehen sollte, auch wenn sie damit die ihr zugestandenen Kompetenzen weitaus
stärker übertreten müsste. Zwar studierte Wulff einst Rechtswissenschaft mit
Schwerpunkt Wirtschaftsrecht, doch was er in Lindau am Bodensee kürzlich
ausgerechnet zur Eröffnung des vierten Treffens der
Wirtschafts-Nobelpreisträger als seine persönliche Meinung zum Besten gab,
zeugte von nichts weniger als von Kompetenz.“ (vergleiche Das Blättchen,
19/2011) Dazu kann ich auch heute noch stehen, denn inzwischen warf die Europäische
Zentralbank dem Bankensektor über eine Billion Euro (im Dezember 490
Milliardenund nun im März noch einmal 530 Milliarden für ein Prozent Zinsen)
zur äußerst profitablen und sicheren Verwertung durch wesentlich höhere
Zinsnahme bei Weitergabe des Geldes in den Rachen. Die Inkompetenz des Mannes
resultiert(e) nicht nur aus der Ohnmacht des präsidialen Amtes, sondern
gleichermaßen aus seinem Unvermögen, die in der Entwicklung des ökonomischen
Systems dieser Gesellschaft liegenden Ursachen der Krise zu überblicken. Daher
wurden alle Probleme banalisierend auf Gier, Moralverfall und Mangel an
Solidarität reduziert. Bestätigt sehe ich mich durch den Gang der Dinge nun
auch in einem ganz anderen Sinne. Denn nur drei Monate später kam der
Bundespräsident tatsächlich aus dem Gleichgewicht. Immerhin so lange brauchten
seine Gegner, um Peanuts in seiner vorpräsidialen Vergangenheit zu finden und
ihm an den Hals zu hängen. Inzwischen haben sie ihn damit tatsächlich zu Sturze
gebracht.
Wer waren diejenigen da im Hintergrund, für die er untragbar
geworden war, für die er sich als Bundespräsident unakzeptabel gemacht hatte,
frage ich mich nun. Denn die jagende Pressemeute dürfte wohl nur deren –
bewusstes oder naives? – Mittel gewesen sein. Während ich mir meine damalige
Ansicht nur auf Grund von Zeitungsberichten bildete, habe ich nun einen Blick
in die vollständige Rede des Bundespräsidenten in Lindau vom 24. August 2011
geworfen. Daraus geht zwar auch kein größerer ökonomischer Durchblick des
Christian Wulff hervor, doch immerhin ein erhebliches Maß an Engagement für den
Staat und seine Bürger sowie für die Wiedererlangung des Primats der Politik.
Hier Auszüge: „In diesen Wochen zeigt sich in Europa und in den USA
überdeutlich: Die Banken- und Schuldenkrise hat die Politik, hat die
Regierungen und Notenbanken, an Grenzen gebracht. […]
Viele der Maßnahmen gegen die Krise sind höchst umstritten.
