Montag, 22. Oktober 2007

Eine fast unglaubliche Geschichte

Im achtzehnten Jahr nach dem Fall der Mauer scheint bei manchen Amtsträgern der CDU auf der unteren Ebene, wo eine gewisse Volksverbundenheit noch nicht abhanden gekommen ist, die Verbissenheit im Umgang mit der DDR und ihren Funktionären allmählich einer wohltuenden Lockerheit zu weichen. So gedachte der Bürgermeister von Werder a.d. Havel, W. Große, im Sommer dieses Jahres in seiner Begrüßungsrede zur Wiedereröffnung des großen Ballsaales in der restaurierten, zu DDR-Zeiten verfallenen Gaststätte „Bismarckhöhe“ eines Besuchs Walter Ulbrichts in der Blütenstadt etwa in den sechziger Jahren.[1]


W. U. hatte sich damals als Erster Sekretär des SED-Zentralkomitees und Staatsratsvorsitzender der DDR über das Aufblühen der Stadt informieren lassen, die Stadtväter gelobt und sich mit dem Auftrag von ihnen verabschiedet, sich weiter für das Gedeihen Werders zu engagieren. Nun, rund vierzig Jahre später, erinnerte das CDU-Stadtoberhaupt daran und sagte unter dem schallenden Gelächter der fröhlichen Werderaner: „Heute könnten wir, würde er denn noch leben, dem Genossen (!) Ulbricht berichten: Wir haben Ihren Auftrag erfüllt und unsere Stadt zu nie gekannter Blüte geführt.“

Bei solch entkrampftem Umgang von Amtsinhabern der Regierungspartei mit unserer Vergangenheit ist es wohl nicht unschicklich, an dieser Stelle auch einmal des Dienstes unserer ehemaligen Grenzbeamten zu gedenken, die – im Druck zwischen ihren Vorgesetzten und den Passanten der Grenze – auch nur, wie man heute sagt, ihren Job machten, aber oft beschimpft, gelegentlich auch veralbert wurden oder manchmal mit ganz ungewöhnlichen Situationen, die einer gewissen Komik nicht entbehrten, umgehen mussten, ohne die Beherrschung zu verlieren, wie etwa im folgenden Fall. Es geschah an einem winterlichen Wochenende Mitte der achtziger Jahre. Ich stand schon fast zwei Stunden am Bahnhof Friedrichstraße und wartete auf die Freundin meiner in München lebenden Schwester. Die Erwartete, Sozialpädagogin Inge M., politisch wenig interessiert, war bis dahin nie in der DDR gewesen, kannte diesen Staat, seine Probleme und Gepflogenheiten sowie dort lebende Bürger nur vom Hörensagen, also sehr ungenau – um nicht zu sagen lebensfremd -, und wollte einen privaten Besuch in Westberlin nutzen, um mich in Ostberlin zu treffen und kennen zu lernen. Für 10 Uhr hatten wir uns mit ausreichender Personenbeschreibung und Erkennungsmerkmalen verabredet. Desöfteren schon hatte ich an diesem Grenzübergang gestanden und Besuch erwartet, war also Verspätungen von wenigen Minuten bis zur knappen Stunde gewöhnt, jenachdem, wie stark der Andrang von der anderen Seite war. Doch diesmal schien etwas passiert zu sein. Vieles zog ich in Erwägung, geduldig wartend, weil mir nichts anderes übrig blieb.

Endlich erkannte ich Inge in der Schlange vor der letzten Kontrolle, hoch rot im Gesicht. Ihre Aufregung war nicht zu übersehen, als sie mir die Hand reichte und als Entschuldigung für ihre Verspätung hervorbrachte, nur knapp einer Verhaftung entgangen zu sein. Noch auf dem Weg zum Haus des Handels, wo wir einen Kaffee trinken wollten, berichtete sie, was geschehen war. Ihre Bekannte in Berlin-West, ebenfalls Sozialpädagogin, hatte sie auf den Zwangsumtausch von 20 D-Mark (West) in 20 Mark der DDR (Ost) aufmerksam gemacht und geraten, neben ein paar Südfrüchten und etwas Kaffee nicht viel mehr Geld als für den Umtausch nötig mitzunehmen, um Unannehmlichkeiten bei der Grenzkontrolle durch die DDR-Posten vorzubeugen. Im Gedränge an der Grenze wunderte sie sich, dass alle Leute vor ihr an dem langsam näher rückenden Schalter die blauen 20-Mark-Scheine in der Hand hatten. Mit einem mulmigen Gefühl stand sie dann selber vor der Scheibe, hinter der sie eine Beamtin in Uniform aufforderte: „20 D-Mark bitte!“

„Ich habe schon umgetauscht“, antwortete Inge.

„Wie bitte?“

„Ich habe schon 20 D-Mark umgetauscht.“

„Wie denn, wo?“

„Drüben, auf dem Weg hierher, kam ich an einer Wechselstube vorbei.“

Die Dame hinter der Scheibe schaute Inge fassungslos an, musste überlegen. Dann: „Einen Moment bitte!“ Sie griff nach einem Telefonhörer, sprach etwas hinein und sagte noch einmal: „Warten Sie bitte noch einen Augenblick!“ Kurz darauf stand ein Uniformierter neben Inge und forderte sie auf, mitzukommen. Es ging um einige Ecken in einen fensterlosen Raum. Nach ein paar scheinbar endlosen Minuten erschien ein Offizier, stellte sich vor und begann ein Verhör: Woher, wohin, warum und und und … Dass da draußen jemand wartete, interessierte nicht, eine Mitteilung an diesen jemand (mich) war nicht möglich. Inge habe sich strafbar gemacht, indem sie mit dem Geldumtausch in der Westberliner Wechselstube gegen die Devisengesetze der DDR verstoßen habe, wurde ihr erläutert. In einem Protokoll unterschrieb sie diesen Sachverhalt. Ihr rechtswidrig umgetauschtes Geld wurde eingezogen. Danach durfte sie ihre „Einreise in die DDR“ fortsetzen.

Wieder stand Inge in der Schlange und schließlich vor der Glasscheibe und wurde aufgefordert: „20 D-Mark bitte!“ Daran hatte sie bis dahin gar nicht gedacht: So viel hatte sie nicht mehr im Portemonnaie. Hilflos blickte sie sich um, mit dem unangenehmen Gefühl, wiederum all die Wartenden hinter ihr aufzuhalten. Dann fasste sie sich ein Herz und sprach einen jungen Mann an, der neben ihr stand, ob er ihr wohl 20 Mark borgen könnte, sie würde ihm das Geld am nächsten Tag an jeden beliebigen Ort in Berlin bringen. Das sei nicht nötig, sagte der großzügig und reichte ihr den Schein hin.

Nachdem wir unseren Kaffee getrunken hatten, konnten wir schon herzhaft über die Geschichte lachen und taten das bei jedem Wiedersehen; letztens erst vor wenigen Wochen, aber nun in München. „Die haben mich angeschaut, als käme ich vom Mond. Und in gewisser Weise hatten sie ja Recht“, pflegt Inge heute mit Selbstironie zu sagen. „Ausgerechnet eine Sozialpädagogin und aus dem Westen!“

[1] Im Brandenburgischen kursierte seinerzeit folgender Witz: Willi Stoph, Ministerpräsident und Politbüromitglied, ruft eines Sonntagmorgens bei Ulbrichts an und fragt Walter, was er denn an diesem schönen, sonnigen Tag vorhabe. Mit der gesächselten Antwort „Mir reomiern nach Werder“ weiß er nichts anzufangen. Und nach mehrmaliger Wiederholung der selben Frage und Antwort bittet er Lotte, Ulbrichts Frau, zur Aufklärung ans Telefon, die ihm sagt: Ach weißt Du, Willi, der Walter wiederholt gerade die 5. Klasse in Physik, und da verwechselt er immer Reomir und Fahrenheit.

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