Freitag, 22. Oktober 2010

Irrtümer der Deutschen

(Erschienen in: "Deutschland Archiv", Zeitschrift für das vereinigte Deutschland, Heft 3/2010)

Genau 40 Jahre lang war Deutschland im vorigen Jahrhundert geteilt, nun ist es schon wieder 20 Jahre lang vereint – wenigstens staatlich. Und die Deutschen? Wie gingen sie mit ihrer Situation um? Sie lebten, nachdem sie mehrheitlich gerade aus der großen Illusion eines nationalen Sozialismus erwacht waren, mit neuen, wenn auch unterschiedlichen, falschen Vorstellungen von sich und der Welt weiter - bis heute.



Die erste große Illusion, mit welcher der „nationale Neubeginn“ nach dem von Vielen als „Zusammenbruch“ reflektierten Ende des zweiten Weltkriegs begann, beruhte auf dem Glauben, Geschichte könne sich wiederholen. Dieser Glaube gebar Ängste, von denen die Deutschen (und nicht nur sie), je nach ihrer politischen Orientierung, befallen wurden. Die Befürchtung, ein weiteres Mal könnten die „Widersprüche des Imperialismus“ mit Deutschland im Mittelpunkt zu einem noch viel größeren Desaster als dem gerade beendeten führen (die amerikanischen Atombombenabwürfe ließen dessen mögliche Ausmaße ahnen), war, so gesehen, bei Kommunisten, die sich der „Vorhut des internationalen Proletariats“ zugehörig, wenigstens mit ihr verbunden fühlten, verständlich. Und als nicht weniger „logisch“ darf – unter gleicher Voraussetzung - die Angst des Bürgertums und der von ihm schon seit den zwanziger Jahren vereinnahmten Sozialdemokratie vor einer „Sowjetisierung“ der deutschen Gesellschaft angesehen werden.

In den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten hatten sich Kommunisten und Sozialdemokraten noch geschworen, nach der Befreiung die Bruderkämpfe der zwanziger Jahre nicht wieder aufflammen zu lassen, damit Freiheit und Demokratie nicht ein weiteres Mal in Gefahr gerieten. Doch als dieser ersehnte Moment endlich kam und ein nationaler Neubeginn anfangen sollte, hatte sich die Welt (zu wiederholtem Male) gravierend verändert. An der Elbe standen sich die Armeen Stalins, dessen Terror in den Arbeitslagern Sibiriens inzwischen Millionen Sowjetbürger aller Klassen und Schichten zum Opfer gefallen waren, und die Streitkräfte der westlichen Alliierten nicht mehr freundlich gegenüber. Bald fanden sich Sozialdemokraten und Kommunisten in zwei verschiedenen deutschen Staatsgebilden wieder, machtausübend weitgehend gestützt auf und in der Vertretung der hinter ihnen stehenden, nun verfeindeten Supermächte. Wie diese waren sie beseelt von Ideologien, die aus verengten Blickwinkeln auf die Welt resultierten, die sachlichen Veränderungen in der Welt als ganze ungenügend reflektierten und noch weniger theoretisch verarbeiteten. Beide Ideologien beinhalteten eine falsche Vorstellung nicht nur vom jeweiligen Gegenüber, sondern auch vom Wesen der eigenen Existenzgrundlagen, der eigenen ökonomischen Verhältnisse. Und sie betrachteten sich mehr denn je als Feinde in einem Kampf auf Leben und Tod, hoch gerüstet mit einem Kernwaffenpotential, ausreichend, um unseren Planeten vielfach zu vernichten. Ausgetragen wurde dieser „Überlebenskampf“ von beiden Seiten auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens mit aberwitzigen Methoden und Folgen, darunter Gemeinheiten und Verbrechen ebenso wie – historisch gesehen – Albernheiten, die beispielsweise mit dem Namen eines Herrn Mielke verbunden waren.

Die besondere Tragik dieser so viele Menschenleben und riesige materielle Opfer kostenden Auseinandersetzung bestand in ihrer Sinnlosigkeit. Diese wurde 1989/90 offenbar. Da zeigte sich nämlich – bei nüchterner Betrachtung -, dass die Menschheit Opfer eines jahrzehntelangen Kampfes von Gespenstern geworden war. Freilich, diese Nüchternheit, wir können auch sagen: Objektivität und somit Klarsicht, dürfte all jenen fremd sein, welche die damaligen gesellschaftlichen Umbrüche zwischen Elbe und Pazifischem Ozean als einen Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus, als des Letzteren Untergang feiern oder bedauern – je nach parteilichem Duktus. Denn was da über viele Jahrzehnte stattgefunden hatte, war – aus heutiger Sicht – nur die Erprobung zweier Wege aus der Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts in die heutige. Es war ein gewaltiges „Experiment“, bei dem sich beide Varianten, beide konkurrierenden Systeme, in ständiger Wechselwirkung gegenseitig beeinflussten und voran trieben. Der wirtschaftlich unterentwickelte Osten hatte eine gewaltige ökonomische und militärische Herausforderung durch den industrialisierten Westen zu bestehen und schnallte dazu den Gürtel der Bedürfnisbefriedigung der Menschen extrem eng, gleichzeitig das Planungs- und Leitungssystem der Wirtschaft, wie der ganzen Gesellschaft, aufs Höchste zentralisierend. Seine anfänglichen Erfolge trugen zu den aus praktischen Erwägungen getroffenen evolutionären Wandlungen im Interesse der Systemstabilität des Westens bei, zu deren prägnantesten Erscheinungen Ludwig Erhards „soziale Marktwirtschaft“ gehörte. So schaffte es der atlantische Westen, seine nationalen und sozialen Gegensätze nicht ausufern zu lassen und der Entwicklung der Produktivkräfte durch evolutionäre Veränderung der Produktionsverhältnisse immer wieder neue Entfaltungsräume zu eröffnen. Die Bedeutung dieser Evolution, die mit einer internationalen „Finanzindustrie“ und einem globalen Finanzmarkt neue ökonomische Erscheinungen hervorbrachte, wurde auch von den Kommunisten weitgehend unterschätzt und ungenügend theoretisch verarbeitet. Das Denken mit den Scheuklappen „marxistischer“ Dogmen „erforderte“, stets von neuem das unveränderte kapitalistische Wesen dieser sich verändernden westlichen Gesellschaft zu betonen, um bürgerlich-sozialdemokratische Vorstellungen von „Volkskapitalismus“ und Ähnlichem als Zukunftsalternativen zu bekämpfen. Das Wesen dieser Veränderungen, insbesondere des Geldsystems (im Zuge der Abschaffung des Goldstandards der Währungen durch die Kündigung des Abkommens von Bretton Woods im Jahre 1971), nämlich das Entstehen grundlegend neuer gesellschaftlicher Verhältnisse, blieb dabei weitgehend unverstanden.

Im Osten dagegen wurde die Überzentralisierung der ökonomischen Planung und Leitung in einer starren, weitgehend aus Moskau gesteuerten Partei- und Staatsbürokratie im Laufe der Zeit zu einem lähmenden Hemmschuh des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und seiner breiten ökonomischen Anwendung. Ihren entwürdigenden Ausdruck fand sie in der weitgehenden Bevormundung der Bürger durch die (so gut wie) allein regierende Partei und ihren Staat. Was da also kurz vor dem Ende des 20. Jahrhunderts im Ostblock vor sich ging, war eine (von der Führung Moskaus eingeleitete) Reform des gesellschaftlichen Systems, insbesondere der Wirtschaftsleitung, um im ökonomischen Wettlauf mit der übrigen, vor allem der westlichen Welt Schritt halten zu können. Da man aber jahrzehntelang die Freiheit der wirtschaftswissenschaftlichen und der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung überhaupt unterdrückt und in das enge Korsett von Dogmen (auch „sozialistisches“ Wirtschaften betreffend und auf Aussagen von Marx und Engels aus dem 19. Jahrhundert beruhend) gezwängt hatte, war der herangereifte Reformwille eines engen Führungszirkels der Kommunisten völlig ungenügend theoretisch untermauert. So ist es nicht verwunderlich, dass man nun nicht zu mehr in der Lage war, als das westliche, für effektiv, also sinnvoll, gehaltene Modell weitestgehend zu kopieren.

Die Ironie der Geschichte wollte es, dass die „bürgerliche“ Wirtschaftswissenschaft des Westens, die auch sozialdemokratisches Denken prägte, jahrzehntelang keineswegs mehr zu leisten vermochte als ihre östliche Gegenspielerin. Auch sie begnügte sich damit, Dogmen anzubeten und zu aktualisieren, insbesondere die Idee des schottischen Ökonomen Adam Smith aus dem 18. Jahrhundert von der unsichtbaren Hand des Marktes, die Angebot und Nachfrage ins Gleichgewicht bringe. Theoretiker wie Milton Friedman und Eugene Fama, Wegbereiter des „Neoliberalismus“, verfestigten mit der Hypothese der effizienten Märkte, wonach der Markt im Gegensatz zum Menschen immer rational handele, nicht nur Smiths These von der regulierenden Funktion des Marktes, sondern dehnten sie über den von Smith im Auge gehabten Warenmarkt hinaus auch noch auf die inzwischen entstandenen Finanzmärkte aus. Die Folgen dieser außerordentlichen wissenschaftlichen Fehlleistung bekam die ganze Welt mit der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise seit 1929 zu spüren, in die sie sich seit 2007 gestürzt sieht.

