Montag, 22. Oktober 2007

Der Wert in der Finanzform

Ich wurde gebeten, mich zu dem in „offen-siv“ geführten Disput zwischen Wolfgang Hoss und Hermann Jacobs über Warenproduktion und Geld im Sozialismus zu äußern. Das ist insofern nicht leicht, als bei der Länge der sehr ins Detail gehenden und mit Zitaten gespickten Beiträge die Unterschiede in den Ansichten unscharf werden. Immerhin stimmen ja beide Autoren darin überein, „dass die Theorie, die die Beibehaltung der Warenproduktion in den Ländern des ehemaligen Ostblocks forderte, nicht nur einer grundsätzlichen Revision der Sozialismustheorie von Marx und Engels gleichkam, sondern ein verhängnisvoller Irrtum war.“ (Zitat Hoss) Trotz dieser Übereinstimmung, worin ich beiden folge, meint Hoss, wie er mir mitteilte, „dass das Geld in einer sozialistischen, nicht mehr auf Warenproduktion gegründeten Wirtschaftsordnung fortbestehen kann, und dass es bereits heute schon keine Ware mehr ist“, während Jacobs meint: „… einen Sozialismus mit Arbeitszeitzertifikaten hat es nicht gegeben, er blieb stattdessen beim Geld“, (denn) ein Arbeitszertifikat sei „ein an die Person gebundener Schein über eine Arbeitsleistung…“ Wieso an die Person gebunden?

Ich halte es für notwendig, tiefgründiger von den Erscheinungen der Wirklichkeit zu abstrahieren und auf das Wesen der Sache zu schließen, sowohl was die damaligen „sozialistischen“ als auch was die heutigen Verhältnisse betrifft. Bereits in UTOPIEkreativ (Heft 212, Juni 2008) zeigte ich

  1. wie sich für Marx Entstehung und Entwicklung der Wertform darstellten,
  2. wie Marx auf ihr schließliches Verschwinden schloss,
  3. dass und wie sich dieser Prozess aus der Logik der kapitalistischen Reproduktion heraus, also auf Grund des Bewegungsgesetzes der bürgerlichen Gesellschaft in der Realität bereits vollzogen hat,
  4. wie dieser Wandel logischerweise zu einer veränderten Betrachtungsweise des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses (quasi aus einem anderen Blickwinkel heraus) führt bzw. durch diese veränderte Betrachtungs- und Darstellungsweise offenbar wird.


