Mittwoch, 22. Oktober 2008

Signale einer neuen Gesellschaft

Bemerkungen zu: M. Brie/ Ch. Spehr, Was ist Sozialismus? In: "kontrovers", Beiträge zur politischen Bildung, herausgegeben von der Rosa Luxemburg Stiftung und WISSENTransfer, 01/2008)
(Erschienen in: "Das Blättchen", Nr. 3, 2. Februar 2009)

Während in aller Welt Hunderte Milliarden Dollar und Euro staatlich mobilisiert werden, um Banken und Unternehmen vor dem Ruin zu bewahren, fragt man sich bei der Linken: „Was ist Sozialismus?“[1] – Ein neuer, sozialistischer Idealismus? So mag es vielleicht scheinen. Aber es ist mehr, mehr als ein historischer Rückblick sozialistischen Selbstverständnisses bzw. Vorausblick ins 21. Jahrhundert. Jedenfalls vermitteln M. Brie und Ch. Spehr die Erkenntnis, die sozialen, kulturellen und technologischen Umbrüche der letzten vierzig Jahre hätten zur Entstehung eines offenen Sozialismus (gemeint ist wohl: Vorstellung von Sozialismus) geführt, und dieser „zielt nicht auf die Verwirklichung eines vorgegebenen Modells, sondern auf die Ermöglichung nicht vorhersehbarer Entwicklungen“ und könne als Richtung gesellschaftlicher Entwicklung „auch nicht durch die wissenschaftliche Einsicht einer Avantgarde vorweggenommen werden, die von oben führt und steuert.“ Schlussfolgernd wird dann u. a. die wichtige Frage aufgeworfen: „Welche Reformen führen zu einer substantiellen Veränderung der Eigentums- und Machtverhältnisse und weisen über den Kapitalismus hinaus?“



Geld als gesellschaftliche Arbeitsquittung

Die Autoren stellen diese Frage zukunftsorientiert. Können, ja müssen wir sie aber nicht auch in Bezug auf die Vergangenheit stellen? Während des ganzen 20. Jahrhunderts vollzog sich eine tief greifende Veränderung in den Produktions- und Austauschbeziehungen der Weltgesellschaft. Es war ein weitgehend spontaner und oftmals gegenläufiger Prozess, der hier im Einzelnen nicht darzustellen ist. Neben anderen bedeutenden Einschnitten scheint mir aber die Kündigung des Abkommens von Bretton Woods durch die USA im Jahre 1971 nicht nur in praktischer, sondern auch in theoretischer Hinsicht ein Meilenstein im (übernationalen) gesellschaftlichen Reformprozess gewesen zu sein, auch wenn diese, das internationale Finanzsystem betreffende Maßnahme nach dem damaligen allgemeinen Schreck schnell wieder in Vergessenheit geriet. Mit der endgültigen Abkopplung der Währungen vom Goldstandard hörte das Geld auf, selbst eine Ware (Edelmetall) zu sein, bzw. eine solche bestimmte Ware zu vertreten. Es wurde, obwohl scheinbar immer noch das gleiche Geld, zum unmittelbaren Zeichen für geleistete gesellschaftliche Arbeit (Arbeitsquittung). Die Trennung des Geldes vom bestimmten realen Sachwert ermöglichte und begünstigte die schrankenlose Aufblähung des Finanzsystems unabhängig von den in der Realwirtschaft gebundenen Werten. Als gesellschaftliche Arbeitsquittung ist das Geld (und seine Bewirtschaftung) dem Wesen nach nun nicht mehr Sache von Privaten, sondern öffentliche Angelegenheit. Der Staat mit seiner Notenbank als Herausgeber und „Hüter“ des Geldes hat mit seinem ganzen Gesetzesapparat dafür zu sorgen, dass das Geld seine ökonomischen Funktionen erfüllt. Das betrifft vor allem die Gewähr, dass der gesellschaftliche Reproduktionsprozess als Einheit von Produktion und Konsumtion funktioniert und dass mit dieser Quittung für geleistete Arbeit auch Ergebnisse von Arbeit aus dem gesellschaftlichen Fonds (auf dem Markt) erworben werden (können). Was diesbezüglich gerade in der ganzen Welt in Form staatlicher Bemühungen um finanzielle und sachlich-strukturelle Stabilität in der Wirtschaft vor sich geht, war in seinen Dimensionen noch vor wenigen Monaten undenkbar.

Als gesellschaftliches Arbeitszertifikat entsteht das Geld seinem Wesen nach (so wie auch das Edelmetall) allein aus bzw. mit der Verausgabung gesellschaftlicher Arbeit, die es dokumentiert, damit sein Besitzer aus dem gesellschaftlichen Fonds (vom Markt) Produkte und Leistungen beziehen kann, deren Preise gleich viel Arbeit repräsentieren. Wer nicht kauft und sein Geld hortet, blockiert den realwirtschaftlichen Kreislauf von Produktion und Konsumtion. Durch Schenken tritt er seine Ansprüche auf Produkte und Leistungen an andere ab. Durch Verleihen von Geld erhält er die Möglichkeit, seinen Verbrauch von Produkten und Leistungen in die Zukunft zu verlagern, indem sein Schuldner den für den Verleiher produzierten Anteil am gesellschaftlichen Produkt in der Gegenwart konsumiert. (Als Naturalie würde dem Sparenden sein Anteil verfaulen, verrosten oder sonstwie verkommen.) Kreditnehmer und Kreditgeber tauschen also nur den Zeitpunkt der Konsumtion und erweisen sich so gegenseitig einen Dienst, eine Gefälligkeit, was nicht mit Arbeitsaufwand verbunden ist und woraus daher keine Ansprüche entstehen.

Nachhaltiges Wirtschaften der Gesellschaft in jeder Hinsicht erfordert ein grundlegendes ökonomisches Umdenken. Das bedeutet nicht, ein ideales, realitätsfernes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zu entwerfen. Es kommt darauf an, das Wesen der heute bereits gegebenen ökonomischen Bedingungen und Beziehungen zu erfassen, das sich hinter den Erscheinungen an der Oberfläche der Gesellschaft verbirgt. Es betrifft die hochgradige Vergesellschaftung (gesellschaftliche Existenzweise) des Menschen und seiner Auseinandersetzung mit der Natur, die er im Produktions- und Arbeitsprozess umgestaltet, um sie sich aneignen und konsumieren zu können. Dieser Gesamtprozess hat alles Private bereits verloren. Er kann und muss, um nicht zu einem ökologischen, ökonomischen und finanziellen, geschweige denn politischen Desaster zu führen, gesellschaftlich (insbesondere auch international) kontrolliert und gesteuert werden in einem zweckmäßigen Verhältnis von zentralen, dezentralen und persönlichen Kompetenzen und Verantwortlichkeiten jedes Einzelnen. Die wichtigste Aufgabe besteht zurzeit wohl darin, den ganzen geistig-politischen und insbesondere juristischen Überbau der Gesellschaft ihrer bereits veränderten ökonomischen Basis anzupassen, um die Wirtschaft als Aneignungs- und Umgestaltungsprozess der Natur von dem sinnlosen Selbstzweck wachsenden Verbrauchs zu befreien und den sachlichen Bedürfnissen und Zwecken der Gesellschaft zu unterwerfen. Ein bedeutsamer Schritt zu diesem Ziel ist es, sich von dem Irrtum zu befreien, Geld und sonstige Finanzwerte seien Reichtum. Sie begründen lediglich Ansprüche auf Sachreichtum, der durch Arbeit entsprechend dem Bedarf zu produzieren ist. Finanzen sind grenzenlos. Werden sie zur Zielgröße gesellschaftlichen Handelns gemacht (was unter den noch gegebenen Rechtsverhältnissen der Fall ist), so sind Raubbau an der Natur und ein ökologisches Desaster vorprogrammiert. Darum ist das gesamte Finanzsystem der Gesellschaft einer gesellschaftlichen (z.B. staatlichen) Kontrolle und Steuerung zu unterwerfen, um mittels seiner eine harmonische realwirtschaftliche Entwicklung herbeizuführen. Das betrifft nicht zuletzt eine Einkommenspolitik, die es möglicht macht, dass jedes arbeitsfähige Mitglied der Gesellschaft seinen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit erwerben kann und das gesellschaftliche Produkt ohne Verschuldung eines Teils der Gesellschaft zu konsumieren ist.

