Freitag, 22. Oktober 2010

Kommunismus am Mittelmeer?

Nicht nur im Geld- und Finanzsystem gibt sich diese Gesellschaft falschen Vorstellungen hin. Auch bei einer Kreuzfahrt im Mittelmeer werden Menschen mit Illusionen abgespeist.


Mit dem Auto nach Kroatien wollten wir und dann über die italienische Adriaküste wieder nach Deutschland. Doch plötzliche Anzeichen von Altersschwäche unseres zwanzig Jahre alten Mobils ließen uns kurzfristig eine Kreuzfahrt buchen, von Venedig nach Marseille und zurück, über etliche sehenswürdige Städte an der Adria und am Thyrrhenischen Meer. Wir haben unseren Entschluss nicht bereut und sind unserem „Alten“ fast dankbar für sein Versagen. Reisen bildet, heißt es. Und das erfuhren wir, auch wenn der Veranstalter seine Aufmerksamkeit wohl vor allem darauf richtete, seine Gäste zu unterhalten und durch kulinarische Genüsse zufrieden zu stellen. Sogar in einer „geschlossenen Gesellschaft“ an Bord eines Kreuzfahrers hat man allerdings genügend Freiraum, den Tag entsprechend seinen persönlichen Interessen zu gestalten, sich demgemäß zu informieren und den eigenen Gedanken nachzuhängen.

Auf bzw. in Lipari, unweit Siziliens, erfuhren wir, die Ureinwohner dieser Insel hätten vor etwa fünftausend Jahren allen Besitz geteilt und so in einer Art Urkommunismus gelebt, als bereits in Ägypten, an den südlichen Gestaden des Mittelmeers, wahrscheinlich Sklaven die Pyramiden der Pharaonen errichteten. Wenn auch, wie man uns weiter wissen ließ, manche Experten die Meinung nicht teilen, es habe sich bei den Insulanern um Urkommunismus gehandelt, vielmehr um eine ursprüngliche Form eines solidarischen Zusammenlebens - wobei die arbeitsfähigen Männer sich landwirtschaftlich betätigten oder auf See zur Verteidigung und Beutejagd kämpften -, bewegte mich der Gedanke an die schon zu Urzeiten bestehenden schreienden Gegensätze innerhalb dieser Region die ganze Reise über. Denn tagtäglich erlebte ich an Bord die moderne Form der Ausbeutung - des Südens durch den Norden - und hatte daran teil. Schlecht bezahlte Arbeitskräfte aus Asien und Afrika sowie aus Osteuropa, die bis in die Schiffsführung hinein fast die gesamte Mannschaft und das Servicepersonal stellten, machten es möglich, dass auch ich mir, wie der Großteil der nach westeuropäischen Maßstäben wohl eigentlich nicht eben wohlhabenden Reiseteilnehmer, mit einem Einkommen knapp über der offiziellen Armutsgrenze solchen Luxus leisten konnte. Wie mag dem immer freundlich lächelnden jungen Steward aus Mauritius, der uns Tag für Tag das Essen servierte, riesige Tabletts mit den dreifach aufgeschichteten Menüs oder Bergen schmutziger Teller auf einer Hand und bei Seegang fast im Laufschritt balancierte, zumute gewesen sein? Wie die anderen Elenden – die meisten tief unter Deck - schuftet er fünfzehn Stunden am Tag für einen Billiglohn, über dessen Höhe er nicht reden durfte und mit dem er alle seine Angehörigen daheim ernährt. Muss aus seiner Sicht die Masse von uns Europäern – verglichen mit den Bedingungen in seiner Heimat – nicht bereits wie im Kommunismus leben (wenn er sich darüber überhaupt Gedanken macht)? Und was mag er denken, wenn er hört, dass man hier bei uns ein bedingungsloses Grundeinkommen für jedermann fordert? Möchte er da nicht seinen jetzt für ihn so teuren Job hinwerfen und auch nach Europa, nach Deutschland wandern, wie so viele es versuchen?