Im Folgenden wiederhole ich, was ich dort zur Herausbildung der Finanzform als neuer Erscheinungsform des Wertes (der Wert in der Finanzform) darlegte:
Mit der Kündigung des Abkommens von Bretton Woods durch den US-amerikanischen Präsidenten Richard Nixon wurde der Zusammenhang von Währung und Geldware 1971 endgültig und vollständig beseitigt.[1] Es war ein staatsmännischer Geniestreich erster Güte, der die ökonomischen Verhältnisse revolutionierte, auch wenn er nur den krönenden Abschluss einer rund hundertjährigen Evolution des Papiergeldes darstellte und noch dazu in seiner theoretischen wie praktischen Tragweite kaum erkannt wurde. Denn mit der vollständigen Abkopplung der Währung von der „allgemeinen“ Ware Gold hörte das Geld nicht nur auf, selbst eine Ware zu sein, sondern auch, eine „allgemeine“ Ware zu vertreten. Es war das eigentliche Ende des Warenaustauschs und damit der Warenproduktion im Marxschen Verständnis.
Wollen wir uns dennoch weiterhin der gewohnten Terminologie bedienen, so können bzw. müssen wir für die Gegenwart von einer neu herausgebildeten Wertform sprechen, nämlich von der Finanzform, die den Waren- bzw. Produktwert nicht mehr im Gebrauchswert der allgemeinen Geldware Gold darstellt, sondern in einem Finanzzertifikat, welches geleistete gesellschaftliche Arbeit nicht verkörpert, sondern nur darstellt, repräsentiert, quittiert.[2] Denn über Nacht war 1971 durch den amerikanischen Präsidentenbeschluss aus dem vermeintlichen Geld (in Gestalt des US-Dollars und der an diesen bis dahin gekoppelten Währungen) ein reines Arbeitszertifikat geworden. Die Währungseinheit repräsentierte nun nicht mehr x Gramm Gold, sondern y Stunden gesellschaftliche Durchschnittsarbeit. Das steht zwar nirgendwo geschrieben, ist aber gleichwohl der logische und reale Hintergrund des ganzen heutigen Finanzsystems. Vertrat jeder Dollar entsprechend dem 1944 in Bretton Woods unterzeichneten internationalen Währungsabkommen bis zu jenem 15. August vor 38 Jahren eine fünfunddreißigstel Unze Feingold (und die angeschlossenen Währungen entsprechend ihrem vereinbarten Verhältnis zum Dollar), so ist hier nun die Frage zu klären, wie viel gesellschaftliche Durchschnittsarbeit er bzw. der Euro oder eine andere nicht auf Edelmetall bezogene Währungseinheit denn seitdem repräsentiert. Diese Frage muss aus den realen Verhältnissen, d.h. Austauschbedingungen heraus beantwortet werden. Denn Austausch findet nach wie vor statt. Aber es handelt sich hier nicht mehr um den Austausch von vergegenständlichter Arbeit der konkreten Art a gegen vergegenständlichte Arbeit der Art b, sondern von Arbeit a, b oder c in lebendiger oder vergegenständlichter Form gegen Arbeitsquittung q. Dieses q ist Zeichen für geleistete Arbeit, deren natürliches Maß die Zeit ihrer Verausgabung ist. Wie viel Zeit aber 1 q darstellt, kann daher nur an dem Punkt festgestellt werden, wo sich dieses q und die Arbeit in ihrer natürlichen Form, also als lebendige Arbeit gegenübertreten, ausgetauscht werden. Es ist dies die Bezahlung, Vergütung der lebendigen Arbeit, die Lohn- und Gehaltszahlung, ausgehandelt und dargestellt im Tarifsystem im weitesten Sinne.
Die von Marx ausführlich dargestellte Reduktion der konkreten Arbeit auf abstrakte, gesellschaftliche Durchschnittsarbeit findet also nun nicht mehr in ihrer vergegenständlichten Existenzweise beim Austausch von Ware gegen Ware (das heutige Geld ist ja eben keine Ware mehr, sondern Arbeitsquittung), also nicht mehr auf dem Warenmarkt statt, sondern im Prozess des Aushandelns ihrer Vergütung als lebendige Arbeit, d.h. auf dem so genannten Arbeitsmarkt - bzw. ging vor sich im Lohnsystem des gewesenen „Realsozialismus“. Alles Weitere ist zu einer ganz bestimmten, historisch bedingten und entwickelten Form einer gesellschaftlichen Buchführung und Kostenrechnung geworden, die sich subjektiv noch immer als eine Buchführung über Privatvermögen versteht. Doch ihr privater Charakter ist längst mehr Einbildung als Realität, weil sowohl das Handlungs- als auch das Verantwortungsfeld nicht nur den Rahmen privater Interessen und Bedürfnisse weit überschreiten, sondern mehr und mehr die Welt als ganze berühren. Zudem ist das Geld – ökonomisch, nicht juristisch gesehen – als Bestätigung für geleistete gesellschaftliche Arbeit gleichzeitig ein Anteilschein am Produktivvermögen der Gesellschaft, während der private Eigentumstitel beispielsweise eines Unternehmers eigentlich nur noch dessen bestimmte (durch ein ungeheures Gesetzeswerk geregelte) Kompetenzen fixiert.[3]
Das Desaströse der heutigen ökonomischen Situation besteht längst nicht mehr in einer „Ungerechtheit“ privater Konsumansprüche von Individuen, sondern darin, dass die Entwicklung der Weltwirtschaft (und damit der Weltgesellschaft) von Zielgrößen gesteuert wird, die infolge einer falschen Wahrnehmung der Realität ökonomischen Wahnvorstellungen entspringen und so nicht weniger gefährlich sind als deren religiöse Pendants.