Produktion als öffentliche Angelegenheit

Alles Produzieren und Wirtschaften für den „Markt“ hat aufgehört, Privatsache zu sein. Denn wer Geld (auf Grund einer gegebenen Arbeitsleistung) besitzt, hat somit staatlich sanktionierten Anspruch auf Produkte und Leistungen der Gesellschaft zum entsprechenden Betrag. Auf der Rechtsgrundlage des Abkommens von Bretton Woods hatte er mit je 35 US-Dollar Anspruch auf 1 Feinunze Gold, das beim Federal Reserve System (Fed), der Zentralbank der Vereinigten Staaten, lagerte. Diesen Anspruch hatte der Staat mit der Geldpolitik seiner Notenbank zu garantieren. (Die USA scheiterten an dieser Aufgabe und mussten darum das Abkommen von Bretton Woods aufkündigen.) Darin erschöpfte sich seine aus den Bedingungen des Warenaustauschs resultierende ökonomische Funktion. Nun aber, in der neuen ökonomischen Konstellation, hat der Staat mit seiner Notenbank als Herausgeber des Geldes dafür zu sorgen, dass mit dieser Quittung für geleistete gesellschaftliche Arbeit im Gegenzug auch wirklich sachliche Ergebnisse gesellschaftlicher Arbeit aus dem allgemeinen Fonds (auf dem Markt) erworben werden können. (Die jüngsten Rettungsmaßnahmen des Staates in den von der aktuellen Krise betroffenen Ländern sind nichts weiter als die versuchte Wahrnehmung dieser staatlichen Verantwortung.) Dieser Veränderung in der ökonomischen Basis der Gesellschaft muss durch einen entsprechenden Wandel ihres geistigen, politischen und juristischen Überbaus Rechnung getragen werden. Dabei gilt es vor allem, die ökonomischen Veränderungen ausdrücklich anzuerkennen und in unserem Rechtssystem deutlich sichtbar zu würdigen, die sich im inneren Wesen der gesellschaftlichen Oberflächenerscheinungen vollzogen haben. Hier soll nur auf drei das Unternehmertum betreffende Aspekte hingewiesen werden:

a) Als gesellschaftliche Arbeitsquittung drückt das Geld einen Anspruch seines Besitzers auf einen entsprechenden Teil des Produkts der Gesellschaft, also ihres Produktionsfonds, und damit Teilhabe am Produktivvermögen der Gesellschaft aus. Und der gesamte gesellschaftliche Produktionsfonds ist daher – ökonomisch gesehen - nicht mehr Privateigentum irgendwelcher Unternehmer, sondern Produktivvermögen der Gesellschaft als ganze. Diesen ökonomischen Sachverhalt gilt es in unserem Rechtssystem klar zu fixieren. Dem kommt der Umstand entgegen, dass heute der so genannte „Eigenkapitalanteil“ sogar auch in den mittelständischen Unternehmen ohnehin nur noch zirka ein Viertel des Betriebsvermögens ausmacht, während die überwiegende Masse geliehenes „Fremdkapital“ darstellt.

b) Der Unternehmer selbst – und erst recht der Manager einer „Kapitalgesellschaft“ – ist so gesehen zu einem „Betriebsleiter im Auftrag der Gesellschaft“ geworden, ausgestattet mit ganz bestimmten Kompetenzen und Vollmachten, die es rechtlich noch klarer zu umreißen gilt, ohne in kleinliche Bevormundung zu verfallen. (Es geht hier nur darum, das Wesen der Erscheinungen in der praktischen Wirklichkeit aufzudecken.) Und auch in dieser Hinsicht ist in der gängigen Praxis bereits viel Vorarbeit geleistet worden. Der Unternehmer kann schon lange nicht mehr nach persönlichem Gutdünken handeln, sondern ist an zahllose Rechtsvorschriften und Normen gebunden, bis hin zur Gestaltung seiner betriebswirtschaftlichen Rechnungsführung, Arbeits- und Lohngestaltung usw. Klare rechtliche Regelungen und Grenzen seiner Kompetenzen und Verantwortung könnten ihm künftig durchaus größere „unternehmerische Freiheit“ und Sicherheit gewähren als er heute genießt.

c) Die viel beschworene Sozialpflichtigkeit des Unternehmers leitet sich aus seiner verantwortlichen Stellung im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess als Existenzgrundlage der menschlichen Gemeinschaft ab und ist u. a. im Artikel 14 des Grundgesetzes der BRD rechtlich begründet. Sie wird heute in erster Linie durch den Druck der ökonomischen Zwänge beeinträchtigt. Diese sind von der Gesellschaft selbst erzeugt. Hier ist vor allem auf den Zwang zu bedingungsloser Gewinnmaximierung und Verzinsung geliehenen Geldes hinzuweisen. Beiden Faktoren liegt letztlich der allgemeine Irrtum dieser Gesellschaft zu Grunde, der Geld und Finanzwerte aller Art für Reichtum hält, obwohl diese lediglich Ansprüche ausdrücken bzw. eine ideelle Darstellung verausgabter gesellschaftlicher Arbeit sind. Weil der Zins (als Kost) keinen wirklichen gesellschaftlichen Aufwand (von Arbeit) darstellt, bläht er in der Betriebswirtschaft die Kosten der Produktion künstlich auf und begründet (neben andern Ursachen) gesellschaftlich eine inflationistische Wertdarstellung (Entwertung) des Geldes, so dass die einzelne Geldeinheit von Jahr zu Jahr weniger tatsächlich verausgabte gesellschaftliche Arbeit repräsentiert. Für den Unternehmer erhöht der Zins das (unternehmerische) Produktionsrisiko, weil aus den Einnahmen nicht nur der Kredit, sondern zusätzlich auch die Zinslast beglichen werden muss. (In den USA wurde deshalb - um die Konjunktur durch Senkung des unternehmerischen Risikos zu forcieren - in der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise begonnen, zinslose staatliche Kredite auszureichen.) Als Einnahme des Kreditgebers trägt der Zins dazu bei, die Gewinnerwirtschaftung als Ziel der gesellschaftlichen Produktion in den Vordergrund des allgemeinen Interesses zu rücken, den Finanzwert anstelle des sachlichen Realreichtums. Unter diesen Zwängen kann der Unternehmer seiner Sozialpflichtigkeit nicht gerecht werden.