So kam mir denn, wie ich da an der Reling stand, der Gedanke, was alles geschehen könnte, tauchte in der Ferne ein Boot auf, ähnlich dem, mit welchem wir von unserem auf der Reede vor Lipari liegenden Schiff zur Insel übergesetzt worden waren; jenes aber überfüllt mit Menschen auf der Flucht vor afrikanischem Elend, Hunger und Bürgerkrieg, nach tagelanger Fahrt durch eine stürmische See, krank, dem Verhungern und Verdursten nahe. Würde unser Kapitän die Maschinen stoppen lassen und die Elenden aufnehmen? Dürfte er das? Und wie würde ich mich verhalten, wenn er keine Hilfe leistete? Was könnte, ja müsste ich tun, da ich doch unmittelbar zugegen wäre, so wie ich als Europäer dank nichtäquivalenten Leistungs- und Güteraustauschs ja unmittelbar an der Ausbeutung billiger Arbeitskräfte teilhatte (und habe).

Solche Überlegungen dämpften meinen Genuss an der Kreuzfahrt; ebenso das Bewusstwerden (je länger die Fahrt ging, desto mehr), dass doch so Vieles nur noch Utopie ist, Kulisse, hinter der wirkliches Leben mehr und mehr verschwindet. Alte, geschichtsträchtige Städte, die nur noch für den Tourismus da sind, allein von ihm und für ihn leben. Und auch hier wieder eine Brücke, die mir ungewollt als gedanklicher Blitz in den Sinn schießt, zum Kommunismus, wenigstens zu dem, was sich so nannte oder als solcher verstanden wurde! Alles Theater, Worte, Ideologie, um Menschen, das Volk, zufrieden und ruhig zu stellen; früher, im Osten: es auf bessere Zeiten hoffen und fügsam sein zu lassen!

Leere Kulisse dann das kulturelle Unterhaltungsprogramm an Bord: Eine Sängerin nebst Begleiter am elektrischen Klavier, aus Bulgarien, die stundenlang Evergreens anboten und von denen ich bis jetzt nicht sicher bin, was sie tatsächlich selber sangen bzw. spielten und was einfach Playback war. Stutzig wurde ich naiver weise erst, als der Dame offenbar der Arm lahm wurde und sie das Mikro zur Hüfte sinken ließ, die Stimme aus dem Lautsprecher aber unverändert weiter sang. Sie tat mir leid, über Stunden hinweg auf demselben Fleck stehen zu müssen, um dem Publikum Gesang – Tag für Tag dieselben Titel – vorzugaukeln, billige Kulisse zu sein. Tänzer aus der Ukraine konnte man eher für Amerikaner aus einer Kleinstadt von Dakota halten, wie sie orientalisches Flair singend und tanzend US-verkitscht zu vermitteln bemüht waren. Preiswert auch sie, die gewiss wesentlich mehr und Besseres konnten, als billiger Geschmack ihnen der „Marktlage“ entsprechend abverlangte.

Unglaubwürdig (wenn auch durchaus nicht inszeniertes Theater!) - vor der Stadtmauer von Kotor in Montenegro - sogar eine junge Frau, augenscheinlich der Volksgruppe der Sinti und Roma zugehörig, die mit drei Kindern, davon eins auf dem Arm, etwa zwanzig Meter vor uns aus einem Taxi stieg, als wir uns ihr näherten auf uns zu trat und die Hand ausstreckte, um zu betteln. Ihr eventuelles Verständnis von Kommunismus als ein Leben ohne zu arbeiten? Ein bedingungsloses Grundeinkommen dagegen als die bessere, bequemere Variante?

Oder sollten wir Europäer nicht doch alle fleißig arbeiten und den Völkern des Südens, die durch den Kolonialismus unserer Vorfahren aus ihren überkommenen Verhältnissen geworfen wurden, verarmten und noch heute von uns ausgebeutet werden, solidarisch und uneigennützig durch andere, für sie günstigere Tauschrelationen und ohne Gewinnstreben (das heute ohnehin nur noch eine Illusion befriedigt) bei der Überwindung ihrer Not helfen? Wir würden denen so zurück geben, was ihnen einst genommen, geraubt wurde und unseren heutigen Wohlstand mit begründete. Vor allem aber: Wir würden uns selbst einen immensen Dienst erweisen, da wir uns eines zunehmenden Migrationsdrucks entledigten, der ein unkalkulierbares politisches Desaster zu werden droht, wie die ethnischen Konflikte in aller Welt befürchten lassen.

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