Festzustellen ist also: Politökonomisches Versagen der Gesellschaftswissenschaften in Ost und West über Jahrzehnte hinweg, weil Wahrheiten von einst auf beiden Seiten dogmatisch zementiert wurden, möglicherweise, und weitgehend unbewusst, aus dem ideologischen Konflikt beider Seiten heraus, infolge des Gegensatzes zweier Idealvorstellungen: der vom freien, privaten Individuum und seinem eigenverantwortlichen Handeln auf einem freien Markt einerseits und der von einer Gesellschaft, in welcher sich der Einzelne dem gesamtgesellschaftlichen, von einer zentralen Führung formulierten Ziel und Interesse unterzuordnen hat, andererseits. Die Einen glaubten an das Heil aus privater Marktwirtschaft, die Anderen an die Überwindung aller Übel durch Planwirtschaft auf der Grundlage „vergesellschafteten“, also verstaatlichten Eigentums an den Produktionsmitteln. Beide Vorstellungen dürfen heute für jedermann deutlich sichtbar als gescheitert betrachtet werden. Dass aber gerade im Osten dieses eigene Scheitern zuerst begriffen und eingestanden wurde (wenn auch nicht von der Wissenschaft, sondern von der politischen Führung), dürfte wohl ironischer weise gerade darauf zurückzuführen sein, dass hier die Gesellschaftswissenschaft unmittelbar zum (nachträglichen) Legitimationsinstrument der allmächtigen und alles entscheidenden, aber unter dem Druck eines realwirtschaftlichen Erfolgsmankos stehenden politischen Führung degradiert worden war, welche aber immerhin die Initiative ergreifen und die Reform einleiten konnte. Dort im Westen aber – im unerschütterlichen Glauben an ihre eigene und jedes Individuums zu verteidigende demokratische Freiheit – hatte sich die Politische Ökonomie selbst ihres Forschungsgegenstandes entledigt und die Bühne wissenschaftlicher Forschung verlassen. Ihre Scheuklappen aber sind bis heute erhalten geblieben. Weder die Wirtschaftswissenschaft noch die Politik noch die Praktiker in Wirtschaft und Finanzsystem sind in der Lage, auch nur Ansätze von weitreichenden Reformen ernsthaft ins Auge zu fassen. Denn sie verstehen das System nicht und sehen nicht seine Grenzen. Ihnen ist das Wissen um die inneren Zusammenhänge der Reproduktion ihrer Gesellschaft abhanden gekommen, weil sie schon lange die politische Ökonomie als Wissenschaft ad Acta gelegt haben, um sich auf „Handwerkliches“ zu beschränken. Denn alles sollte möglichst so bleiben wie es war und ist.

So gesehen sind die Herausforderungen, vor denen die Bewegung für eine Reform der heutigen weltweiten gesellschaftlichen Verhältnisse sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht steht, enorm. Denn noch in viel größerem Maße als zu Zeiten von Karl Marx und Friedrich Engels gilt heute infolge der unvergleichlich intensiveren Globalisierung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, dass wesentliche Veränderungen internationaler bzw. international abgestimmter Entscheidungen und Aktionen bedürfen. Dies aber nicht mehr, wie es vor anderthalb Jahrhunderten logisch zu sein schien und auch heute noch in verschiedensten Strömungen und Ansichten geglaubt wird, als revolutionäre Tat eines internationalen „Proletariats“, sondern als weitgehend bewusster, wenn auch evolutionärer Entwicklungsprozess des politischen, juristischen und geistig-kulturellen „Überbaus“ der Gesellschaft durch die Bürger dieser Welt. Denn die Ökonomik der Gesellschaft, deren Produktions-, Finanz- und Eigentumsbeziehungen, aber vor allem auch ihre Verantwortung für die Ökologie – ihre natürlichen Existenzbedingungen -, sind internationalisiert. Nichts daran ist – eben wegen seiner globalen Bedeutung - mehr Privatsache von Individuen, die nach persönlichem Ermessen und geleitet vom Eigennutz entscheiden. Darum ist die Gesellschaft gefordert, durch ein Regelwerk zu sichern, dass das Handeln des Einzelnen als Individuum und „in gesellschaftlicher Funktion“ nicht dem Interesse und den Normen der Gemeinschaft zuwider läuft. Ein solches Regelwerk existiert ansatzweise bereits – in nationalen wie internationalen Grundsätzen, Normen, Vereinbarungen, Absprachen und Gesetzen aller Art. Seine Herausbildung war ein bisher weitgehend spontaner, evolutionärer Prozess. In der Zukunft bedarf dieser dringend einer bewussten Intensivierung, damit die Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht, zu bewältigen sind. Zu den wichtigsten gehören dabei die Ökologie, die Beseitigung von Hunger und Armut, die Harmonisierung von Produktion und Verbrauch durch Überwindung der Arbeitslosigkeit als weltweites gesellschaftliches Problem sowie durch ein reguliertes Geld- und Finanzsystem.

Voraussetzung dafür, dass ein solcher geistig-kultureller, politischer und juristischer, den bereits gegebenen Bedingungen in der ökonomischen Basis der Gesellschaft entsprechender Überbau weiter zielgerichtet gestaltet werden kann, ist ein neues, auch theoretisch fundiertes ökonomisches Denken. Erforderlich ist eine Betrachtungsweise der Ökonomik als (heute weltweit verflochtener) Arbeitsprozess der materiellen und geistig-kulturellen Reproduktion der Menschheit. Der muss - als „persönliches Streben jedes Einzelnen im gesellschaftlichen Interesse“ - von der Gesellschaft als ganze gesichert werden. Der Einzelne muss begreifen, dass er (tatsächlich!) nicht mehr privat, „abgesondert“, existiert und lebt, sondern – zwar persönlich frei, also frei in seinen Entscheidungen was seine Person betrifft – als Teil der menschlichen Gemeinschaft, deren notwendigen Regeln und Geboten sein Handeln nicht zu widersprechen hat. Es handelt sich hierbei um die Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft und dieser gegenüber dem Individuum in dem Sinne, dass der Einzelne die Normen der Gesellschaft und diese die Rechte des Einzelnen zu respektieren hat. Die Freiheit des Einzelnen und ihre Beschränkung durch gesellschaftliche Normen müssen – auch im Bereich der Ökonomik - in einem ausgewogenen Verhältnis stehen, das eine dauerhaft harmonische Entwicklung sichert. Ein neues, von bisherigen Dogmen befreites Verständnis von Plan (im Sinne gesellschaftlich gesetzter Normen, Regeln und Grenzen) und Markt (im Sinne des eigenverantwortlichen Handlungsraums der Individuen) als einer notwendigen Einheit ist dafür ideologische Voraussetzung.

Ferner bedarf es der Einsicht, dass die Entwicklung des Geldsystems – und damit des Wesens des Geldes – im vorigen Jahrhundert dazu geführt hat, dass Geld nicht mehr unmittelbarer (sachlicher) privater Reichtum ist, sondern, wie alle Finanzwerte, einen persönlichen Anspruch auf Teilhabe an dem gesellschaftlich (von der ganzen Gesellschaft) erzeugten Reichtum in allen seinen Formen ausdrückt; weiterhin, dass der Umgang mit diesem Geld nicht mehr ausschließlich Privatsache des Einzelnen ist, sondern, weil es über den Markt die Vermittlung von Produktion und Konsumtion der ganzen Gesellschaft steuert und auch ein gesellschaftlicher Machtfaktor ist, gesellschaftlichen Regeln unterliegen und in Grenzen gehalten werden muss, damit Entscheidungen und Handlungen Einzelner im Rahmen des „Marktgeschehens“ weder zu Wirtschafts- und Finanzkrisen noch zu sonstigen gesellschaftlichen Desastern führen.

Schließlich ist zu begreifen, dass sich unter den heutigen Bedingungen des Geld- und Finanzsystems (ökonomisch gesehen, nicht juristisch – dies klar zu regeln ist eine der zahlreichen Aufgaben der Zukunft!) die Stellung der Menschen im Reproduktionsprozess der Gesellschaft wie auch zu den Produktionsmitteln verändert hat. Auch hier ist alles Private dem Wesen nach bereits abhanden gekommen (und weitgehend auch den Erscheinungen nach). Der Staat als gesellschaftlicher Interessenvertreter beschränkt schon heute die Befugnisse von Unternehmern und Managern mit tausenden Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften und greift massiv, unter anderem mit finanziellen Mitteln, in den Reproduktionsprozess ein, wenn das Gesamtsystem in Gefahr kommt. Ein weites System von Versicherungen aller Art bewirkt, dass die reale materielle Verantwortung und das Erfolgsrisiko, das jeder Entscheidung, auch eines Einzelnen, innewohnt, letztlich von der ganzen Gesellschaft getragen werden.

