Mittwoch, 22. Oktober 2008

Deutsch-russische Verhältnisse

(Erschienen in: "Das Blättchen, Nr. 6/2008, www.das-blaettchen.de)
Die Russen haben einen neuen Präsidenten mit großer Mehrheit gewählt. Das war vorher absehbar. Und prompt tönt es aus den Medien: Die Wahlen waren unfair, nicht demokratisch! Das mag so sein, jedenfalls nach hiesigen Maßstäben. Aber müssen unsere Maßstäbe für alle und überall maßgebend sein? Zu fragen und vor allem zu beantworten wäre doch wenigstens, wenn man sich für den Nabel der Welt und den Hort der Demokratie hält: Was ist demokratisch und was versteht man unter Demokratie?


War es etwa demokratisch, dass sich SPD und Unionsparteien bei den letzten Bundestagswahlen mit dem Wahlversprechen von Millionen Rentnern und anderen Einkommensschwachen wählen ließen, die Mehrwertsteuer nicht zu erhöhen, um danach das genaue Gegenteil zu tun, ohne auch die Einkünfte dieser Klientel aufzubessern? Auch was gerade in den Vereinigten Staaten mit viel Rummel und Getöse und noch mehr Geld über Wochen zur Präsidentenkür veranstaltet wird (von der seinerzeit sehr umstrittenen Wahl des jetzt noch amtierenden G. W. Bush ganz zu schweigen), ist doch wohl nicht frei von Wählerbeeinflussung. Ist Wählerbetrug kein Wahlbetrug? Glücklicherweise können unsere Regierenden ihre Abneigung überwinden und trotz des Zweifels an der „Rechtmäßigkeit“ des Wahlergebnisses mit den neuen Herren im Kreml weiterhin reden und verhandeln. Sie brauchen den russischen Markt, russisches Gas und Erdöl.

Ich gebe zu, dass auch ich nicht unter den russischen Verhältnissen leben möchte. Aber ist das ein Grund, sich so aufzublasen, zu überheben? Die Art und Weise unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens entspricht unseren überkommenen Existenzbedingungen. Überall in der Welt funktioniert das Zusammenleben der Menschen – und auch das Regieren – anders als bei uns. Das stört zwar die hiesigen Bosse, den Kassierer im ALDI-Markt aber wohl kaum. Warum? Weil die Bosse sich wohl so wenig wie Schulze oder Lehmann um das Schicksal der Leute auf den Bohrtürmen im sibirischen Eis scheren, aber sehr stark um das geförderte Öl, das dem Schulze und dem Lehmann dagegen ziemlich schnurz ist, weil er daran nichts verdient.

