Freitag, 22. Oktober 2010

Was aus uns geworden ist

(Erschienen in: "Das Blättchen", Nr. 13/2010)

Als vor 65 Jahren Deutschland in Trümmern lag, waren wir im wahrsten Sinn des Wortes abgebrannt – materiell, auch seelisch. Das war die Folge falschen Glaubens der Deutschen, jedenfalls der meisten. „Nie wieder …!“, hieß es nun. Aber wie, wohin denn weiter? Zurück zum Vorgestern oder vorwärts ins Morgen? Beides wurde versucht, dieses von denen im Osten, jenes von denen im Westen. Angekommen sind wir alle gemeinsam im Heute. Die einen wollten die Gesellschaft verändern, die anderen nicht. Und was ist nun? Sie änderte sich von selbst und ganz anders als erwartet, ohne dass dies so recht gegriffen wird.



Fußball war, als der Deutschen Wege sich trennten, Sport. Heute bedeutet er Arbeit und (vor allem) Geschäft. Zwischendurch war er (auch) Politik. Fußballer waren Sportler, nun sind sie Profis und als solche Profiteure. Wie das? Sie verdienen als Stars und Superstars – ebenso wie ihre Artgenossen im Show- und Mediengeschäft und anderswo – weit mehr als ihren guten und reichlichen Lebensunterhalt, viele sogar Unsummen. Diese werden investiert – in Unternehmen, vor allem aber in Aktien und Finanzpapiere aller Art. Als solche vermehren diese sich von selbst, ohne dass ihre Besitzer auch nur noch einen einzigen Muskel spielen lassen, einen einzigen Nerv anspannen müssen.

Ärzte waren – in der DDR sogar bis 1990 – Diener an der Gesundheit des Volkes. Geworden sind sie Akquisiteure der Pharmaindustrie und verschiedenster medizinischer Leistungsträger – Geschäftsleute eben. Öffentlich wird im Fernsehen darüber diskutiert, was den „Kunden“ als Privatpatienten, also der großen Masse der Besserverdienenden, an Untersuchungen und Leistungen alles angedreht werden soll, ob notwendig oder nicht.

Damals waren die meisten von uns arm, denn der Krieg hatte die Habe der Meisten vernichtet. Der Markt war ein Fass ohne Boden, auch am Notwendigsten war Mangel. Heute sind wir mehrheitlich wohlhabend, und der Markt quillt über vom Überflüssigen. Auch das Sinnloseste wird erfunden und auf den Markt geworfen, um Beschäftigung zu sichern, Einkommen zu ermöglichen.

Nach dem Krieg waren wir Käufer auf der Suche nach Waren, heute fällt eine ganze Werbe-„Industrie“ von morgens bis zum Abend über uns her, um uns Bedürfnisse zu suggerieren. Ihr Ausufern wird auch noch als Wirtschaftswachstum nicht nur angesehen, sondern sogar ausgewiesen.

Zur „Industrie“ wurde auch das Bank- und Finanzwesen stilisiert. Denn während seinerzeit die Sicherung des Lebensunterhalts uns beschäftigte, ist es heute der für sicher gehaltene Unterhalt (und Vermehrung) unserer Ersparnisse durch Spekulation. Das Gesparte waren, als Deutschlands Staatlichkeit in zwei spiegelverkehrte Bilder zerfiel, Notgroschen. Nun sollen es die Existenzgrundlagen des Alters und auch noch der Enkel sein. Dass aber alles nur unverdauliches Papier ist, bedruckt mit (leeren) Versprechungen, wird aus Dummheit oder in betrügerischer Absicht übersehen bzw. verschwiegen; auch, dass zu deren Einlösung bzw. Verwandlung in Lebensnotwendiges Arbeit erforderlich sein wird - die unserer Enkel, der Opfer von uns Spielern und Spekulanten, die wir selbst staatliche Finanzpolitik zu einem Spiel nach der Methode „Versuch und Irrtum“ (Zitat Dr. W. Schäuble) werden ließen.