Es ist ja nicht so, dass in den Wirtschaftswissenschaften alle eine
einheitliche Auffassung vertreten. Auch die hier versammelten Wirtschaftsnobelpreisträger
haben sehr unterschiedliche Ansichten. […] Die Regierungen müssen auf dieser
unsicheren Grundlage entscheiden. Sie müssen dennoch mutig führen, um Vertrauen
und Glaubwürdigkeit schnell zurückzugewinnen. Und sie müssen dabei im Blick haben,
welche Maßnahmen sie ihren Völkern zumuten können. […]
Auf dem Deutschen Bankentag hatte ich den Finanzsektor
bereits gewarnt. Wir haben weder die Ursachen der Krise beseitigt, noch können
wir heute sagen: Gefahr erkannt – Gefahr gebannt. Wir sehen tatsächlich weiter
eine Entwicklung, die an ein Domino-Spiel erinnert: Erst haben einzelne Banken
andere Banken gerettet, dann haben Staaten vor allem ihre Banken gerettet, jetzt
rettet die Staatengemeinschaft einzelne Staaten. Da ist die Frage nicht
unbillig: Wer rettet aber am Ende die Retter? Wann werden aufgelaufene Defizite
auf wen verteilt beziehungsweise von wem getragen? […]
Ich verstehe die Empörung vieler junger Menschen an vielen
Orten der Welt, wenn sie sich aufregen, dass es aus ihrer Sicht nicht fair
zugeht und dass zum Teil ihre Zukunftschancen bereits in der Gegenwart
verbraucht werden. Denn es sind ihre Zukunftschancen, die hier auf dem Spiel
stehen. Der Internationale Währungsfonds warnt sogar seit einigen Jahren vor
einer so genannten ‚verlorenen Generation‘. […]
Ich verstehe, dass viele nicht nachvollziehen wollen, dass
Bankmanager zum Teil exorbitant verdienen, dass aber zugleich Banken mit
Milliarden gestützt werden. Und Trittbrettfahrer in der Finanzwelt spekulieren
weiterhin darauf, von der Politik und damit letztlich von Steuerzahlern aufgefangen
zu werden – weil sie zum Beispiel zu groß sind und zu relevant für den gesamten
Wirtschaftskreislauf.
Ich erinnere, wie mir, als ich in Ihrem Alter war, ein
Unternehmer erzählte, er hätte von seinem Vater gelernt: ‚Wenn Du einen kleinen
Kredit aufnimmst, dann hat Dich die Bank in der Hand. Wenn der Kredit eine
bestimmte Größe erreicht, dann hast Du die Bank in der Hand.‘ Und wenn die Bank
eine bestimmte Größe hat, scheint es jetzt so zu sein, dass sie den Staat in der
Hand hat. Und das empfinden die Menschen zu Recht als unfair – so wie es der
Volksmund sagt: ‚Die Kleinen fasst man, die Großen lässt man laufen‘.
Ungleichheiten sind wichtige Antriebskräfte, wenn sie nicht zu groß werden. Sie
werden dann aber nicht akzeptiert, wenn Gewinne privatisiert werden, Verluste
jedoch kollektiviert, sozialisiert, auf alle abgeladen werden. Hier geht es um
prinzipielle Fragen. Menschen reagieren empfindlich, wenn Fairnessprinzipien verletzt
werden. Fairness ist ein Urbedürfnis des Menschen. Ich habe heute Morgen vor 20
jungen Wirtschaftswissenschaftlern dafür geworben, nicht alles zu
zahlenorientiert zu betrachten. Vielleicht hat man in den Wirtschaftswissenschaften
menschliche Ansprüche, Bedürfnisse, Verhaltensweisen ein wenig vernachlässigt.
Das Grundbedürfnis nach Fairness darf nicht außer Acht gelassen werden, es ist
nicht zu akzeptieren, wenn es zu viel Trittbrettfahrer in einer sozialen Gruppe
gibt. Dieser Aspekt scheint mir ein wenig ausgeblendet worden zu sein. Das
Versagen von Eliten bedroht langfristig den Zusammenhalt in der Gemeinschaft,
in der Gesellschaft. Wer sich zur Elite zählt und Verantwortung trägt, darf
sich eben auch nicht in eine eigene abgehobene Parallelwelt verabschieden.
