Mittwoch, 22. Oktober 2008

Wahldemokratie

(Erschienen in "Das Blättchen")

Die Wahlergebnisse in Hessen haben, weil sie eine Regierungsbildung schwierig machen, wieder einmal Wahlrechtsreformer auf den Plan gerufen. Das Land (und auch die Republik) seien mit der Etablierung einer fünften Partei unregierbar geworden, heißt es. Die Sache hat etwas mit dem Verständnis von Demokratie zu tun, mit der Frage, was des Volkes politischer Wille ist, wie er sich artikuliert und wie er durchgesetzt wird.



Dem Volk, dem Souverän, stehen heute bei uns in Deutschland und Europa grundsätzlich zwei Wege offen, seinen Willen kund zu tun und durchzusetzen: Der parlamentarische und der außerparlamentarische. Je weniger ersterer sich dazu als geeignet erweist, umso mehr gewinnt letzterer an Bedeutung und Gewicht, endet möglicherweise in Rebellion und Revolte des Volkes. Ob er sich als geeignet erweist, hängt ab einerseits von den (vereinbarten) parlamentarischen Regeln einschließlich Wahlmodus und andererseits vom Verhalten der agierenden Politiker.

Bisher war in der öffentlichen Meinung die Auffassung vorherrschend, unser heutiges Wahlsystem als Kombination von Mehrheits- und Verhältniswahl (die Hälfte der Mandate wird durch „Mehrheitswahl“ einzelner Personen mit der Wählererststimme vergeben, die andere Hälfte über Listen der Parteien, deren Stärke im Parlament sich aus ihrem verhältnismäßigen Anteil an den sogenannten Zweitstimmen der Wähler ableitet) ermögliche die Ermittlung und Durchsetzung des Volkswillens. Wenn nun, in einem sich stabilisierenden System von fünf im Parlament vertretenen Parteien ein Land beziehungsweise die Republik angeblich „unregierbar“ werden soll, so kann das doch – da der Wahlmodus gleich geblieben ist – nur am Verhalten der Parlamentarier liegen. Wie bockige Kleinkinder stellen sich da vier der Parteien hin und schreien: Nein, mit der Fünften spielen wir nicht, ja reden wir nicht einmal darüber, was vielleicht gemeinsam gespielt werden könnte! Der Wille etwa jedes zwölften Wählers dieser Republik soll also nicht einmal zur Kenntnis genommen werden? Wer dies in sein Verständnis von Demokratie einschließt, möglicherweise sogar Wahlgesetzänderungen herbeiführt, um mit der fünften Partei nicht doch irgendwann reden, vielleicht sogar regieren zu müssen, indem er ihr den Einzug ins Parlament per Gesetz „verbietet“, der möge bedenken, dass dann ein wachsender Volksteil zu außerparlamentarischen, von den „Demokraten“ meist verpönten Aktionen gedrängt wird, wenn dieser seine Interessen im und vom Parlament nicht vertreten fühlt und von der Regierung missachtet glaubt.

Und wo liegen die Interessen des Volkes, der Masse der Bürger? Etwas vereinfacht gesagt doch wohl (neben einer Politik des Friedens und der Völkerverständigung) in einer angemessenen Teilhabe jedes Einzelnen am allgemeinen gesellschaftlichen Wohlstand durch entsprechende Bildungsmöglichkeiten, durch gesicherte und existenzsichernde Einkommen aus stabilen Arbeitsverhältnissen, durch ein Sozialsystem, das auch bei Krankheit und im Alter vor Elend schützt. Die große Mehrheit des Volkes, der Wähler, dürfte die Wahrnehmung dieser grundlegenden Interessen noch immer von der solidarisch orientierten Politik einer dem Volkswohl verpflichteten Regierung erwarten. Der heute Meinung machende Neoliberalismus begreift die Gesellschaft nicht als eine solche politisch zu leitende und zu gestaltende Solidargemeinschaft von Bürgern, sondern als eine „Spielgemeinschaft“ privater Kontrahenten in einem weltweiten Verteilungs- und Verdrängungswettbewerb nach den Kampfregeln internationaler Waren- und Finanzmärkte. Dass gerade Letztere von Jahrzehnt zu Jahrzehnt durch ihre irrationale Aufblähung (von um den Erdball strömenden „Finanztiteln“ im Umfang von über 100 Billionen Dollar ist heute die Rede – tausend mal tausend mal tausend mal tausend mal hundert!) immer illusionärer wurden, von Jahr zu Jahr instabiler werden, von zunehmend verlustreichen Betrügereien und Zusammenbrüchen gekennzeichnet und immer weniger zu durchschauen sind (wer von den Großanlegern, Banken, Versicherungen und Konzernen, geschweige denn von den wirklich privaten Kleinanlegern weiß denn heute, wer wo und wie mit seinem Vermögen wie im Spielcasino spekuliert?) scheint niemanden zu irritieren.