Am „Neubeginn“ vor über einem halben Jahrhundert zogen noch alle - und an einem Strick -, um die Karre Deutschland aus dem Dreck zu kriegen. Jetzt sind wir, auch staatlich wiedervereinigt, gespaltener, ungleicher denn je zuvor. Die einen dürfen arbeiten und ihrem Leben einen Sinn geben, die anderen nicht; die einen für Westtarife, die anderen für Osttarife. Die Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in Arme und Reiche, der wohlhabende Mittelstand wird dezimiert.

Vor 60 Jahren waren wir eine Gesellschaft von – weitgehend – Privaten. Die meisten Zeitgenossen glauben auch heute noch an ihr privates Dasein: Als Unternehmer, Fabrikant, Kaufmann, Arzt, auch Künstler usw. Der Manager glaubt wenigstens, die Interessen privater Anteilseigner wahrzunehmen. Zwar ist wohl richtig, dass es jedermanns private Angelegenheit ist, welchen Beruf er wählt und welchen Vertrag er unterschreibt. Doch was immer er dann tut, ist nicht mehr seine Privatsache, sondern von öffentlicher Bedeutung. Es unterliegt öffentlichem Recht. Er kann denken, was er will, aber weder sagen noch tun, bis hin zur Behandlung der eigenen Kinder. Das öffentliche Recht setzt überall und jedem Mitglied der Gesellschaft Normen und Grenzen für sein Handeln und verleiht ihm insofern Kompetenzen bzw. begrenzt diese.

Interessanterweise aber ist dies bisher wohl am wenigsten auf dem Gebiet des Umgangs mit und der Verteilung von gesellschaftlichem Reichtum der Fall. Hier soll das Private der Angelegenheit, die weitestgehende Handlungsfreiheit der Akteure, möglichst nicht angetastet werden, obwohl gerade hier die gesellschaftliche Relevanz allen Tuns besonders groß ist und das Private auch der Sache wie der Bedeutung nach weitgehend abhanden gekommen ist. Denn Unternehmer wie Manager „arbeiten“ heute im Unterschied zu früher in der Hauptsache mit geliehenem Geld bzw. mit Werten von Millionen Anteilseignern. So wurden sie – der Sache nach – zu Agenten der Gesellschaft. Und das Geld selbst ist seinem Wesen nach, da es keine bestimmte Ware (Edelmetall) mehr darstellt oder vertritt, zu einem Zertifikat auf Teilhabe an dem im ökonomischen Kreislauf befindlichen Gesamtreichtum der Gesellschaft geworden und insofern zu einer in höchstem Maße öffentlichen Angelegenheit. Aber das Risiko, das alle Entscheidungen und Handlungen begleitet, tragen Unternehmer und Wirtschaftsbosse doch privat, meinen Sie? Nein, auch das trägt die Gesellschaft über Versicherungen aller Art. Selbst wenn solche Versicherung einmal (noch) nicht besteht, springt der Staat, also wieder die Gesellschaft, helfend ein, sobald, wie in der jüngsten Banken- und Finanzkrise oder bei „privat“ verursachten Umweltkatastrophen, das ganze ökonomisch-ökologische System in Gefahr gerät zu kollabieren. Auch das kennzeichnet die neuen Bedingungen und Dimensionen unseres Seins.

Wo das alles kodifiziert ist? Nirgends, glaube ich, und genau darin liegt das Problem dieser Gesellschaft. Denn sie hat ein veraltetes Selbstverständnis, begreift sich noch immer – wie ehemals - als eine Gesellschaft p r i v a t e r Unternehmer und „Ich-AGs“, von Einzelgängern eben, obwohl sich die realen Existenzbedingungen längst gründlich verändert haben. „Erkenne dich selbst“, würde wohl das Orakel von Delphi dem Gesetzgeber heute antworten, fragte er es, was er tun soll, um der chaotischen Lage im Lande und in der Welt Herr zu werden und eine solidarisch-ökologisch orientierte Ökonomie und Gesellschaft einer geregelten Freiheit u n d Verantwortung gegenüber dem Gesetz zu gestalten. Was heißen soll: Wir brauchen einen Wandel (auf welchem Wege auch immer) unseres geistigen, politischen und rechtlichen „Überbaus“, damit dieser der veränderten ökonomischen Basis gerecht wird, sie funktionabel macht. Marx und Engels würden, könnten sie sich heute äußern, von der Notwendigkeit einer Revolution sprechen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen