Montag, 22. Oktober 2007

Satire oder Programm?

 (Veröffentlicht in: „Das Blättchen“, Nr. 6, 19. März 2007)
Die Satire „Michel schlägt zurück“ von Jörg Hellmann könnte Programmgrundlage einer linken Partei sein, denn bei ihr stellte sich plötzlich "heraus, dass es für sämtliche Probleme eine Lösung gab, wenn man denn nur wollte und das Wohl der Gesamtheit im Auge hatte.“

Als ich das Buch ausgelesen hatte, dachte ich zunächst daran, die Partei zu informieren – nein, nicht meinen Sekretär, auch nicht den Generalsekretär und schon gar nicht den Genossen Mielke mit seinem Apparat. Überhaupt geschah das alles erst vor wenigen Tagen. Und im Auge hatte ich die Führung der Linken. Unter dem Titel „Michel schlägt zurück“ (Hildesheimer Literaturverlag, ISBN 3-00-011725-3) macht uns Jörg Hellmann mit der Ahnenfolge der Familien (nomen est omen) Deutscher und Wendehals in deutschen Landen seit 1789 (!) bekannt und beschreibt aus der Perspektive etwa des Jahres 2020 und als Historie genannter Sippen einen Vorgang, den wir zur Zeit tatsächlich zu erleben scheinen, nämlich den Niedergang Deutschlands am Beginn dieses neuen, 21. Jahrhunderts bis zur „Großen Wende“ von 2010.
„Die Wende begann sich bereits im Vorfeld der Bundestagswahlen des Jahres 2010 abzuzeichnen“, lesen wir da. „Der Bund der Steuerzahler trat diesmal zur Wahl an. In den früheren Jahren des Jahrzehnts war der Bund mit einer groß angelegten Aktion: ‚Stoppt den Parteienfilz!’ kläglich gescheitert. …
Dann aber, 2010, traten einige mutige Männer an die Spitze des Bundes, und diesmal machten sie Nägel mit Köpfen. Sie traten zur Bundestagswahl an mit der zentralen Forderung: Stoppt die Parteien!
Die etablierten politischen Parteien reagierten zunächst mit Hohn und Spott und hielten es nicht mal für nötig, wegen der Verfassungswidrigkeit der Forderung in Karlsruhe vorstellig zu werden. Die Ergebnisse der Bundestagswahl waren freilich eine kleine Sensation. Die Wahlbeteiligung war auf erstaunliche 93 % hochgeschnellt und hatte damit die der voraufgegangenen Wahl des Jahres 2006 um das Doppelte übertroffen. Der Bund der Steuerzahler siegte mit 81,2 % der abgegebenen Stimmen, auf die PWT (Partei der wütenden Telekom-Aktionäre) entfielen 10,3 %. …
In der ersten konstituierenden Sitzung des neuen Bundestages wurde festgelegt, dass es keine festen Sitze mehr gab, um die Überholtheit des Links-Rechts-Schemas zu unterstreichen. Dadurch trauten sich Abgeordnete plötzlich wieder, Beifall zu spenden, wenn einer aus einer anderen Partei was Sinnvolles sagte. …
In der Folgezeit konnten die notwendigen Grundgesetzänderungen problemlos mit 2/3 Mehrheit beschlossen werden. Der Bund der Steuerzahler stand zu seinem Versprechen und setzte eine Neuorganisation des gesamten öffentlichen Lebens in Gang. Ein Gelehrtenkonvent wurde einberufen und in nur drei Monaten die neue ‚Verfassung Deutschlands’ entworfen. Die Grundrechte blieben selbstverständlich erhalten. …
Wichtigste Aufgabe war freilich die Wiederbelebung der im Winter 2010 kläglich verendeten deutschen Wirtschaft. … Man schrieb wieder die Stunde Null. Der größte Vorteil war, dass im Kopf der Deutschen das verschüttete Tugendsystem, auf dem das Funktionieren einer Gesellschaft ruht, noch intakt war: Ehrlichkeit, Fleiß, Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit, Höflichkeit, Ordnungsliebe, Sauberkeit und Gesetzestreue. Daran hatte auch die jahrelange sozialdemokratische Diskreditierung dieser Werte als überflüssige Sekundärtugenden nichts ändern können, und so konnte auf der Grundlage dieser Bürgertugenden die Neugestaltung des öffentlichen Lebens begonnen werden. …
Die Zahl der Drogensüchtigen und Alkoholkranken nahm rapide ab. Diejenigen, die sich bei ihrem Drogenkonsum jede Bevormundung seitens des Staates verbeten hatten und das ungehinderte Schnupfen und Spritzen als selbstverständlichen Teil ihrer Selbstverwirklichung betrachtet hatten, waren zunächst recht verärgert gewesen, dass der Staat nicht mehr die Folgekosten ihres Ego-Trips übernehmen wollte. Aber die absolut leeren Kassen hatten die öffentliche Hand geschlossen. …
Bald schon zeigten sich erste Silberstreifen am Horizont. Wie in den fünfziger Jahren ging es peu a peu aufwärts. Durch die allmählich verbesserte Haushaltslage konnten neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Jedes Jahr wurden Tausende von neuen Lehrern eingestellt, und der Unterrichtsausfall gehörte schon bald der Vergangenheit an. …
In Windeseile wurden Spendenskandale und Korruptionssumpf beseitigt. …
… Auch der vielfältigen Formen von Wirtschaftskriminalität wurde man schnell Herr. Und durch ein Rechtshilfeabkommen mit Spanien und Italien wurde eine konsequente Enteignung von Villen auf Mallorca und in der Toskana möglich.
Die dünne Schicht der neuen Politiker der Kompetenzdemokratie verdiente so viel, dass sie sich durch Bestechungsversuche nicht anfechten ließen. Dementsprechend konnten sie ihren Forderungen nach preußischer Zuverlässigkeit und Effizienz in der staatlichen Verwaltung Nachdruck verleihen. Innerhalb kurzer Zeit nahm das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit und Seriosität ungeahnte Ausmaße an. Im gesellschaftlichen Ansehen lagen die neuen Politiker weit vor den Chefärzten und nur knapp hinter den Spielern von Bayern München. …
Das Volk der Dichter und Denker fand bald zu seinen alten Stärken zurück: es wurde zur Bildungs- und Ausbildungsnation. …
Die üppige Altersversorgung der gescheiterten Politiker-Kaste der Vorwendezeit wurde gekürzt. …
Die bei den Altersbezügen der gescheiterten Politiker-Kaste eingesparten Milliarden wurden der Studienstiftung des deutschen Volkes zugeführt. …
Plötzlich stellte sich heraus, dass es für sämtliche Probleme eine Lösung gab, wenn man denn nur wollte und das Wohl der Gesamtheit im Auge hatte.“
J. Hellmann, selbst Lehrer, wollte nach eigener Aussage mit seinem Buch auf die Bemerkung des Politikers Gerhard Schröder kontern, welche dieser als niedersächsischer Ministerpräsident von sich gegeben hatte: „Ihr wisst doch, was das für faule Säcke sind…!“ Der sich so angegriffen Fühlende drehte nicht nur den Spieß um, sondern legte mit gesundem Menschenverstand den Finger auf offene Wunden (nicht nur) deutscher Politik. Dass er offensichtlich die Linke.PDS noch mehr verachtet als SPD und andere Parteien (bei seinen „Wahlen 2010“ lässt er auch die SPD mit 3,6 und die CDU/CSU mit 4,8 Prozent der Stimmen an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern), macht sein Buch nicht weniger lesenswert und sollte kein Grund sein, seine Lehre zu missachten, dass nicht schwülstige Programme mit Präambeln voller Allgemeinplätze das Wahl- und Arbeitsvolk motivieren, sondern dass es dazu konkreter, nachvollziehbarer