Die Betrachtung des ganzen heutigen Finanzsystems (quasi aus einem anderen Blickwinkel heraus) als eine historisch gewachsene, spezifische Form einer gesellschaftlichen Buchführung und Kostenrechnung ergibt sich nicht nur als logische Ableitung aus der Wertformentwicklung. Sie findet ihre Bestätigung auch in den Erscheinungen des Finanzsystems bzw. macht diese begreiflich. So erleichterte beispielsweise die Abkopplung der Währung vom Gold die gewaltige Aufblähung des ganzen internationalen Finanzsystems seit den 1970er Jahren, indem der Zwang, für das umlaufende Geld Edelmetall hergeben zu müssen, bzw. die Möglichkeit dieses Eintauschens nicht mehr als Bremse für die Finanzvermehrung wirkte. So konnte sich ein „Casino-Kapitalismus“ entwickeln, der mit „überflüssigem Geld“ nicht weiß wohin und durch institutionelle (also nicht nur private) Spekulation an der Börse mehr Gewinn macht als durch produktive Arbeit. Die Erscheinungen sind hundertfach beschrieben worden. Auch die ganze „soziale Marktwirtschaft“ der Nachkriegszeit funktionierte dank einer mehr oder weniger kontinuierlichen gesellschaftlichen Kostenrechnung mit von Jahr zu Jahr steigenden Löhnen, Preisen und Gewinnen. Das Perpetuum mobile des Kapitalismus schien Ludwig Erhardt erfunden zu haben: Was im Vorjahr oder in der vorigen Produktionsperiode mit Gewinn produziert wurde, konnte in der folgenden mit höheren Löhnen von den Produzenten gekauft und so das Mehrprodukt – soweit nicht akkumuliert – gesellschaftlich konsumiert werden, und so von Periode zu Periode mit steigenden Löhnen und steigenden Preisen. Höhere Durchschnittslöhne schlugen sich in der gesellschaftlichen Kostenrechnung in höheren Preisen nieder – aber immer erst in der Folgezeit. Auch heute noch ist das so, und es wird wohl noch weiter so bleiben. Nach der Marxschen Werttheorie müssten bei steigenden Löhnen und sonst gleichen Bedingungen die Preise konstant bleiben (bei steigender Arbeitsproduktivität sogar sinken!), der Profitanteil am Warenwert aber sinken. Hier aber stiegen und steigen weiter Löhne, Preise und Profite – auf Kosten des Wertausdrucks der Währung. Die neue Gesellschaft, mit ihren neuen ökonomischen Verhältnissen und Erscheinungen war eben schon lange vor 1971 auch im „Westen“ im Entstehen begriffen.
Eine entwickelte ökonomische Theorie dieser neuen Gesellschaft, die dem neuen Wesen der ökonomischen Verhältnisse gerecht wird, gibt es bislang nicht. Sie müsste den Reproduktionsprozess primär als gesellschaftlichen Lebens- und Aneignungsprozess der Natur betrachten und daraus das ganze Finanz- und Steuerungsinstrumentarium der heutigen Realität als spezifische Erscheinungsformen einer dem Wesen nach bereits gesellschaftlichen Kostenrechnung sowie Verteilung von Leitungs- und Entscheidungskompetenzen an Personen und Institutionen erklären. Einen ersten Schritt in diese neue Denkrichtung habe ich im zweiten Teil meines Buches „Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum“ unternommen, worin ich den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess als einen stufenförmigen Aneignungs- bzw. Umwandlungsprozess der Natur darstelle und dabei die Bewegung der gesellschaftlichen Arbeit durch diesen Prozess von ihrer Verausgabung als lebendige Arbeit bis zu ihrem Ausscheiden und Verbrauch als vergegenständlichte Arbeit einschließlich der entsprechenden gesellschaftlichen Buchführung und Kostenrechnung betrachte.[4]
Eine solche Theorie kann nur die Aufgabe haben, das Wesen unserer heutigen ökonomischen Verhältnisse richtig zu erfassen, die ökonomischen Vorgänge besser zu verstehen und auf diese Weise Voraussetzungen für sachgerechte ökonomische Entscheidungen zu schaffen. Eine solche Theorie kann aber nicht noch einmal den Ausgangspunkt für ein wie auch immer geartetes, zu gestaltendes Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell sein. Gleichwohl kann sie die prinzipiellen Möglichkeiten und Anforderungen einer gesellschaftlichen Steuerung des Reproduktionsprozesses offenlegen. Nach jetzigem Erkenntnisstand gehört dazu vor allem die Beherrschung und Kontrolle des Finanzsystems im Interesse aller. Solche Kontrolle gehört heute zu den vordringlichsten Aufgaben des Staates als Hüter des Gemeinwohls. Denn das geistige Verharren dieser ganzen Gesellschaft in der Vorstellungswelt der kapitalistischen Warenproduktion bringt Verhaltens- und Handlungsweisen hervor, die geradezu Wahnvorstellungen entspringen, wie die Vorgänge an den internationalen Finanzmärkten zeigen. Sie entspringen dem unerschütterlichen Glauben an des Geldes, also des Wertes Selbstvermehrung, der die Weltwirtschaft mehr und mehr in ein Spielcasino verwandelt, dessen Akteure nur noch einem Phantom nachjagen. Denn das Geld als Wert, für den sie in ihrer Gier kein Risiko und kein Verbrechen scheuen, „selbst auf Gefahr des Galgens“[5], hat sich längst aufgelöst in ein ganz allgemeines, weder von irgendjemandem garantiertes noch quantifiziertes Versprechen auf Lieferung von Sachen und Leistungen. Alles Private hat es verloren, seine Gesellschaftlichkeit ist perfekt.
Und so scheint es, als stünde die Gesellschaft heute an einem ähnlichen Punkte ihrer Entwicklung wie beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus: Im Schoße der alten Gesellschaft hat sich eine neue Produktionsweise entwickelt, die nur noch der Anpassung ihres geistigen und politischen Überbaus an die materielle ökonomische Basis bedarf.
So weit meine Ausführungen im Jahre 2008. Inzwischen haben die Ereignisse im internationalen Finanzsystem und die weltweiten staatlichen Rettungsmaßnahmen sowohl für die Finanz- als auch für die Realwirtschaft mit aller Schärfe vor Augen geführt, dass alles Private der heutigen Ökonomik nur noch als frommer Wunsch und Wahn in den Köpfen der Menschen existiert. Die neue gesellschaftliche Realität zwingt Unternehmer, Manager und Politiker zu Maßnahmen, die bis vor kurzem noch für undenkbar gehalten wurden. Und die Zukunft wird ihnen noch manche Überraschung bereiten, da sie nach der Methode „Versuch und Irrtum“ handeln anstatt auf Grund von Einsicht in das Wesen der neuen Ökonomik.

