Mittwoch, 22. Oktober 2008

Hallo, Fräulein Luxemburg!

(Erschienen in: Das Blättchen, Heft 21, 13. Oktober 2008)


Eduard Bernsteins Auseinandersetzung mit Rosa Luxemburg bildet eine geistreiche Lektüre, die heute so aktuell und spannend zu lesen ist wie vor gut hundert Jahren, zumal die Sozialisten der Gegenwart wohl kaum unter mehr leiden als unter Theoriedefiziten. Letztere sind offenbar eine notwendige Folge der gewaltigen gesellschaftlichen Umbrüche der letzten zwei Jahrzehnte, die alles sozialistische Gedankengut in Frage stellten und die theoretisch wohl kaum ohne ganz neue Denkansätze zu bewältigen sind. 
Sie wundern sich, lieber Leser? Ja, das ist gewollt, und gemeint ist tatsächlich die Rosa. Diese Anrede - ich fand sie bei einem Zeitgenossen der R. L. - verlangt bzw. verspricht doch heute geradezu Beachtung, offenbar auch die Ihre. Eduard Bernstein gebrauchte sie in seinem 1902 erschienenen Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ (Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Stuttgart 1902). Darin führte er bei Behandlung der zyklischen Reproduktionskrisen des Kapitals aus, die von ihm in einem Aufsatz über die sozialistische Zusammenbruchstheorie (gemeint war der Zusammenbruch des Kapitalismus) aufgeworfene Frage, ob nicht durch die damals veränderten Reproduktionsbedingungen des Kapitals die Möglichkeit entstanden sei, „dass wenigstens für eine längere Zeit allgemeine Geschäftskrisen nach Art der früheren überhaupt als unwahrscheinlich zu betrachten sind“, habe unter anderen „Fräulein Dr. Rosa Luxemburg veranlasst, mir in einer, in der ‚Leipziger Volkszeitung’ vom September 1898 veröffentlichten Artikelserie einen Kursus über Kreditwesen und Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus zu lesen. Da diese Artikel … wahre Muster falscher, aber mit großem Talent gehandhabter Dialektik sind, scheint es mir am Platze, hier kurz auf sie einzugehen.“

Ich erspare Ihnen weitere Details, wollte Sie nur auf diese geistreiche Lektüre aufmerksam machen, die heute so aktuell und spannend zu lesen ist wie vor gut hundert Jahren, zumal die Sozialisten der Gegenwart wohl kaum unter mehr leiden als unter Theoriedefiziten. Letztere sind offenbar eine notwendige Folge der gewaltigen gesellschaftlichen Umbrüche der letzten zwei Jahrzehnte, die alles sozialistische Gedankengut in Frage stellten und die theoretisch wohl kaum ohne ganz neue Denkansätze zu bewältigen sind. Darum sollte uns die Beschäftigung mit der Auseinandersetzung zwischen Rosa Luxemburg und Eduard Bernstein nicht verleiten, bei der einen oder dem anderen die Wahrheiten von heute zu suchen. Dennoch mag vielleicht gerade solch ein Rückblick helfen, die Probleme und die Aufgaben der Gegenwart – auch in Hinblick auf unsere historischen Erfahrungen – nicht zu einseitig anzugehen.

Und schon höre ich manch einen aufschreien: „Bernstein, dieser Erzrevisionist!“ Ja, er galt nicht nur den späteren Kommunisten als solcher, sondern lange Zeit der großen sozialdemokratischen Mehrheit und zum Beispiel auch Karl Kautsky. Aus der Perspektive von heute und angesichts der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die ja eine Geschichte nicht nur des so genannten Realsozialismus, sondern dessen Wechselwirkung mit der übrigen Welt – also vor allem mit der „bürgerlichen“ Gesellschaft - war , scheinen mir manche von Bernsteins Überlegungen durchaus weitsichtig gewesen zu sein. Wenigstens war er ein Mann, der keine Luftschlösser baute und nicht mit revolutionären, verelendeten und klassenbewussten Arbeitermassen kalkulierte, wie es sie damals schon kaum noch gab, sondern der Tatsachen und Veränderungen in der Sozialstruktur der Gesellschaft anerkannte und zu deuten sich bemühte – ein Mann eben, der Marx weiterdachte. So schrieb er in einer Fußnote: Besagte Artikel der R. L. „tragen die Überschrift: ‚Sozialreform oder Revolution?’ Fräulein Luxemburg stellt die Frage indes nicht so, wie es bisher in der Sozialdemokratie üblich war, nämlich als Alternative des Weges zur Verwirklichung des Sozialismus, sondern als gegensätzlich in der Art, dass nur das Eine – nach ihrer Auffassung die Revolution – zum Ziele führen könne. Die Wand zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaft wird nach ihr ‚durch die Entwicklung der Sozialreformen wie der Demokratie nicht durchlöchert, sondern höher gemacht.’ Darnach müsste die Sozialdemokratie, wenn sie sich nicht selbst die Arbeit erschweren will, Sozialreformen und die Erweiterung der demokratischen Einrichtungen nach Möglichkeit zu vereiteln streben. Die Abhandlung, die in diesen Schluss ausläuft, wird angemessen durch die Bemerkung eingeleitet, die von mir … aufgestellten Sätze über die Entwicklung zum Sozialismus seien ‚auf den Kopf gestellte Reflexe der Außenwelt.’ ‚Eine Theorie von der Einführung des Sozialismus durch Sozialreformen – in der Ära Stumm-Posadowsky, von der Kontrolle der Gewerkschaften über den Produktionsprozess – nach der Niederlage der englischen Maschinenbauer, von der sozialdemokratischen Parlamentsmehrheit – nach der sächsischen Verfassungsrevision und den Attentaten auf das allgemeine Reichstagswahlrecht!’, ruft sie aus. Sie scheint der Ansicht zu sein, dass man historische Theorien nicht in Gemäßheit der Summe der beobachten Erscheinungen der ganzen Epoche und des ganzen Umkreises der vorgeschrittenen Länder aufzustellen hat, sondern auf Grund von zeitweiligen reaktionären Zuckungen in irgendeinem einzelnen Lande; nicht auf Grund der Bilanz der gesamten bisherigen Leistungen der Arbeiterbewegung, sondern in Hinblick auf den Ausgang eines vereinzelten Kampfes. Der Mann, der das Impfen für nutzlos erklärte, weil es ihn nicht davor schützte, vom Baume zu fallen, hat nicht anders argumentiert.“

Kommen Ihnen solche Debatten heute, über hundert Jahre später, nicht bekannt vor? Also darum: Weiter denken und weiterdenken! Erkenntnis- und Klärungsbedarf entsteht nicht nur aus Programmdiskussionen der Parteien, sondern primär und viel mehr noch aus den Fragen, welche die Turbulenzen in allen Sphären der Gesellschaft von heute aufwerfen.

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