Sondern jede, jeder hat Verantwortung für das Ganze und für den Zusammenhalt in
einem Land. Dass es nicht fair zugeht und Lasten einseitig verteilt werden,
dieses Gefühl haben aber immer mehr Bürgerinnen und Bürger. […]
Statt klare Leitplanken zu setzen, lassen sich Regierungen
immer mehr von den globalen Finanzmärkten treiben. Wenn der Dax, der
Börsenindex fällt, sollen Politiker ihren Urlaub abbrechen. Wenn es gut läuft,
war es die Wirtschaft, wenn es nicht so gut läuft, ist es die Politik. Das kann
nicht die Aufgabenteilung in der Gegenwart und Zukunft sein. Immer öfter
treffen die Politiker eilig weitreichende Entscheidungen kurz vor
Börsenöffnung, anstatt den Gang der Dinge längerfristig zu bestimmen. Dies
trifft Demokratien in ihrem Kern. […]
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was muss jetzt getan
werden? Wie können Staaten ihre Handlungsfähigkeit wieder zurückgewinnen? Wie
schaffen wir die Voraussetzungen für stabile, langfristig tragfähige
wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen? Wie sichern wir damit die
Zukunftschancen für die nachkommenden Generationen? Zuerst: Politik muss ihre
Handlungsfähigkeit zurückgewinnen. Sie muss sich endlich davon lösen, hektisch
auf jeden Kursrutsch an den Börsen zu reagieren. Sie muss sich nicht abhängig fühlen
und darf sich nicht am Nasenring durch die Manege führen lassen, von Banken,
von Ratingagenturen oder sprunghaften Medien. Politik hat Gemeinwohl zu formulieren,
mit Mut und Kraft im Konflikt mit Einzelinteressen. Politik hat Strukturen zu
ordnen und gegebenenfalls den Rahmen anzupassen, damit knappe Ressourcen
bestmöglich eingesetzt werden und Wirtschaft und Gesellschaft gedeihen. Politik
hat langfristig orientiert zu sein und, wenn nötig, auch unpopuläre Entscheidungen
zu treffen. In freiheitlichen Demokratien müssen die Entscheidungen im Übrigen
immer von den Parlamenten getroffen werden. Denn dort liegt die Legitimation.
In der Demokratie geht die Macht vom Volke aus, durch in Wahlen und
Abstimmungen gewählte Repräsentanten und Abgeordnete. […]
Mich stimmt nachdenklich, wenn erst im allerletzten Moment
Regierungen Bereitschaft zeigen,
Besitzstände und Privilegien aufzugeben und notwendige
Reformen einzuleiten. Erst recht, wenn die obersten Währungshüter dafür auch
noch weit über ihr Mandat hinausgehen und massiv Staatsanleihen – derzeit im
Volumen von über 110 Milliarden Euro – aufkaufen. Das kann und das wird auf
Dauer nicht gut gehen und kann allenfalls übergangsweise toleriert werden. Auch
die Währungshüter müssen schnell zu den vereinbarten Grundsätzen zurückkehren.
Ich sage es hier mit Bedacht, ich halte den massiven Aufkauf von Anleihen
einzelner Staaten durch die Europäische Zentralbank für politisch und rechtlich
bedenklich. […]
Immer dann, wenn die materiellen Grundbedürfnisse erfüllt
sind, scheint nicht mehr das materielle ‚Mehr‘ entscheidend für die
Zufriedenheit zu sein, sondern vielmehr die Möglichkeit, aktiv am
gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, sich frei und in stabilen
gesellschaftlichen Verhältnissen entfalten zu können. Wohlstand hieße dann vor
allem, die Chance zu haben, ein gedeihliches, sinnerfülltes und kreatives Leben
zu führen. Viele, viele Menschen wünschen sich das, und ich begrüße sehr, dass
die Wissenschaft menschliches Verhalten, dessen psychologische und
soziologische Grundlagen endlich stärker experimentell erforscht. […]
Wir müssen offen und ehrlich Knappheiten benennen, da die
Dinge in dieser Welt nicht im Überfluss vorhanden sind. Der immer
wiederkehrende Versuch, die Wirkung von Knappheiten außer Kraft zu setzen und
sich auf diese Weise über Realitäten hinwegzutäuschen, bringt eben keine
dauerhaften Verbesserungen. Dadurch verschafft man sich, wie aktuell, im besten
Falle Zeit. Das gilt auch für unseren Umgang mit den Ressourcen der Natur und
einem Lebensstil, der von immer mehr Menschen weltweit angestrebt wird. Auch da
setzen wir uns über vorhandene Knappheiten hinweg – weil wir nicht ehrlich sind
und nicht die wahren Kosten in Rechnung stellen für Energie, für Rohstoffe, die
Nutzung von Wasser, Luft und Böden. Wie schon an den Finanzmärkten sind auch
hier Risiko und Haftung oft entkoppelt, und auch hier wird somit ein
Grundprinzip soliden Wirtschaftens verletzt. Dabei leben wir vielfach nicht nur
auf Kosten kommender Generationen, sondern gerade auch auf Kosten der
Schwächsten auf unserer Erde. Laut den Vereinten Nationen leiden die Menschen
in den ärmsten Ländern am stärksten unter den Folgen des Klimawandels wie
Dürren oder Überschwemmungen, obwohl sie am wenigsten zu dem Problem
beigetragen haben. Vor 25 Jahren bereits hat die Brundtland-Kommission
gefordert, so zu wirtschaften, ‚dass die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt
werden, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht
mehr befriedigen können‘. Wir dürfen die Annehmlichkeiten der Gegenwart nicht
mit unserer Zukunft und der Zukunft unserer Kinder bezahlen. Wir brauchen eine
Kehrtwende hin zu nachhaltigem Wirtschaften und Haushalten! […]
Von nachhaltigem Wirtschaften sind wir leider weit entfernt.
