Donnerstag, 22. Oktober 2009

Panta rhei

(Erschienen in: Das Blättchen, Nr. 20/2009)

Alles fließt, alles ist in Bewegung, nichts bleibt. Das wussten schon die alten Griechen. Das Ende des Bisherigen (auch wenn es sich um ein redaktionelles Projekt wie das „Blättchen“ handelt) als Bedingung irgendeines Neubeginns – Grund zur Traurigkeit? Nein, Anlass zur Zuversicht! Hoffnung war die Kraft, die vor zwanzig Jahren auch die Bürgerbewegung in der DDR mobilisierte. Und heute?



Skeptiker sprechen von dahingeschmolzenen Illusionen, von Einverleibung statt eigenem neuen Anfang, von Siegern und Besiegten. Niederlage des Sozialismus und Sieg des Kapitalismus? Im zeitlichen Abstand von zwei Jahrzehnten und im Lichte nicht einer deutschen Nabel-Perspektive, sondern der globalen Prozesse scheint mir, es war eine ziemlich plötzliche, ja in dieser Art unerwartete Reform dessen, was sich Sozialismus nannte. War das aber Sozialismus gewesen? Und ist es Kapitalismus, worein es transformiert wurde? Kapitalismus, wie ihn Karl Marx ökonomisch analysierte, doch wohl kaum! (Und den Sozialismus hatten sich Marx und Engels gewiss auch nicht so vorgestellt, wie er sich später darstellen sollte.) Dieser Kapitalismus hatte sich während des ganzen vorigen Jahrhunderts Schritt für Schritt zu der heutigen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts reformiert. Wenn diese jetzige Gesellschaft noch mit den selben Begriffen betitelt, mit den gleichen Kategorien charakterisiert wird wie vor 150 Jahren, so zeigt das nur, wie viel das analytische Denken der Wirtschaftswissenschaft an Kraft und Tiefe verloren hat, wie sehr es verflacht ist. Da geht es den Sozialisten nicht viel besser als den Bürgerlichen. Diese, z. B. Prof. Dr. W. Fuhrmann von der Uni Potsdam vor kurzem auf einer Veranstaltung der Brandenburger Landeszentrale für politische Bildung zum Thema Finanzkrise, träumen (besser: phantasieren) auch angesichts weltweiter, in ihren Dimensionen bisher nicht gekannter und kaum vorstellbarer staatlicher Rettungspakete immer noch von privater Initiative auf den Waren- und Finanzmärkten der Welt. Und jene sind mit ihrem ökonomischen Denken nicht über Marx und Keynes hinaus gekommen. Dass wir heute in einer ökonomisch ganz anders gestalteten, nämlich im Marxschen Sinne nach-kapitalistischen Welt leben, ist ihnen unbegreiflich. Warum? Ich meine, das liegt an dem übermächtigen Konservatismus menschlichen Denkens. Der Mensch denkt wohl vor allem, was er einmal gelernt hat, was er denken möchte, was seinen Freund-Feind-Bildern entspricht, die er nur schwer aufzugeben bereit ist.

Block-Denken in Bildern von Himmelsrichtungen prägte das 20. Jahrhundert. Es vernebelte den Blick und führte zu Missverständnissen sowohl von den eigenen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen als auch von denen der anderen Seite, die sich weitgehend hinter dem Rücken der Akteure vollzogen. Veränderungen in beiden Blöcken, wenn auch auf zwei verschiedenen Wegen, dem östlichen und dem westlichen, mit vielen Wendungen und zahlreichen Gegenbewegungen auf beiden Flussarmen der Weltgemeinschaft. Nun ist der Strom wieder vereint. Und die da auf und mit ihm schwimmen, glauben, immer noch in demselben alten Flusse entweder sich zu baden oder bis zum Halse im Wasser zu stehen. Dass er inzwischen viel breiter und tiefer geworden ist, gefahrvollere Klippen passiert, darum weitgehend auch kanalisiert und reguliert wurde (wenn auch längst nicht genügend), dass er, was Wirtschaft und Finanzsystem anbelangt, statt klaren Wassers eine kaum noch zu durchschauende trübe Brühe mit oft „toxischen“ Inhaltsstoffen führt, sollte doch nicht nur zu denken geben, sondern zeigen, dass wir uns heute auf einem ganz neuen Gewässer befinden! Es sicher zu befahren erfordert mehr als Steuerungsmanöver nach der Methode „Versuch und Irrtum“, nämlich eine zeitgemäße Analyse seines Wesens.

Der Osten und der Westen sind, denke ich, in einer anderen Gesellschaft angekommen, jedenfalls in einer Gesellschaft mit nicht nur neuartigen Produktions-, Kommunikations- und sonstigen Techniken, sondern auch mit einer neuartigen Ökonomik und einer weitgehenden Virtualisierung. Ich bezeichne sie als eine Finanzgesellschaft, deren Wirtschaft durch das Finanzsystem gesteuert wird - derzeit allerdings sehr destruktiv, weil dieses für eine private Angelegenheit gehalten und als solche zur Wirkung gebracht wird. Das akute Problem der heutigen Gesellschaft in ökonomischer Hinsicht: Sie glaubt noch immer an den privaten Charakter von Wirtschaft und Finanzen, sieht und versteht nicht, dass Unternehmens- wie Bankmanager durch die Entwicklung des Geld- und Finanzsystems längst zu „Handelnden im Auftrag der Gesellschaft“ mit ganz bestimmten Rechten, Pflichten und Kompetenzen geworden sind, und hat bisher darauf verzichtet, ihren geistig-politischen (vor allem den juristischen) Überbau der ökonomischen Basis der Gesellschaft anzupassen, möglicherweise mit einer speziellen Wirtschafts- und Finanzverfassung. Mit den dazu erforderlichen Reformen ist durchaus nicht eine gehabte zentrale Planungsbürokratie wieder herzustellen. Die zu erwartenden Veränderungen werden in der Hauptsache das internationale Finanzsystem schrittweise in ein weltweites gesellschaftliches Steuerungssystem für die globalen ökonomischen Prozesse verwandeln und auf diese Weise gewährleisten, dass notwendigerweise dezentralisiertes Wirtschaften (als „Marktwirtschaft“ nicht selten fälschlicherweise mit „Kapitalismus“ gleichgesetzt) in geregelten, gesellschaftlich und ökologisch verträglichen Bahnen, also letztlich im Interesse aller verläuft.

Alles Utopie? Ich meine, es ist sowohl eine politische als auch eine ökonomisch-ökologische Notwendigkeit, ein Gebot des 21. Jahrhunderts - egal, von welchen Parteien das Notwendige erkannt und dann auch getan wird.

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