Freitag, 22. Oktober 2010

Bewusstseinskrise

(Erschienen in: Das Blättchen, Nr. 12/2010)

Eine Krise jagt die andere durch die Medien. Der Bankenkrise folgte die Schuldenfalle der Staaten und dieser der Absturz des Euros. Welche Krise wird als nächste Schlagzeilen machen? Irgendwann sicherlich die Bewusstseinskrise der Gesellschaft. Denn in der stecken wir schon lange. Da streiten sich Amerikaner und Europäer über die geeigneten Maßnahmen zur Stabilisierung des internationalen Finanzsystems, in Kürze wieder auf dem G20-Gipfel in Toronto (immerhin bemüht man sich ja wenigstens schon um gemeinsame finanzpolitische Lösungen!). Die Ursache des Streits: Die gegensätzlichen partikularen Interessen von Akteuren im Weltwirtschafts- und Weltfinanzsystem, die weder willens noch in der Lage sind, sich selbst als Teil dieser einen, widerspruchsvollen Welt zu verstehen und alle anderen nicht als Gegner, sondern als Partner. Das würde nämlich bedeuten, die Interessen der Weltgemeinschaft als ganze auch als die eigenen wesentlichen Interessen anzusehen, zu vertreten und gezielt durchzusetzen, anstatt dies dem Kampf auf dem Markt der Waren, des Geldes und der Finanzpapiere, also dem Kapital zu überlassen.



Der vielschichtige Interessenkonflikt ließe sich zwar marxistisch damit begründen, dass die Verhältnisse nun einmal so sind, wie sie sich real darstellen, und das gesellschaftliche Bewusstsein nur deren geistige Widerspiegelung ist. Aber das ist noch immer keine Rechtfertigung, kein Grund, sich damit abzufinden. Zwar gehen Marxisten von einem Primat der Materie (der objektiven Realität) gegenüber dem Bewusstsein aus, doch messen sie in der Wechselwirkung beider Letzterem durchaus eine aktive Rolle bei. Wir vermögen die Welt zu erkennen und zu verändern. Zu konstatieren ist also ein gewaltiges geistiges Defizit der Weltgesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Menschen sind rund um den Globus in ihren Existenzbedingungen hoch vernetzt, doch in ihrem Bewusstsein, das diese Existenzbedingungen zu steuern und zu sichern hat, sind sie stark partikularisiert. Ja, der Individualismus und Egoismus wurde vom Zeitgeist des Neoliberalismus geradezu gezüchtet. So hinkt das Bewusstsein dieser Gesellschaft ihrem materiellen Sein um eine ganze Epoche hinterher.

Eine Denkhaltung, die vor 250 Jahren die bürgerliche Revolution unter dem Motto „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ in Frankreich geistig vorbereitete, ist heute schon lange zur konservativen Fessel der Gesellschaft geworden, ihr politisches und rechtliches System den gravierend veränderten objektiven Bedingungen bei der Schaffung ihrer Existenzgrundlagen anzupassen. Marxisten drücken es so aus: Der gesellschaftliche Überbau entspricht nicht mehr der ökonomischen Basis der Gesellschaft. Dieser Zusammenhang scheint den LINKEN weitgehend aus dem Bewusstsein gekommen, zumindest nicht aktuell zu sein. Im Februar dieses Jahres organisierte die Rosa-Luxemburg-Stiftung des Landes Berlin („Helle Panke“) eine Vortragsveranstaltung zum Thema „Neue Fragen in der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen im 21. Jahrhundert“. (Die Veranstaltung wurde unlängst mit Heft 141 der Reihe „Pankower Vorträge“ dokumentiert.) Dort konstatierte Professor Herbert Meissner, im 20. Jahrhundert und bis heute hätte die Entfaltung der Produktivkräfte das kapitalistische System, also auch seine Produktionsverhältnisse, gefestigt, anstatt sie, wie von Karl Marx erwartet, als Fessel des technischen Fortschritts zu sprengen. Und noch für mehrere Generationen erwartet er keine revolutionäre Situation, die daran etwas ändern, eine „höhere Gesellschaft“ herbeiführen könnte.