Es gelingt uns noch nicht, die grundlegenden Bedürfnisse der Gegenwart für alle
Menschen zu befriedigen. Und es gelingt uns noch weniger, den
Handlungsspielraum künftiger Generationen zu erhalten. Dazu aber möchte ich Sie
auffordern. Dies zu ändern ist die wirklich grundlegende Aufgabe, vor der wir alle
stehen, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Ich setze auf Ihren Sachverstand,
ich setze auf Ihren Forscherdrang, auf Ihren Enthusiasmus, auf Ihr Engagement,
damit wir kraftvolles, richtiges Handeln erleben, das langfristig trägt.“ Wie
ehrlich diese Äußerungen waren, will ich dahingestellt lassen. Doch es waren
massive Angriffe gegen die Diktatur der Finanzoligarchie, die eine mögliche
Positionierung des Bundespräsidenten, der sich irrtümlich für unanfechtbar
hielt, bei einem eventuellen Machtkampf zwischen Politik und Finanzindustrie in
der Zukunft zumindest anzukündigen schienen. Der nun designierte Nachfolger im
Amt hatte seinen Standpunkt vor seiner Kür klar gemacht, indem er laut
Zeitungsberichten die Occupy-Bewegung als kurzfristige Erscheinung wertete und
ihre Kapitalismus-Kritik „unsäglich albern“ nannte. Wenn er das nach seiner
jetzigen Nominierung als Kandidat für das Bundespräsidentenamt bei einem
Gespräch mit der Grünen-Fraktion des Bundestages auch etwas relativierte und
laut Claudia Roth „sehr wohl Verständnis für die Kritik an Finanzjongleuren
gezeigt“ hat, ergibt sich für den unvoreingenommenen Beobachter doch auch bei
ihm die Frage nach der Ehrlichkeit, an der Wulff angeblich scheiterte. Sollte
der von einschlägigen Medien zum „Liebling des Volkes“ Hochgeschriebene mit
seinen Rufen nach Freiheit (für wen und wozu eigentlich?) vielleicht nur einen
zuverlässigeren Diener des „Großen Geldes“ darstellen?
Kommentare
dazu in „Das Blättchen“/Forum:
ANMERKER sagt:
6. März
2012 um 09:26
In Ergänzung zu Heerke Hummels Beitrag in
Blaettchen 5 möchte ich auf Gaucks zutiefst gelebten Antikommunismus und dessen
mögliche Bedeutung für seine künftige Präsidentschaft hinweisen:
Armes Deutschland
Armes Deutschland
Die von Kohl geforderte geistig-moralische Wende
scheint kurz vor der Vollendung zu stehen Seine Erfüllungsgehilfen kommen, für
manchen paradoxerweise, aus dem Osten unserer Republik und heißen Angela Merkel
und Joachim Gauck.
Was macht sie zu Erfüllungsgehilfen und geistesverwandten Kohls, diese Pfarrers- und Seemannskinder aus der ehemaligen DDR?
Der Antikommunismus: in der BRD als offizielle Staatdoktrin jahrzehntelang gehegt und gepflegt und in der DDR im Umgang mit dem so genannten realen Sozialismus innerlich widerständig entwickelt.
Auf diesem gemeinsamen Nenner haben sie sich nach der Wende getroffen: Kohl und sein Mädchen, Kohl und der Stasi-Verfolger Gauck. Zwar hat das Mädchen gegen den Ziehvater aufbegehrt und gar dessen Stelle eingenommen, aber die ideologische Grundverbundenheit wurde dadurch nie in Frage gestellt. Und Gauck hat das mit großem Erfolg betrieben, was Kohls Wunsch schon immer gewesen: den bösen Kommunisten permanent eins auf die Mütze geben. Zuerst zehn Jahre lang mithilfe der nach ihm benannten Behörde und dann, und das schon seit Jahren, mit dem von ihm gegründeten Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“.
Also kann Kohl mit Befriedigung auf sein Werk blicken: Deutschland ist wieder wer in der Welt. Ein Staat der bestimmt, wo es lang geht in Europa, ein Staat, der mit imperialem Machtgebaren an Brennpunkten des Weltgeschehens militärisch dabei ist, ein Staat, auf den seine Bürger stolz sein sollten. Genau hier liegt aber die Crux: Es sind noch zu wenige stolz und dann auch noch oft die falschen. Also muss etwas geschehen. Die auf den Weg gebrachte Bewusstseinswende muss endlich zum Allgemeingut werden, bedarf der ideologischen Unterfütterung. Nichts scheint für die Seelenmassage der Deutschen besser geeignet als der Gesang vom Hohelied der Freiheit – zumindest sieht das die regierende Klasse so. Also weg mit dem glücklosen Multikulti-Wulff und her mit einem Messias der Freiheit, einem in langen Jahren realsozialistischen Martyriums innerlich gereiften Freiheitsprediger, der seit Jahren mit der marktkonformen Freiheit unserer Republik quasi auf Du und Du steht, einem „Präsidenten der Herzen“. Wie entlarvend diese Begrifflichkeit doch ist: um die Herzen soll´s gehen, nicht um den Verstand! Eben dies soll und wird er tun, dieser begnadete Schönredner: Er wird der ehedem verkündeten geistig-moralischen Wende die Krone aufsetzen, indem er die Deutschen mit Freiheitsreden so ins Herz treffen soll, dass ihnen vor lauter Rührung der Verstand flöten geht. Dann kann die herrschende Klasse sagen: Mission erfüllt.
Armes Deutschland!
Was macht sie zu Erfüllungsgehilfen und geistesverwandten Kohls, diese Pfarrers- und Seemannskinder aus der ehemaligen DDR?
Der Antikommunismus: in der BRD als offizielle Staatdoktrin jahrzehntelang gehegt und gepflegt und in der DDR im Umgang mit dem so genannten realen Sozialismus innerlich widerständig entwickelt.
Auf diesem gemeinsamen Nenner haben sie sich nach der Wende getroffen: Kohl und sein Mädchen, Kohl und der Stasi-Verfolger Gauck. Zwar hat das Mädchen gegen den Ziehvater aufbegehrt und gar dessen Stelle eingenommen, aber die ideologische Grundverbundenheit wurde dadurch nie in Frage gestellt. Und Gauck hat das mit großem Erfolg betrieben, was Kohls Wunsch schon immer gewesen: den bösen Kommunisten permanent eins auf die Mütze geben. Zuerst zehn Jahre lang mithilfe der nach ihm benannten Behörde und dann, und das schon seit Jahren, mit dem von ihm gegründeten Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“.