So zeigt sich bei genauer Betrachtung, dass wir es schon lange nicht mehr mit einer wirklichen Privatwirtschaft zu tun haben. Bei genauem Hinsehen handeln Alle „für die Gesellschaft“, ausgestattet mit bestimmten Entscheidungskompetenzen für ihr Handlungsfeld, für den Umgang mit den eingesetzten finanziellen, sachlichen und personellen Ressourcen. Das Problem der heutigen Gesellschaft besteht darin, dass sich die Akteure bei diesen Entscheidungen, in diesem Handeln von fehlorientierenden Prinzipien und Kriterien in einem unangemessenen Kompetenzrahmen leiten lassen. Seine Ursache liegt vor allem im Versagen der Wirtschaftswissenschaft in der westlichen Welt während des ganzen vorigen Jahrhunderts. Sie hat – möglicherweise als Gegenreaktion auf die zentralistische Planwirtschaftstheorie im Ostblock – die Lehre von der privaten Marktwirtschaft zu einem quasireligiösen Glaubensdogma erhoben und die Illusion erzeugt, Vermehrung von Geld- und Finanzvermögen sei gleichbedeutend mit wachsendem Reichtum und könne daher Hauptkriterium ökonomischer Entscheidungen und wirtschaftlichen Handelns sein.

Moderne, sozial orientierte Wirtschaftspolitik setzt daher voraus, durch theoretisch begründete Aufklärung aller Schichten der Gesellschaft ein allgemeines ökonomisches Umdenken zu bewirken, das – möglichst in einer Wirtschafts- und Sozialverfassung fixiert - die gegenwärtigen Illusionen und Barrieren ökonomischen Denkens und Handelns überwindet, den veränderten ökonomischen Verhältnissen in der Welt entspricht und so der Verantwortung für eine harmonische Entwicklung der Weltgesellschaft gerecht wird. Ein solches Wirken entspricht den historischen Wurzeln der sozialistischen als soziale Bewegung und wird den heutigen realen Bedingungen und objektiven Bedürfnissen aller Menschen, also auch des Bürgertums, gerecht. Sie zu überzeugen und für Koalitionen zu gewinnen, sollte ein zentrales Anliegen aller Politik sein. Deren objektive Aufgabe kann nur darin bestehen, das ganze juristische System der Gesellschaft als wichtigen Bereich deren politisch-ideologischen Überbaus so zu reformieren, dass es der bereits gegebenen ökonomischen Basis entspricht, ihr neue Entwicklungsmöglichkeiten im 21. Jahrhundert eröffnet und so die Gesellschaft als solche harmonisiert und stabilisiert.

Was vor zwanzig Jahren für die Deutschen als scheinbarer „nationaler“ Neustart in die Wege geleitet wurde, muss von seinen sozialen Ursachen her und in seinen globalen Zusammenhängen aus gesehen und begriffen werden. Dann ordnet sich das Ereignis vom 3. Oktober 1990 ganz „natürlich“ in einen allgemeinen, weltweiten Trend einer sozial orientierten Migration infolge erheblicher Wohlstandsgefälle ein. Diese wird über kurz oder lang alle historisch gewachsenen, nationalen Verbände reformieren, um, - allen früheren Illusionen zum Trotz - mehr und mehr ein Weltbürgertum zu begründen.

Vom Autor veröffentlichte Bücher: „Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum“ (Projekte-Verlag, Halle 2005, 500 S.); „Gesellschaft im Irrgarten“ (NORA-Verlag, Berlin 2009, 148 S.)

Mitteilung der Redaktion DeutschlandArchiv:

Sehr geehrter Herr Hummel,
soeben ist das Heft 3/2010 des Deutschland Archivs erschienen.
Für Ihren Beitrag darin danke ich Ihnen an dieser Stelle nochmals. … Zudem hat mich gestern Prof. Eberhard Görner, Bad Freienwalde, angerufen und sich für Ihren Beitrag bedankt, den er als wichtig und anregend bezeichnete.

Mit freundlichen Grüßen
Marc-Dietrich Ohse

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