Worauf in diesem Zusammenhang aufmerksam gemacht werden soll, ist Folgendes: Die Entwicklung der Produktivkräfte hat die Gesellschaft einschließlich ihrer Produktionsverhältnisse sehr wohl und sehr stark verändert. Wir leben, arbeiten, produzieren und konsumieren ganz anders als unsere Groß- und Urgroßeltern vor hundert Jahren. Auch die ökonomischen Mechanismen sind nicht mehr die alten. Die ganze Ökonomik funktioniert anders als damals. Doch der sehr allgemeine Begriff „kapitalistisch“ kaschiert diese Veränderungen, beschreibt die Realität der viel widerspruchsvoller, gefährlicher und schrecklicher gewordenen Gegenwart mit einem Bild bzw. Begriff der für die Menschheit vergleichsweise weniger gefahrvollen Vergangenheit. Das System sei doch aber immer noch kapitalistisch, meinen Sie? Ich frage: Was hat dieser „Kapitalismus“ noch mit dem System von damals (vor weit über 100 Jahren) gemein? Die Ausbeutung? Die gab es schon Jahrtausende vor dem Kapitalismus! Die Ausgebeuteten müssten immer noch als „doppelt freie Lohnarbeiter“ ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen, mit deren Gebrauchswert der Kapitalist Mehrwert erzeugt, denken Sie, sich auf Karl Marx berufend? Nein, er verkauft sie heute nicht als und nicht gegen eine (andere, bestimmte) Ware, sondern gegen Geld, das selbst nicht mehr Ware, sondern (nur noch) eine Bescheinigung für geleistete gesellschaftliche Arbeit ist. Das sei eine Spitzfindigkeit? Nein, es ist die Feststellung eines wesentlichen Unterschieds in den gesellschaftlichen Verhältnissen zwischen dem „klassischen“ Kapitalismus und der heutigen Gesellschaft. Die Grundlage des gegenseitigen Vertrauens der handelnden Akteure ist eine ganz andere geworden. Als Real- oder Sachwert (Gold) war das Geld ein Vertrauen schaffendes Faustpfand im allgemeinen Warenaustausch. Heute ist es als Bescheinigung (für gegebene Arbeit) nur ein Versprechen darauf, gleich viel (Arbeit anderer Art) aus dem großen Topf der Gesellschaft zurück zu bekommen. Wer also heute – mit welchen Tricks und Finanzkonstruktionen auch immer – aus Geld mehr Geld macht, vermehrt nur die Versprechen auf Sachreichtum, nicht jedoch diesen selbst. Eine fast unglaubliche allgemeine Idiotie, aber Wirklichkeit, Ausdruck der weltweiten Bewusstseinskrise! Dem ist ohne ordnende gesellschaftliche (Staats-)Macht nicht beizukommen.

Und die Ausbeutung? Natürlich gibt es die noch! Aber sie beruht auf ganz anderen Methoden und gesellschaftlichen Mechanismen, vollzieht sich in ganz anderen Dimensionen als zu Zeiten von Marx und Engels. Die Hunderte von Billionen umfassenden Finanzmassen, zusammengetrieben aus aller Herren Länder und aus allen Schichten der Bevölkerung, einerseits und die ebenso großen Schuldenberge von Bürgern, Gesellschaften, Kommunen und Staaten andererseits belegen es. Doch wer beutet heute wen aus? Ich erlaube mir, stark zu verallgemeinern und damit zu vereinfachen: die Privilegierten die Unterprivilegierten, die Besserverdienenden die Schichten mit unterdurchschnittlichem Einkommen!

Müssen wir darum alle gleich machen? Nein, denn alle sind nicht gleich, und diese Gesellschaft braucht wohl noch einige Zeit differenzierende materielle Anreize, um produktiv zu funktionieren. Dennoch: die heutigen Einkommens- und Vermögensunterschiede sind ökonomisch und allgemein gesellschaftlich (auch politisch) desaströs. Das System funktioniert nicht mehr und befindet sich bereits in einer Dauerkrise.

Worauf kommt es da nun an? Die Gesellschaft als ganze muss sich ihrer veränderten ökonomischen Verhältnisse bewusst werden und sich gesetzlich allgemeine Regeln verordnen, mit denen die Kompetenzen der ökonomischen Akteure im Umgang mit dem Reichtum der Gesellschaft in seiner sachlichen Form und in seiner finanziellen Darstellung den Erfordernissen entsprechend begrenzt, in Schranken gehalten werden. Wir brauchen, was die Erzeugung und die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums betrifft, ein neues Recht, das den objektiv gegebenen ökomischen Verhältnissen entspricht. Ein solches neues Recht muss klar zeigen bzw. regeln, wo die private Sphäre allen Handelns von Personen endet und wo deren Tun von gesellschaftlicher Relevanz ist und darum gesellschaftlichen Regeln zu folgen hat. Ein solches Recht zu schaffen und damit Basis und Überbau der Gesellschaft wieder weitgehend in Übereinstimmung zu bringen wird zu den objektiven Aufgaben einer Regierung gehören, welche die Interessen aller Bürger wahrzunehmen gedenkt und möglicherweise auch aus einer revolutionären oder sonstigen Krisensituation hervorgehen kann. Solche Ereignisse kommen meistens ganz plötzlich, unerwartet. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens aus heutiger Sicht eher gering ist – die Politik, auch Die LINKE, sollte darauf vorbereitet sein!

Von Heerke Hummel erschienen zuletzt: Gesellschaft im Irrgarten. Die Tragik nicht nur linker Missverständnisse, NORA-Verlag, Berlin 2009, 148 Seiten; und: Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum, Projekte-Verlag, Halle 2005, 500 Seiten. In Heft 3/2010 der Zeitschrift „Deutschland Archiv“ erschien sein Aufsatz „Irrtümer der Deutschen – zwischen Spaltung und Wiedervereinigung“.

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