Wachstum als gesellschaftlicher Wahn

Auch die grenzenlose Ausdehnung von Produktion und Verbrauch „um jeden Preis“ und ungeachtet realer sachlicher Bedürfnisse sowie sozialer und ökologischer Belastungen sind eine Folge der primären Orientierung des heutigen Wirtschaftssystems auf die Vermehrung von Geld (Verwertung von Wert). Wirtschaftswachstum ist infolge einer falschen Wahrnehmung der Wirklichkeit, die Geld für Reichtum hält, zu einer desaströsen ökonomischen Zielgröße geworden. Grundsätzlich sind zu unterscheiden:
  1. Wachstum im sachlichen Naturalausdruck der Produktenwelt. Dieses ist insofern gar nicht messbar, als sich die konkrete Warenstruktur des gesellschaftlichen Produkts ständig und mit zunehmender Geschwindigkeit ändert, so dass immer Äpfel mit Birnen verglichen würden. Was messbar wäre, ist der Verbrauch ganz bestimmter Ressourcen.
  2. Wachstum im Wertausdruck. Da das Wertprodukt der Gesellschaft bestimmt wird durch die verausgabte Arbeitsmenge, kann es nur entsprechend dieser wachsen, d. h. entsprechend dem verausgabten Arbeitsvolumen der Gesellschaft. Und dieses Wachstum kann naturgemäß nur relativ gering sein. Was uns also von Jahr zu Jahr als Wachstum im Wert- bzw. Preisausdruck vorgegaukelt wird, ist weitgehend inflationistische Zahlenspielerei, indem die einzelne Wert- bzw. Geldeinheit (z.B. Euro) immer weniger gesellschaftliche Arbeit repräsentiert. Und das ist kein Wunder bei tariflichen Lohn- und Gehaltssteigerungen von etwa vier bis fünf Prozent. Das Problem der Wachstumsmanie ist, dass mit dem Wirtschaftswachstum als Selbstzweck auch eine "sinnlose Verschwendung natürlicher Ressourcen um jeden Preis" initiiert wird, nach dem Motto: produzieren - bezahlen - wegwerfen! Die jetzige „Konjunkturankurbelung“ (anstatt zum Beispiel die gesetzliche Arbeitszeit einzuschränken) zeigt, wie wenig Sachverstand bei und mit unseren „Eliten“ herrscht. Die „Krise“ ist primär kein gesellschaftliches Unglück, sondern ein ökonomisches Signal. Sie zeigt gesellschaftlichen Handlungsbedarf an, um Gleichgewichte wieder herzustellen und wirkliche Not zu vermeiden.

Die Leichtigkeit, mit der nun rund um den Globus Gelder in nie gekannter Menge hingeblättert werden (allein von Obama wird inzwischen erwartet, dass er eine Billion Dollar locker macht) weist darauf hin, wie sehr „man“ sich der Bedeutung der Realwirtschaft und der Schein-Welt der Finanzen intuitiv bewusst ist. Doch es ist eben nur ein Spüren des Notwendigen und Möglichen. Erforderlich ist, zu verstehen, was da in der vom Gold-Dollar befreiten Wirtschaft vor sich geht und dass nicht noch mehr Geld erzeugt, sondern das vorhandene mit der Macht des Staates umverteilt werden muss, damit der produzierte Sachreichtum der Gesellschaft konsumiert werden kann, Produktion und Verbrauch also in ein (ökologisch vernünftiges) Gleichgewicht kommen.

(Siehe auch: H. Hummel, Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum, Projekte-Verlag Halle 2005)

[1] Michael Brie, Christoph Spehr, Was ist Sozialismus?, in: kontrovers, Beiträge zur politischen Bildung, herausgegeben von der Rosa Luxemburg Stiftung und WISSENTransfer, 01/2008

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