Die Russen aber, die auf den Bohrtürmen wie die im Kreml, sehen das alles offenbar etwas anders. Darüber können sich nur Naseweise in Ämtern und Redaktionen wundern, die sich und ihre Interessen für das Zentrum des Weltgeschehens halten, nach dem sich alle anderen auszurichten haben. Das taten übrigens auch schon die alten Athener. Die waren im eigenen ökonomischen Interesse darauf aus, ihr politisches System den Nachbarstaaten aufzuzwingen. Wer sich nicht einordnete, wurde von der athenischen Flotte heimgesucht. Doch zurück zu den Russen: Die haben nun mittlerweile an die hundert Jahre Ausnahmezustand hinter sich, wenn man die Zeit des ersten Weltkrieges auch als eine solche ansieht. Dann Februar- und Oktoberrevolution, Konterrevolution mit Bürgerkrieg, ausländische Invasoren und schließlich Hungersnöte, als das Riesenreich zerstört völlig am Boden lag, seine Wirtschaft am Nullpunkt angelangt war. Lenins bescheidene Analyse dann Anfang 1921: Nicht die Bolschewiki hätten gesiegt, denn ihre militärischen Kräfte seien nicht der Rede wert. Der Sieg sei dem Umstand zu verdanken, „dass die Mächte nicht ihre ganze militärische Kraft gegen uns einsetzen konnten.“ Nach dem heißen folgte schon damals ein „kalter“, ein Wirtschaftskrieg, um Sowjetrussland zu isolieren, vom Welthandel abzuschneiden und seine ökonomische Entwicklung zu bremsen. Gewitterwolken zogen am Himmel auf. Auf der Konferenz von Genua sollte 1922 ein westeuropäisches Konsortium zur Regulierung der Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zwischen den Staaten gebildet werden. Ein solches Organ hätte, nachdem militärisch nichts erreicht worden war, die Sowjetmacht nun ökonomisch erdrücken können. Denn Lenins Strategie sah vor, die Interessengegensätze zwischen den imperialistischen Mächten in zweiseitigen Verhandlungen und Abkommen über den Tausch von Rohstoffen gegen Maschinen auszuspielen. Das gelang auch - am Rande der Konferenz von Genua mit dem Vertrag von Rapallo zwischen Sowjetrussland und Deutschland. Er war ein Meisterwerk sowjetischer Diplomatie und der deutschen Außenpolitik. Denn er öffnete die Umklammerung Russlands und erleichterte für Deutschland die Isolierung und ökonomische Vergewaltigung durch den Diktatfrieden von Versailles. Am 16. April 1922 unterzeichnete Walther Rathenau den Vertrag für Deutschland. Zwei Monate später, am 24. Juni, wurde der deutsche Außenminister dafür, aber nicht nur dafür, von Mitgliedern der rechtsradikalen „Organisation Consul“ erschossen. Die tags darauf vor dem Reichstag gehaltene Rede von Kanzler Wirth könnte in weiten Teilen an eine heutige Hörerschaft gerichtet gewesen sein. Sie endete mit den Worten „Der Feind steht rechts!“ Dass Wirths „auf eine vernünftige Lösung des ganzen Reparationsproblems auf wirtschaftlicher Basis“ zielende Politik erfolglos blieb, ging weitgehend auf das Konto der französischen und der englischen Bourgeoisie und bereitete den Nährboden für den Nationalsozialismus in Deutschland. 1954, nachdem Konrad Adenauer Deutschland im Interesse der Großbourgeoisie staatlich gespalten hatte, ließ der Kommunist Walter Ulbricht den ehemaligen Zentrums-Politiker Joseph Wirth für dessen lebenslanges Wirken im Interesse der ganzen deutschen Nation mit der Friedensmedaille der DDR ehren.

Auch in Russland bzw. in der Sowjetunion standen die inneren Verhältnisse stets in Wechselwirkung mit den äußeren Beziehungen. Da diese seit der Oktoberrevolution nie „normal“, sondern immer durch eine existenzielle Bedrohung gekennzeichnet waren (US-Präsident Ronald Reagan sprach noch 1981 ganz offen davon, die Sowjetunion totrüsten zu wollen), ist es entweder dumm oder verlogen, von der Nach-Jelzin-Kreml-Garde im deutschen Sinne normale Methoden der Herrschaft zu erwarten. Immerhin hatte dieser Säufer mit dem Rat seiner „Freunde“ aus dem Westen (Bundeskanzler Kohl rechnete auch sich dazu) die ohnehin marode Sowjetwirtschaft an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Das Vertrauen der Russen in den Westen ist heute so „groß“, dass Wladimir Putin auf seiner letzten Pressekonferenz als russischer Präsident von der Befürchtung sprach, Russland könnte (neo)kolonialisiert werden. Das war weder eine verbale Entgleisung noch eine abwegige Äußerung. Die Gefahren lauern überall, nicht zuletzt von Seiten solcher internationalen Organisationen wie Weltbank, Internationaler Währungsfonds und Welthandelsorganisation. Die USA mit ihren Verbündeten, leider auch den deutschen, demonstrieren gerade, wozu sie bereit sind, wenn es um Energieressourcen geht und „normale“ Wege nicht zum Ziel führen. Und die russischen Vorräte gehören zu den bedeutendsten der Welt. Wen wundert’s da, dass die russische Führungselite eine starke innere Macht sichern und dabei keine Risiken eingehen will?

Im Internet-Gästebuch des „Blättchens“ beklagte Leser Werner Richter unlängst ein Fehlen von Themen, die „fundamental“ sind. Ihm sei gedankt und freundschaftlich geantwortet: Auch ein so banales Thema wie die Wahl von Herrn Medwedjew zum russischen Präsidenten hat doch sehr bedeutsame Aspekte.

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