Mittwoch, 22. Oktober 2008

Versäumter Paradigmenwechsel?

(Erschienen in: "Das Blättchen", Heft 5/2008)

Mit dem versäumten Paradigmenwechsel in der DDR Ende der 1970er Jahre befasste sich Anfang Februar eine zweitägige Konferenz der brandenburgischen Rosa-Luxemburg-Stiftung in Potsdam.


Gerhard Zwerenz, Siegfried Prokop und andere Koryphäen der Geschichts-, Wirtschafts- und Landwirtschaftswissenschaften, Philosophen und ehemalige Funktionsträger sowie Gäste aus Frankreich und den USA (insgesamt 26 Redner) zeichneten ein Situationsbild der DDR zur fraglichen Zeit, wie man es wohl nicht nur wegen des 1989 weggefegten Meinungs- und Informationsmonopols der SED-Führung erst mit größerem zeitlichen Abstand zu überblicken und zu gestalten vermag. Einzelheiten der äußerst interessanten Beiträge (Moderator Zwerenz: Hier zeigt sich, wie wohltuend frei Professoren neue persönliche Sichten zu entwickeln und darzustellen vermögen, wenn sie der Bürde ihres Amtes enthoben sind) möge der Leser dem Buch entnehmen, in welchem die einzelnen Beiträge veröffentlicht werden sollen. Auch wenn diese in Potsdam nur verkürzt vorgetragen werden konnten, wurde deutlich, dass
  1. man übereinstimmend einen Paradigmenwechsel in der Politik der DDR um das Jahr 1978 für notwendig gehalten hätte, um den späteren Zusammenbruch dieses deutschen Staates zu verhindern und
  2. ein solcher Wechsel in verschiedenen Bereichen von einzelnen Personen angestrebt wurde bzw. ansatzweise vorhanden war.
Offen blieb aber am Ende die Frage, wie tief greifend die Reformen hätten sein müssen, um letztlich dem Druck der BRD standhalten zu können. Und welche Konsequenzen hätten sie dann gehabt? Und hätten diese Konsequenzen (nehmen wir mal an, die Sowjetunion unter Breschnew hätte diesen „Neuen Kurs“ geduldet oder sogar mitgemacht) nicht vielleicht bedeutet, das große Ziel, eine „sozialistische Gesellschaft“ zu errichten, letztendlich aufzugeben? War also vielleicht dieses Ziel von vornherein irreal? So scharf wurden die Fragen in Potsdam denn auch nicht ansatzweise gestellt. Aber muss man sie nicht – logisch denkend – so scharf stellen? Vielleicht ist die Zeit dafür auch jetzt noch nicht reif. Immerhin aber war sich die Gemeinde der Versammelten ziemlich einig mit der Feststellung von Siegfried Prokop, in China habe man unter der Ägide von Deng Xiao Ping den Paradigmenwechsel erfolgreich vollzogen. Wieso und inwiefern eigentlich? Indem man ein Ideal als Ziel und alle Theoriedogmen hat fallen lassen und sich ganz pragmatisch den harten Realitäten angepasst hat, um das Mindeste in einer globalisierten Welt zu erreichen – im Interesse eines, wenn auch nur wenig, besseren Lebens von Millionen und Milliarden armer Menschen, die von einem noch so schönen Sozialismus-Bild weder satt noch zufrieden werden? So gesehen war der ganze Umschwung 1989/90 in Osteuropa und der Sowjetunion nur ein (verspäteter, vorher versäumter und dann von der Realität erzwungener) Paradigmenwechsel.

Konnte man ihn von Honecker und Genossen erwarten? Wohl kaum! Denn für die Führung der SED musste ein Umschwung, wie er sich notwendigerweise zu vollziehen hatte, die Selbstentmachtung, also Selbstaufgabe bedeuten. Die DDR als der schwächere deutsche Staat hätte keine weitere selbständige Existenzchance gehabt, weil dazu keine historische Notwendigkeit bestanden hätte. Die kommunistischen Führungen etwa in den Sowjetrepubliken waren da in einer wesentlich besseren Situation, weil sie noch nicht unter dem Druck einer bedeutenden inneren Opposition und einer „nationalen Frage“ standen. Hinzu kommt, dass die deutschen Kommunisten sich etwas darauf zu Gute hielten, Marx und Engels, ihre Vordenker, seien Deutsche gewesen. Aus deren Analysen und Prognosen hatten sie unerschütterliche Bibelsätze gemacht. Deren sozialistisches Ideal als Frucht einer materialistischen Weltanschauung und Analyse der damaligen Verhältnisse erstarrte in einer (nicht nur im Sinne des Mauerbaus) versteinerten Realität des deutschen Kommunismus, weil die Nachbeter die Theorie von Marx und Engels ihrer dynamischen Lebendigkeit beraubten und so in den reinsten Idealismus verwandelten.