Überlegungen und Aussagen bedarf, die sich von denen anderer wesentlich unterscheiden und dann auch eingehalten werden. Vor zunehmender Politikverdrossenheit ist auch die Linke nicht gefeit, wenn sie es nicht schafft, sich im Politikstil und im Politikinhalt deutlich von anderen Parteien abzuheben. Das betrifft nicht zuletzt die Art und Weise, wie man sich mit Kritiken aus der eigenen Basis auseinandersetzt und solche zum Anlass nimmt, sachliche Klarheit zu schaffen, anstatt die Kritiker anzugreifen. Und es berührt schließlich auch eindeutige Aussagen darüber, wofür man in Koalitionen nicht (mehr) zur Verfügung steht. Eine solche Klarstellung könnte sich beispielsweise auf die Altersvorsorge beziehen, die von der SPD im Bunde mit den anderen Parteien mehr und mehr zu einer Privatsache jedes Einzelnen gemacht zu werden droht. Vor genau 50 Jahren wurde mit der so genannten Großen Rentenreform der BRD bezweckt, „dass die staatliche Rente nicht mehr nur ein Zuschuss zum Lebensunterhalt im Alter, sondern ein Lohnersatz sein soll, und dass die Rentner während der Rentenlaufzeit an der allgemeinen Einkommensentwicklung teilnehmen“, wie der „Rentenpapst“ Prof. W. Schmähl erst kürzlich wieder wissen ließ. Was damals in der sozialen Auseinandersetzung mit der DDR gewiss zu einem Gutteil auch politisch motiviert war, entsprach nichtsdestoweniger doch dem ökonomischen Erfordernis veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse. Denn infolge eines bisher nicht gekannten Tempos im Wandel – der Begriff Fortschritt scheint mir zu wenig aussageneutral zu sein – von Wissenschaft und Technik erleben wir rasante Veränderungen in allen Lebensbereichen der menschlichen Gesellschaft, nicht zuletzt in der Wirtschaft und in den sozialen Beziehungen. Alles befindet sich in sichtbarer und vom Einzelnen erlebter Veränderung, nichts ist wie es noch vor kurzem war. Und will man die allgemeine Richtung dieser schneller werdenden Bewegung ausdrücken, so wäre das wohl treffend mit dem Begriff Vergesellschaftung möglich. Auch das Individuum ist heute in seiner Existenz vergesellschaftet wie nie zuvor, in allen seinen Lebensäußerungen von der Geburt bis zu seinem Tode mehr und mehr auf die Gesellschaft angewiesen. Es lebt, lernt, arbeitet und konsumiert nicht nur in der Gesellschaft, sondern in immer höherem Grade auch durch die anderen. Und der Einzelne trifft auch seine Vorsorge fürs Alter längst nicht mehr allein, sondern ist, wenn seine Kräfte eines Tages ermatten, auf die anderen angewiesen. Er kann sich für diesen Fall gar nicht sachlich bevorraten, denn kein Gut würde die Zeit überdauern.
Und Geld und Finanzen? Auch sie unterliegen der zunehmenden Instabilität, sind heute nicht das, was sie gestern noch waren oder morgen sein werden. Und das nicht nur wegen inkompetenter Manager und korrupter Politiker, sondern vor allem wegen der sich dauernd ändernden technischen, ökonomischen und sozialen Wirklichkeit. Skrupellose Spekulationsgeschäfte in den Chefetagen von Konzernen und Fondsgesellschaften mit den Ersparnissen von Generationen beschwören allerdings tatsächlich immer wieder dramatische Einzelschicksale von Millionen Menschen herauf, die der Illusion aufgesessen sind, mit privaten Finanzeinlagen den Lebensabend abgesichert zu haben, und quasi über Nacht den Verlust ihrer vermeintlichen Werte erleben müssen.