[1] Vgl. H. Hummel, Währung ohne Basis, in: „Junge Welt“ v. 10. August 2006
[2] Unsere oben getroffene Feststellung, der Wert erscheine im Marxschen Verständnis des Warenaustausches nicht als das, was er ist, nämlich in einem Produkt vergegenständlichte menschliche Arbeit schlechthin, sondern er stelle sich dar im Tauschverhältnis zweier Waren als Gebrauchswerte, entspricht eben nicht mehr den heutigen Bedingungen. Spätestens seit 1971 wird der Wert nicht mehr (auch nicht indirekt) im Gebrauchswert einer Ware ausgedrückt, sondern in Währungs- bzw. Finanzeinheiten, die unmittelbar nichts anderes repräsentieren als gesellschaftliche Arbeit. Dass letztere nicht in ihrem natürlichen Maß, der Zeit ihrer Verausgabung, dargestellt wird, erklärt sich zum einen historisch und erkenntnistheoretisch, zum anderen und vor allem aber logisch daraus, dass allgemeine gesellschaftliche Durchschnittsarbeit auszudrücken ist, worauf die konkrete Arbeit in der tariflichen Auseinandersetzung reduziert wird. Es fiele nämlich offensichtlich schwer, dem einen für zwei Stunden seiner konkreten Arbeit a nur eine Stunde gesellschaftlicher Normalarbeit zu quittieren, dem anderen für dessen halbe Stunde Arbeit b aber ebenfalls eine ganze Stunde – auch wenn dies das Gleiche wäre wie zwanzig Euro pro Stunde als Durchschnittswert, für die der Wenigerqualifizierte volle zwei Stunden, der Hochqualifizierte aber nur eine halbe zu arbeiten hätte.
[3] Von diesem Standpunkt aus könnten gewiss noch interessante Untersuchungen angestellt werden, um die Kompetenz- und Verantwortungsbereiche, die Rechte und Pflichten von Betriebsleitern, Managern usw. bis hin zur Masse der unmittelbaren Produzenten in Unternehmen der DDR und der BRD zu vergleichen. Man käme gewiss zu bemerkenswerten Erkenntnissen in Bezug auf das Verhältnis und die Unterschiede, aber auch Parallelen zwischen den beiden angeblich „völlig gegensätzlichen Gesellschaftssystemen“, die sich bei Abbau der gegenseitigen Feindbilder und bei beiderseitiger Reformbereitschaft auf Grund der gleichen ökonomischen Grundverhältnisse (aufgehobene Warenproduktion) sicherlich in bedeutendem Maße hätten annähern können. (Siehe auch: H. Hummel, Gesellschaft im Irrgarten, die Tragik nicht nur linker Missverständnisse, NORA-Verlag, Berlin 2009,  ISBN 978-3-86557-201-1; 143 S., 14,90 €)

[4] Vgl. H. Hummel, Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum, Projekte-Verlag, Halle, 2005
[5] Vgl. Marx’ Zitat aus dem „Quarterly Reviewer“, in: Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, a.a.O. S.801 (Fußnote)



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