Dem Volk ist es offenbar ziemlich egal, wer, welche Partei seine Interessen durchsetzt und wie – wenn sie denn nur überhaupt durchgesetzt werden. Und schon so oft betrogen schwankt es, gibt mal der einen, mal der anderen seine Gunst und Stimme und mal auch einer neuen. Und in zunehmendem Maße vertraut es gar nicht mehr der Politik, geht nicht mehr zur Wahl, pfeift auf eine „Demokratie“ die keine ist und die die Maske fallen lässt, wenn wirkliche Demokratie droht durch „falsche“ Wahlentscheidung des Volkes. Wahlrechtsreformer sollten daher die Frage schärfer stellen: Haben Wahlen überhaupt noch einen Sinn und ist Demokratie überhaupt eine Frage von Wahlen? Welcher Wähler kennt denn seinen Favoriten wirklich oder kann ihm gar – dank dessen persönlicher Integrität - vertrauen (zumal dieser ja ohnehin nicht tun kann was er möchte und versprach, sondern in seinen späteren Entscheidungen objektiven und subjektiven Sachzwängen sowie den Einflüsterungen seiner Berater, eines Heeres von Lobbyisten unterliegt)? Welcher Wähler kann der Abgeordneten Sachkompetenz beurteilen – geschweige denn die Programme und Strategien der Parteien in den Sachfragen? Ich jedenfalls traue mir das alles nicht zu und weiß nicht, wem ich es zutrauen würde. Ich sehe nur, dass überall Glaube ist, wo Wissen sein und entscheiden sollte.

Im „Blättchen“ Nr. 3 setzte sich Wolfgang Sabath kritisch mit unseren gewesenen und vielfach noch vorhandenen Gewissheiten von „Sozialismus“, „Demokratie“ und „Avantgarden“ auseinander, noch manche „bizarren Erscheinungen“ vor allem in der außereuropäischen Welt erwartend. Dem stimme ich gern zu, würde aber nicht ausschließen, dass auch in Europa politische Systeme und Strukturen entstehen bzw. geschaffen werden, die mehr den früheren in Osteuropa ähneln als dem Parlamentarismus Westeuropas. Viele Gründe ließen sich für diese Vermutung anführen. Eine wichtige Überlegung besteht darin, dass der europäische Handlungsrahmen in Politik, Wirtschaft, Finanz- und Sozialwesen dominierende Bedeutung gewinnen wird. Ohne eine stabile, vernunftorientierte, fachmännische „Verwaltung der gesellschaftlichen Angelegenheiten“ wird man dabei nicht auskommen. Der bürgerliche Parlamentarismus, eigentlich das politische System des bürgerlichen Nationalstaats und des „klassischen Kapitalismus’“ des 19. Jahrhunderts, wird dieser Aufgabe immer weniger gewachsen sein; er wird ihr schon längst nicht mehr gerecht. Das Tempo des künftigen Wandels dürfte davon abhängen, wie rasch sich diese Gesellschaft als ganze und vor allem ihre „Eliten“ des Wesens der Veränderungen in den Wirtschafts- und Finanzbeziehungen, deren weitestgehender Vergesellschaftung bei gleichzeitiger Aushöhlung alles „Privaten“, bewusst und dementsprechend handlungswillig werden. Das „Private“ ist weitgehend zu einer juristischen Fiktion von Ansprüchen geworden, die mehr von Illusionen als von stofflicher Realität gespeist werden. Wenn nicht Einsicht in die Notwendigkeit rasche und bedeutende Veränderungen bewirkt, wird eine langzeitliche Kette dauernder Krisen sie in tausend kleinen Schritten erzwingen - sofern nicht wieder einmal Gewalt als ultima ratio erscheint. Die Ergebnisse und Folgen der jüngsten Landtagswahlen haben zum Nachdenken angeregt.

(Der Autor veröffentlichte 2005 im Projekte-Verlag Halle sein Buch „Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum“. www.projekte-verlag.de)

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