Also kann Kohl mit Befriedigung auf sein Werk blicken: Deutschland ist wieder wer in der Welt. Ein Staat der bestimmt, wo es lang geht in Europa, ein Staat, der mit imperialem Machtgebaren an Brennpunkten des Weltgeschehens militärisch dabei ist, ein Staat, auf den seine Bürger stolz sein sollten. Genau hier liegt aber die Crux: Es sind noch zu wenige stolz und dann auch noch oft die falschen. Also muss etwas geschehen. Die auf den Weg gebrachte Bewusstseinswende muss endlich zum Allgemeingut werden, bedarf der ideologischen Unterfütterung. Nichts scheint für die Seelenmassage der Deutschen besser geeignet als der Gesang vom Hohelied der Freiheit – zumindest sieht das die regierende Klasse so. Also weg mit dem glücklosen Multikulti-Wulff und her mit einem Messias der Freiheit, einem in langen Jahren realsozialistischen Martyriums innerlich gereiften Freiheitsprediger, der seit Jahren mit der marktkonformen Freiheit unserer Republik quasi auf Du und Du steht, einem „Präsidenten der Herzen“. Wie entlarvend diese Begrifflichkeit doch ist: um die Herzen soll´s gehen, nicht um den Verstand! Eben dies soll und wird er tun, dieser begnadete Schönredner: Er wird der ehedem verkündeten geistig-moralischen Wende die Krone aufsetzen, indem er die Deutschen mit Freiheitsreden so ins Herz treffen soll, dass ihnen vor lauter Rührung der Verstand flöten geht. Dann kann die herrschende Klasse sagen: Mission erfüllt.
Armes Deutschland!
Es gibt einen neuen Kommentar für den Beitrag
"Forum".
Autor: Bernhard Mankwald
Kommentar:
Heerke Hummels Beitrag in Blaettchen 5 trifft den Kern
der Sache: da hat sich ein Politiker "nicht abhängig" gefühlt, dem
die wirklichen herrschenden Kräfte unserer Gesellschaft recht leicht das
Gegenteil demonstrieren konnten.
Auch der Kommentar von Anmerker verdient Zustimmung.
Besonders deprimierend fand ich bei dem Vorgang, daß Gauck ursprünglich von SPD
und Grünen vorgeschlagen wurde - für mich ist es die verheerendste
Personalentscheidung der SPD, seit sie 1932 die Wiederwahl Hindenburgs
unterstützt hat.
Etwas zu schwarz sieht Anmerker aber doch. Sicher ist der
von ihm beschriebene Effekt in dieser Form
erwünscht; es könnte aber eines der letzten Male sein, bei denen der
antikommunistische Reflex noch in dieser Weise funktioniert.
Sogar das Öl geht allmählich zur Neige - und ausgerechnet
Antikommunismus soll eine Ressource sein, die in beliebiger Menge zur Verfügung
steht? Nachdem der Vorrat jetzt schon seit 20 Jahren intensiv ausgebeutet wird?
Man erinnere sich, wie es der FDP seit ihrem großen Sieg
bei der Bundestagswahl ergangen ist; vielleicht ist ja auch der bevorstehende
Triumph des Antikommunismus ein solcher Pyrrhussieg?
Etwas kann auch die Linke zu einer solchen Entwicklung
tun: sich endlich einmal gründlich mit ihren Erblasten auseinandersetzen. Oder
genauer gesagt: prüfen, ob es überhaupt ihr Erbe ist, mit dem der
Antikommunismus sie ständig konfrontiert - oder ob man gewisse historische
Entwicklungen nicht vielleicht mit Hilfe von Marx am besten verstehen und auch
kritisieren kann.
Wie eine solche Kritik aussehen könnte, habe ich schon
2010 zu zeigen versucht:
"Linke Erblasten
'Tote Geschlechter' in einem ungeahnt wörtlichen Sinne
haben sowohl Stalin als auch Mao hinterlassen. Beide beriefen sich in der
Theorie auf Marx, orientierten sich in der Praxis aber vor allem an Lenin, den
sie als dessen legitimen Nachfolger betrachteten. Ganze Generationen wurden
dezimiert, viele der Überlebenden durch Hungersnöte und Repression geprägt. Die
proklamierte klassenlose Gesellschaft haben beide Staatsmänner nicht
hinterlassen, im Gegenteil haben sich ihre Nachfolger dem einst verpönten
kapitalistischen System zugewandt.
