Montag, 22. Oktober 2007

Ein Mann der CIA als Stasi-Informant?

(Erschienen in: Das Blättchen, heft 20/2007)

Ungewöhnliches ereignete sich in den ersten Septembertagen des Jahres 1950 an der Ernst-Thälmann-Oberschule in Falkensee, vor den Toren Westberlins. Ein neuer Schüler erschien zu Beginn des für die 12. Klasse letzten Schuljahres - als einziger - Tag für Tag im Blauhemd der FDJ. Gut zwei Jahre später berichtete Der Spiegel (28. 01. 1953) über den nun beginnenden Kampf der Schulklasse „gegen ihre kommunistische Vergewaltigung“ durch eben diesen neuen Mitschüler. 


Klaus Garnatz, so hieß der, war laut Spiegel „nach einem kurzen Intermezzo mit der Polizei“ (was immer das bedeuten soll) in Berlin-West „in Richtung Sowjetzone verschwunden.“ Schon zu den Volkskammerwahlen am 15. Oktober jenen Jahres erstattete Garnatz Anzeige beim Staatssicherheitsdienst, weil an die Schulwände das Widerstandszeichen F gemalt worden war, wusste der Spiegel-Autor zu berichten und auch, dass der Neunzehnjährige danach eine Klassenkameradin, seinen Klassenlehrer und andere beim SSD angezeigt hatte. Das und vieles mehr in dem Artikel war aber nur
die halbe Wahrheit! Zwar stimmte es, dass weder Irmgard Marek noch Dr. Kurt Holzbrecher von der Stasi verhaftet wurden, aber die Warnung, auf Grund derer sich die Schülerin sofort nach dem Westen absetzte, wurde ihr von Garnatz selber in den Briefkasten gesteckt. Und die briefliche (!) Anzeige Dr. Holzbrecher betreffend landete nicht auf „mysteriöse Weise“ statt beim SSD auf dem Schreibtisch des Westberliner Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen, der, wie es hieß, noch am gleichen Abend über den RIAS (Rundfunk Im Amerikanischen Sektor) die Bevölkerung Falkensees vor Garnatz warnen ließ, sondern sie wurde gezielt von Garnatz oder seinen Hintermännern dorthin lanciert, um ihn zu decken. Denn Garnatz trieb ein doppeltes Spiel. Er wollte niemanden in die Fänge der Staatssicherheit der DDR treiben, sondern zur Flucht in den Westen.

Klaus Garnatz ging zu dieser Zeit, da er mit meiner Schwester, F. H., befreundet war, in unserer Familie ein und aus. Und als damals Elfjähriger war ich oftmals – wenn auch mit einem „irgendwie unguten Gefühl“ – dabei, wenn er mit bösen Streichen seine Nachbarschaft terrorisierte, die sich nicht getraute, sich gegen den Roten im Blauhemd, den „Stasi-Mann“, zu wehren. Als in der Nacht vor den schon erwähnten Volkskammerwahlen bei unserem Wahllokal die Flagge vom Mast gerissen worden war, erhielt auch unser Untermieter Bruno Lemke, auf den der Garnatz (grundlos) eifersüchtig war, eine Warnung, er stünde im Verdacht, der Täter zu sein, und solle darum möglichst rasch verschwinden. Natürlich flüchtete er halsüberkopf, so absurd ein solcher Verdacht auch gewesen wäre, denn Bruno war Schuster und politisch weder organisiert noch interessiert.

Meine Schwester liebte den G. – nicht wegen, sondern trotz seines Doppellebens, von dem sie nach und nach erfuhr. Sie hielt ihm seine schwere Kindheit und Jugenderfahrungen (auch in der Hitlerjugend) zugute, hoffte möglicherweise auf seine bessere Einsicht. Als er sie aber in seine Militärspionage für die CIA einbeziehen wollte, entzog sie sich ihm – nicht durch Anzeige bei den Sicherheitsorganen der DDR (Verrat – und noch dazu des Freundes - kam für sie nicht infrage), sondern durch die eigene Flucht in den Westen. G. war außer sich vor Wut und ließ diese auch an unserer Familie aus. In London, wohin sich meine Schwester vorübergehend begeben hatte, ließ er einen Entführungsversuch auf offener Straße organisieren, der scheiterte, weil sich meine Schwester zu wehren wusste. Wir, meine Mutter und ich, erfuhren davon etwa zur selben Zeit indirekt durch Hinweise von zwei Seiten aus dem Bekanntenkreis, die uns fragten, ob es stimme, dass meine Schwester in London verschwunden sei – der RIAS hätte die Meldung am Ende der Nachrichten gebracht. Persönliche Nachfragen beim Sender in Berlin-Schöneberg wurden mit der Behauptung abgetan, eine solche Meldung wäre nie ausgestrahlt worden. Das war kaum verwunderlich bei einem Rundfunk Im Amerikanischen (besser: CIA-) Solde!

Ob Garnatz tatsächlich dem Staatssicherheitsdienst Informationen zutrug, ist nicht bekannt und darf zumindest bezweifelt werden. Wahrscheinlich sollte es nur so scheinen, um seine subversive Tätigkeit zu decken. Dazu diente auch der erwähnte Artikel im Spiegel, dessen geschickte Formulierungen zwar diesen Eindruck erwecken mussten, aber bei genauer Lesart nichts belegten. Nur einmal dürfte ein Stasi-Kontakt gewiss gewesen sein: Die von der Behörde schriftlich (mit dem Hinweis auf Nichteingang) beantwortete Anfrage von G., was eigentlich mit seiner Anzeige gegen Holzbrecher passiert sei. Mit dieser Anfrage wartete G. mehr als drei Monate, bis Holzbrecher gerade im sicheren Westen war. Vieles deutet darauf hin, dass Garnatz den Artikel selber verfasste. Dies war auch die erste Bemerkung meiner Mutter mit ihrer Dorfschulbildung, aber gesundem Menschenverstand und vor allem guter Menschenkenntnis, als G. ihr damals den aufgeschlagenen Spiegel mit gewichtiger Miene zu lesen gegeben hatte. Garnatz reagierte darauf nicht.

Mitte der fünfziger Jahre hatte G. noch einmal Kontakt mit der Staatssicherheit der DDR: Er wurde enttarnt, verhaftet und wegen Spionage verurteilt. Nach seiner vorzeitigen Entlassung nach Westberlin in den 60er Jahren soll er in den 70ern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sein. Vorher hatte er Chinesisch gelernt.

Weiterzudenken in jeglicher Hinsicht empfiehlt sich. Auch was parteipolitische Entschuldigungen in Richtung Westen betrifft. Denn die Geschichte war immer eine Folge von Ursachen und Wirkungen und keine Einbahnstraße.

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