Die Vorträge in Potsdam ließen die Mächtigen der DDR noch einmal in ihrer ganzen jämmerlichen Hilflosigkeit (Bericht von J. Roesler über Beratungen von Honecker, Mittag und Schürer über die Auslandsverschuldung der DDR) erscheinen, aber auch in ihrer dummen Arroganz (regionalgeschichtlicher Bericht von V. Pilz, Schöneiche, über die Ausspähung des Hauses Herrmann von Bergs durch das Ministerium für Staatssicherheit). Es war die von Illusionen getriebene und Illusionen produzierende (auch mit Hilfe der Statistik) Herrschaft von Kleingeistern. Natürlich hielten die wiederum ihre Widersacher für Illusionisten und Klassenfeinde, obwohl Rudolf Baro, Hermann von Berg und auch die DDR-Kritiker unter den Künstlern stets klarstellten, nicht gegen, sondern für (einen „besseren“) Sozialismus zu sein. Aus heutiger Perspektive, mit genügendem zeitlichen Abstand und in Kenntnis dessen, was sich – nicht nur im Osten Deutschlands, sondern ganz Europas und Asiens vollzogen hat – muss man wohl sagen, Honecker und Co. scheinen mit ihrer Sturheit mehr Gespür für die Realitäten an den Tag gelegt zu haben als die Reformwilligen, die nicht minder einem Trugbild folgten.

Wie also ist die osteuropäische und asiatische Geschichte des 20. Jahrhunderts – seinerzeit von den Strategen der Macht als „Allgemeine Krise des Kapitalismus“ und „Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus“ nach den Lehren von Marx und Engels verstanden – zu bewerten? Hat in der weltweiten Auseinandersetzung zwischen Ost und West wirklich der Westen den Osten besiegt, wie es zu sein scheint? Oder wurden in der Welt nur zwei unterschiedliche Wege – hin zu dem Punkt, an dem wir uns heute, knapp hundert Jahre später, alle gemeinsam befinden – beschritten, entsprechend den unterschiedlichen Ausgangsbedingungen in Ost und West? Schon 1990 schätzte Barbara Sichtermann sehr scharfsinnig ein: „Der russische Bär, vor hundert Jahren mit dem Rücken zur Wand stehend zwischen dem imperialistischen Japan und einem weit überlegenen, kriegslustigen und auf Kolonien scharfen kapitalistischen Westen, hat all seine Kraft zusammengenommen, sich auf die Hinterbeine gestellt und unter entsetzlichem Gebrüll eine ideologische Mauer um sein Territorium gezogen, um in deren Schutz fieberhaft an seiner Wettbewerbsfähigkeit zu arbeiten. Alle Welt hat sich von diesem Gebrüll, in dem ständig das Wort „Sozialismus“ vorkam, irreleiten lassen, anstatt zu sehen, dass die Russen lediglich versuchten, Anschluss an den westlichen Standard zu finden, um nicht ausgebeutet und kolonialisiert zu werden … Am Anfang der Entwicklung …, die in die stalinistische Tyrannei mündete, stand das unfaire Match: fortgeschrittener, fortschrittstrunkener Westen hier - zurückgebliebener, fortschrittssüchtiger Osten dort, stand die Angst des Schwächeren. Historisch betrachtet, trägt der Westen an all dem, was dann kam, sein Teil Verantwortung. Das vergisst er gern.“ Natürlich spiegelte sich dies im Bewusstsein der Sowjetführer, die wahrscheinlich glaubten, was sie sagten, nicht so wider. Aber es war das objektive Wesen des geschichtlichen Prozesses.

Kurzsichtig wäre es, B. Sichtermanns Darlegungen nur technisch-ökonomisch zu verstehen. Auch politökonomisch betrachtet vollzog sich ein im Wesentlichen gleicher Prozess auf zwei unterschiedlichen, konkurrierenden Wegen: Die Vergesellschaftung der Produktion und des Eigentums. Im Osten geschah sie durch die radikale, gewaltsame Verstaatlichung, um die Macht und die Herrschaft des Warenwerts, des Kapitals, zu brechen und einem gesellschaftlichen (zentralen staatlichen) Willen freie Bahn zu schaffen. Im Westen löste sich das Privateigentum „von selbst“ von der sachlichen Ware und schlüpfte, ein hohes Maß an dezentralisierter Eigenverantwortung der Wirtschaftsakteure gewährend, ganz pö a pö in papierne Anteilscheine, für deren Sicherheit ebenfalls der Staat die allergrößten Anstrengungen unternimmt und für die er mit seinem ganzen Gesetzesapparat bürgt. (Der durch Fehlspekulationen angeschlagenen Privatbank IKB bewilligte die Bundesregierung, um sie vor der Pleite zu retten, Mitte Februar sogar eine Milliarde Euro aus dem Bundeshaushalt. Das Engagement sei notwendig, so SPD-Finanzminister Steinbrück, weil im Falle einer Insolvenz der IKB ein "erheblicher Vertrauensverlust für den gesamten Finanzplatz Deutschland gedroht hätte". Im Falle eines Konkurses wären Einlagen im Volumen von 24 Milliarden Euro vom Verlust bedroht, sagte der Minister.) Ganz offen sichtlich hat sich heute (und schon seit langem) in West wie in Ost – ungeachtet aller unternommenen oder versäumten Paradigmenwechsel, ungeachtet aller Illusionen vom „privaten“ Reichtum - die Marxsche Erwartung erfüllt: Jeder erhält von der Gesellschaft einen Schein, „dass er soundso viel Arbeit geliefert …“

(Siehe auch „Warenwert, wo bist du geblieben?“ unter www.heerke-hummel.de)

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