Immensen Opfern stehen aber auch große Leistungen
gegenüber. Beide Länder wurden in wenigen Generationen von einem niedrigen
Ausgangsniveau aus zu modernen Industriestaaten ausgebaut. Dadurch gewannen sie
auch die Kraft, sich gegen Angriffe von außen zur Wehr zu setzen. Im Kampf
gegen Hitler trug die neuformierte Sowjetunion die Hauptlast der Kämpfe und
gehörte zu den Siegern. Ebenso machte sich China unter Mao von direkter wie
indirekter Einmischung aus dem Ausland frei und schuf damit eine
Grundvoraussetzung für seinen Wiederaufstieg.
Lange Zeit konnte man hoffen, daß der wirtschaftliche
Fortschritt auch einen politischen Fortschritt zu einem echten demokratischen
Sozialismus mit sich bringen würde. Unter diesen Umständen war es verständlich,
daß Versuche, zu Marx zurückzukehren, oft bei Lenin endeten, wie etwa Dutschkes 'Versuch, Lenin auf die
Füße zu stellen' oder Bahros Suche nach einer politischen 'Alternative'. Daß
Lenin auch nach dem Ende der Sowjetunion und der Wende Chinas zum Kapitalismus
noch viele Anhänger hat, ist auf den ersten Blick erstaunlich; der Versuch,
dies zu erklären, würde den Rahmen des vorliegenden Buches sprengen und muß
einer künftigen Veröffentlichung vorbehalten bleiben.
Ohne Schwierigkeiten dagegen läßt sich die Entwicklung
unter Stalin und Mao in der Ausdrucksweise der marxistischen Ökonomie
beschreiben. Sie stellt sich dann als eine Periode der ursprünglichen
Akkumulation dar, ähnlich dem Frühstadium der westlichen Industrialisierung, in
dem den Bauern die Verfügung über ihr Land genommen wurde und eine enorme
Ausbeutung der vorhandenen Arbeitskräfte die Ansammlung großer Kapitalien
ermöglichte. Auch für Schauprozesse, Arbeitslager und Hungersnöte gilt daher,
was Marx sarkastisch über die Kolonialkriege und Sklavenjagden der
westeuropäischen Industrienationen sagte: 'Diese idyllischen Prozesse sind
Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation.'" (Das Rezept des Dr. Marx,
S. 16-17)
Man muß diese Einschätzung nicht teilen. Aber nur wenn
die Linke sich weiterhin kollektiv weigert, die Diskussion überhaupt zu führen,
wird der Antikommunismus weiterhin leichtes Spiel haben.
Bernhard
Romeike sagt:
16. März
2012 um 12:51
Der Hinweis von Bernhard Mankwald auf die
Entscheidung der SPD für Hindenburg 1932 ist historisch richtig und für das
Verständnis dessen, womit wir es jetzt zu tun haben, wichtig. Gauck passt zur
heutigen SPD, wie Hindenburg zur damaligen: gar nicht. Analogien haben jedoch
auch ihre Grenzen: Der Satz, “Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler”, hat sich
dann leider als zutreffend erwiesen. Vor einer solche Aufgabe wird Gauck nicht
stehen. Aber die politischen Grundmuster beider, Gauck und Hindenburg, dürften
viele Schnittmengen haben. Wir bekommen jetzt die sonntagsrednerischen
deutsch-nationalen Girlanden, die um die Weltgeltung, die dieses Deutschland
inzwischen wieder hat, gewunden werden. Das Freiheitsreden ist nur das
Sahnehäubchen auf dem dunklen Trank; in Norddeutschland ist das ein “Pharisäer”
– man tut so, als trinke man Kaffee, und drinnen ist Schnaps.
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