Welche Summen vernichtet werden können, zeigte erst vor kurzem der Fall des US-amerikanischen Anbieters für Finanzanlagen Amaranth Advisors, der 6,6 Milliarden Dollar, das waren zwei Drittel des Fondswertes, im Spätsommer 2006 bei spekulativen Termingeschäften mit Erdgas verzockte. Wie üblich bei Hedge-Fonds meldete der Anbieter daraufhin Insolvenz an, was für die betroffenen Anleger fatal war. Zu letzteren zählte auch der Pensionsfonds der öffentlich Beschäftigten des US-Bundesstaates New Jersey. Dessen Leitung jedoch will die Beteiligungen an Hedge-Fonds künftig nicht einstellen, sondern im Gegenteil noch ausbauen. Schließlich fehlen der Pensionskasse schon jetzt 30 Milliarden Dollar, und die erhofften hohen Renditen von Hedge-Fonds sollen dies ausgleichen. Es ist ein Roulette im internationalen Spielcasino der Wirtschaft – allerdings nicht mit dem eigenen Privatvermögen der Akteure, sondern mit der ihnen anvertrauten Altersvorsorge gutgläubiger Menschen, mit dem Vermögen der Allgemeinheit.
Zu Grunde liegt all dem der irrationale, an den mittelalterlichen Hexenwahn erinnernde Glaube, Geld und Finanzen könnten sich aus sich selbst heraus wie Mäuse vermehren. Dabei leisteten schon die englischen Ökonomen des 17. und 18. Jahrhunderts Aufklärung über den Ursprung des gesellschaftlichen Reichtums, den sie in der produktiven Arbeit des Menschen sahen. Wer heute – die Erkenntnisse der klassischen bürgerlichen Ökonomie (von Marx ganz zu schweigen!) in den Wind schlagend - auf der Basis finanztheoretischer Wahnvorstellungen die Zukunft von Menschen absichern will, gehört nicht in politische Ämter, sondern wegen Gefährdung des Gemeinwohls vor den Richter.
Wo aber könnten dann Auswege aus der zweifelsohne schwierigen Rentensituation der Gegenwart liegen? Zunächst in der Beibehaltung bzw. Herstellung eines einheitlichen staatlichen (gesamtgesellschaftlichen) Rentenpflichtsystems, gestützt auch auf eine öffentliche Finanzierung, wie immer letztere auch organisiert sein mag. Dazu gehörte, dass der Staat als Organisator der Gesamtgesellschaft und Herausgeber des Geldes das Finanzsystem unter seine Kontrolle brächte. (Tatsächlich gibt es ja bereits eine Unmenge staatlicher Kontrollen und Eingriffe ins Finanzsystem, die jedoch bisher nicht verhinderten, dass dieses System als Selbstvermehrungsmaschinerie fungiert. Vor allem ist dies der fehlenden Bereitschaft geschuldet, das ganze Kredit- und Zinssystem den Erfordernissen des Gemeinwohls zu unterwerfen.) Sodann wäre durch eine Partei, die tatsächlich eine gesellschaftliche Alternative anstrebt, dafür einzutreten, dass Grundprinzipien der Altersvorsorge – neben anderen sozialen Grundrechten – verfassungsrechtlich, möglichst europaweit, gewährleistet werden. Um aber dahin zu kommen, bedarf es wohl noch eines gesellschaftlichen Gesamtkonzeptes jenseits der wenig fruchtbaren, weil ins Unbestimmte zielenden Diskussion um Sozialismus oder Kapitalismus, das den Individuen und der Gesellschaft als ganze Sicherheit und Stabilität unter den heutigen Bedingungen allgemeiner Dynamik gewährleistet.

(Eine ökonomische Analyse der Gesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts legte der Autor mit seinem Buch „Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum“, Projekte-Verlag, Halle 2005, ISBN 3-86634-048-6 vor.)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen