Mittwoch, 22. Oktober 2008

Thesen zur Krise des internationalen Finanzsystems

(Erschienen in: „Das Blättchen“, Nr. 22 / 2008)
  1. Das Charakteristische der Ökonomik am Beginn des 21. Jahrhunderts ist neben der Globalisierung der Produktions- und Finanzbeziehungen die Abkopplung der Finanz- von der Realwirtschaft. Dies war eine Folge der Abkopplung der Währungen vom Edelmetall durch die Kündigung des Abkommens von Bretton Woods seitens der USA im Jahre 1971.
  2. Damit verlor das Geld als Maß der Werte seine feste Basis. Wer Geld besitzt, ist nicht mehr Besitzer einer in einer konkreten Menge Edelmetall ausgedrückten Wertmasse; bzw. er hat mit dem Papiergeld nicht mehr Anspruch gegenüber der Notenbank auf diese bestimmte Menge Edelmetall.
  3. Das Geld in seiner heutigen Verfassung drückt nur noch einen allgemeinen Anspruch auf Waren aus, auf Ergebnisse gesellschaftlicher Arbeit.
  4. Der Wert von Waren wird bestimmt durch die Menge der zu ihrer Produktion gesellschaftlich notwendigen Arbeit.
  5. Das Geld ist zu einem direkten, allgemeinen Arbeitszertifikat geworden. Es vertritt nicht mehr ein bestimmtes Produkt von Arbeit, sondern drückt direkt allgemeine gesellschaftliche Arbeit aus, so dass die Wertmasse, welche heute von einer Geldeinheit repräsentiert wird, als Menge allgemeiner gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit erscheint.
  6. Das Vertrauen der Menschen in die Wertstabilität des Geldes gründete sich bis 1971 auf die Golddeckung des US-Dollars und der auf ihn bezogenen Währungen. Seit der Kündigung des Abkommens von Bretton Woods gibt es diese Vertrauensbasis nicht mehr. Das Vertrauen gründet sich seitdem auf den Willen und die Fähigkeit des Staates als Herausgebers dieses Geldes, durch seine Wirtschafts- und Finanzpolitik die Stabilität der Kaufkraft des Geldes zu gewährleisten.
  7. Geld und Finanzen sind nicht mehr Sache von Privaten, sondern eine öffentliche Angelegenheit, weil der Staat als Herausgeber und Garant sowie als gesamtgesellschaftlicher Interessenvertreter in jegliche Geld- und Finanzbeziehungen involviert ist. Dies ist die objektive Grundlage der staatlichen Rettungsaktionen.
  8. Das Geld als allgemeines Arbeitszertifikat verwandelt die gesamte sachliche Warenwelt, die es vertritt, in öffentliches Gut. In dem Maße, wie das Geld durch Verlust seiner Vertretung einer bestimmten Geldware (Gold) auch seinen privaten Charakter verlor, nahm es auch der ganzen Warenwelt ihren privaten Charakter.
  9. Das Geld entsteht als allgemeines gesellschaftliches Arbeitszertifikat durch die Verausgabung gesellschaftlicher Arbeit – die es bestätigt. Es bestätigt demjenigen, der für die Gesellschaft arbeitet, diese Arbeitsleistung und ist selbst ein Schuldschein desjenigen, der es herausgibt, gegenüber demjenigen, der gearbeitet hat. Es gewährt Anspruch auf und ist Anteilschein am allgemeinen gesellschaftlichen Reichtum.
  10. Da das Geld selbst kein Reichtum ist, sondern solchen nur ideell widerspiegelt und repräsentiert, ist es unsinnig, es als Arbeitsquittung anders als aus Arbeit entstehen zu lassen. Zinsen für geborgtes Geld zu erheben, ist darüber hinaus auch deshalb ökonomisch desaströs, weil das Geld in seiner heutigen Konstitution den Austausch der Tätigkeiten und Produkte zu vermitteln und so die Wirtschaftskreisläufe von Produktion und Konsumtion im Fluss zu halten hat. Wer seinen im Geld ausgedrückten Anspruch auf Erzeugnisse des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses nicht wahrnimmt, also nicht entsprechend kauft und konsumiert, lässt die Produktion stocken. Wenn er sein überflüssiges Geld jemandem borgt, der mangels Geld seinen Bedarf nicht decken kann, von diesem dann aber mehr zurück fordert als gegeben wurde, wird die ursprüngliche Disproportion in der Verteilung von Geld und Sachwerten nur weiter verschärft. Darin liegt letztlich die gegenwärtige Krise des Finanzsystems begründet. Diese hat sich über viele Jahre latent aufgebaut und ist nun in den USA zum Ausbruch gekommen, als Eigenheimbauer ihre Immobilienkredite bzw. die Zinsen nicht mehr bezahlen konnten.
  11. Geld ist ein ganz allgemeines Wertpapier. Es ist heute seinem Wesen nach bereits Anteilschein am allgemeinen Sachvermögen der Gesellschaft. Ganz unsinnig ist es daher, mit diesem Geld Aktien und andere Wertpapiere zu kaufen (sozusagen Wertpapiere „zweiten und dritten Grades“), um es sich auf diese Weise spekulativ und ohne Arbeitsleistung selbst vermehren zu lassen. Die gegenwärtige Finanzkrise ist die Folge einer haarsträubenden spekulativen Aufblähung des internationalen Finanzsystems. Für diesen Prozess wurden mit der Aufhebung der Pflicht, das Geld auf Wunsch gegen eine feste Goldmenge einzutauschen, 1971 die Bremsen nicht nur gelockert, sondern völlig beseitigt.
  12. Die Frage nach den Schuldigen an der heutigen Krise ist falsch gestellt. Die Krise betrifft nicht einzelne Banken und Unternehmen, sondern ist eine Krise des ganzen Finanzsystems. Einige Manager mögen bestehenden Vorschriften zuwider gehandelt haben. Doch die ganze heutige Gesellschaft ist von einer allgemeinen Gewinn- und Spekulationssucht erfasst, die zum Charakteristikum des Systems wurde. Die Manager führten nur aus, was der Druck der Finanzmärkte forderte.
  13. Nicht nach den Schuldigen ist heute in erster Linie zu fragen, sondern nach den tieferen Ursachen der krisenhaften Entwicklung. Diese wurzelt in einem grundlegenden Missverständnis der Gesellschaft von den veränderten ökonomischen Verhältnissen. Ihr Bewusstsein ist noch immer geprägt von den Bedingungen des 19. Jahrhunderts mit seinen Vorstellungen vom Privateigentum ganz allgemein und vom Geld als privatem Reichtum im Besonderen. Sie hat die Veränderungen während des ganzen 20. Jahrhunderts nicht begriffen, die dem Reichtum allgemein und dem Geld im Besonderen den privaten Charakter genommen haben. Sie handelt daher nach Gesetzen, die mehr dem 19. Jahrhundert als den Bedingungen der Gegenwart entsprechen.
  14. Das einseitige ökonomische Denken in Begriffen der Finanzwelt, ohne die sachlich-stofflichen Vorgänge in der Wirtschaft genügend zu berücksichtigen, brachte nicht nur eine allgemeine Illusion vom Reichtum der Gesellschaft hervor, sondern damit gleichzeitig auch die falsche Vorstellung vom Wirtschaftswachstum als einer dauernden und notwendigen Erscheinung, von der der Reichtum und das Wohl der Gesellschaft abhinge. Vermehrung von Finanzzertifikaten einschließlich Geld wird daher falscherweise als Vermehrung von Reichtum angesehen und angestrebt.
  15. Wer die heutige Krise nicht nur zeitweilig überwinden, sondern ihre tiefen Ursachen beheben will, muss das Finanzsystem dieser Gesellschaft der öffentlichen Kontrolle unterstellen und als ein öffentliches neu konstruieren, so, dass es nicht mehr eine Maschinerie zur Geldvermehrung darstellt, sondern ein Instrument zur Lenkung und Kontrolle ökonomischer Abläufe. Er muss das Geld als das erkennen und gebrauchen, was es seinem Wesen nach bereits ist, als Arbeitszertifikat, das Anspruch auf realen Reichtum begründet. Er muss daraus die Verantwortung des Staates für den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess in seinen sachlichen und finanziellen Strukturen als Aneignungsprozess der Natur durch die Gesellschaft ableiten. Und er muss die notwendigen Formen und Methoden staatlicher Einflussnahme vor allem mittels des Finanzsystems entwickeln, um ein optimales Zusammenspiel von zentraler Regulierung und dezentraler Eigenverantwortung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu gewährleisten.

(Sie auch: Heerke Hummel, Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum)

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