Donnerstag, 22. Oktober 2009

Kleines Einmaleins

(Erschienen in: Das Blättchen, Heft 6/2009)

Immer wieder will man uns einreden, Schulden, die wir heute zur Finanzierung dringender Aufgaben des Staates machen, würden unsere Enkel unzumutbar belasten und vor unlösbare Aufgaben einer Rückzahlung stellen. Zu fragen ist: Wer ist »wir«, und wer sind die Gläubiger?


»Wir«, das sind die Millionen Mitglieder der Gesellschaft, vertreten durch den Staat, der im Auftrag und im Interesse der Allgemeinheit handelt – beziehungsweise es tun sollte – und dazu neben den personellen auch die sachlichen Voraussetzungen käuflich, das heißt gegen Geld, zu erwerben hat. Gläubiger sind einige von uns, die »Besserverdienenden«.

Im Blättchen, H. 2/09 zeigte ich, daß alles Produzieren und Wirtschaften längst nicht mehr Privatsache von Personen, sondern öffentliche Angelegenheit ist und darum vom Staat gesteuert werden muß, wo und wenn die Selbstregulation nicht funktioniert. Im Geld- und Finanzbereich – und zunehmend auch in der Produktionssphäre – erleben wir das gerade. Wo liegt das Problem? Das Geld hat Produktion und Konsumtion zu vermitteln, damit verbraucht werden kann, was produziert wurde. Dem entspricht aber nicht seine derzeitige Verteilung. Die einen besitzen nicht genug davon, um ihre Bedürfnisse auch nur halbwegs zu befriedigen, die anderen haben es im Überfluss und wollen für ihre und ihrer Kinder Zukunft sparen. Das führte dann zu keinem Problem, wenn sie ihr Geld heute ausgäben, um »ihren Teil« des gesellschaftlichen Produkts zu kaufen, und diese Güter aufhöben. Doch jeder weiß, daß niemand in diesem Jahr einen neuen Porsche kauft, den er vielleicht erst ab 2012 oder später fahren will und kann, weil er seinen letzten erst vorigen Dezember aus dem Autohaus geholt hat. Und niemand läßt seinem sechsjährigen Knirps heute schon eine Villa bauen, die er in zwanzig Jahren erst beziehen soll. Niemand kauft schon heute sein Brot und seinen Mantel für das übernächste Jahr. Genau darin besteht das Problem: Was in der Gegenwart produziert wird, muß in der Gegenwart verbraucht werden, weil alles vergänglich ist, an allem der Zahn der Zeit nagt. Und eben darum kann auch erst in der Zukunft produziert werden, was in der Zukunft von unseren beziehungsweise den Gläubiger-Kindern verbraucht werden soll.

Ergo kann keine Rede davon sein, daß wir auf Kosten unserer Nachkommen leben, denn die müssen sowieso selbst produzieren, was sie verbrauchen wollen, und: Der Staat tut gut, wenn er sich im Interesse des ökonomischen Kreislaufs, der gesellschaftlichen, auch geistigen Reproduktion, verschuldet. Besser, weil ehrlicher, täte er, das »nach Anlage suchende Geld« der Reichen gleich direkt für seine Zwecke zu vereinnahmen, also wegzusteuern, anstatt es sich gegen Zins zu borgen. In dieser Richtung jedenfalls will US-Präsident Obama aktiv werden. Er kündigte das mit der Bemerkung an, die rund 250 Milliarden Dollar, die Washington jährlich seinen Gläubigern an Zinsen zahlt, seien dreimal so viel wie derzeit für das Bildungswesen ausgegeben werde. Doch gerade in der Bildung liegt eine der wichtigsten Bedingungen für eine gesicherte Zukunft aller.

Am besten allerdings handelte der Staat, wenn er dem ganzen Geld- und

Finanzsystem ein »vernünftiges« Korsett verpaßte, mit Einkommens- und Vermögensgrenzen,

die jedem einzelnen Mitglied der Gesellschaft genügend soziale Sicherheit – durch ein Mindesteinkommen – wie auch – mit den oberen Einkommensgrenzen – ökonomischen Freiraum gewähren, der Gesamtheit aber wirtschaftliche Stabilität garantieren, indem ein solches Korsett der Sucht, gigantische Finanzberge – nicht zuletzt auf Kosten unseres Sozialgefüges, der Umwelt und von Naturressourcen – anzuhäufen, Grenzen setzte. Das wäre auch ein Dienst an der Demokratie. Denn wo dem Geld- und Finanzsystem durch gesellschaftliche Kontrolle Grenzen gesetzt sind, ist auch die gesellschaftliche Macht des Geldes begrenzt.

Alles Utopie? Nein! Die öffentlichen Haushalte der Bundesrepublik waren Ende 2008 mit über 1,5 Billionen Euro verschuldet (18 473 Euro pro Einwohner). Das Bruttonationaleinkommen belief sich im vorigen Jahr auf 2,5 Billionen, das Volkseinkommen auf 1,88 Billionen Euro. Das bedeutet, die deutsche Gesellschaft müßte schon heute, ungeachtet der geplanten Neuverschuldung in bisher nicht gekanntem Ausmaß, etwa acht Monate lang arbeiten, um ihre Staatsschulden abzutragen, ohne auch nur einen einzigen Euro für Essen und Trinken oder sonstige Konsumtion auszugeben. Selbst wenn sich solche Unmöglichkeit doch verwirklichen ließe oder auf einen längeren Zeitraum verteilt würde – was sollte mit dieser ungeheuren Masse von Gütern dann geschehen, welche die einen mangels Geld nicht kaufen können, die anderen mangels Bedürfnis nicht kaufen wollen? Exportieren? Wohin? In aller Welt ist die Lage ähnlich, meist sogar noch viel widersprüchlicher! Diejenigen, die Geld und Finanzen – alles nur Papier! – im Überfluß haben, wollen damit nichts kaufen, sondern es nur weiter vermehren. Irrsinn? Ja, aber Wirklichkeit! Es wird auf Dauer kein Weg daran vorbeiführen, die ganzen Finanz- und Schuldenberge eines Tages abzuwracken; und vorher noch Heerscharen von Praktikern, Theoretikern und Politikern des Neoliberalismus, wie Tomas Rüger vorschlug (Blättchen, H. 4/09). Denn die werden sich wohl noch lange die Köpfe am kleinen Einmaleins der Makroökonomie zerbrechen und nach der Methode »Versuch und Irrtum« (Zitat Wolfgang Schäuble) vorgehen. Eine sol-che Kontenbereinigung von Plus und Minus – denn um nichts weiter geht es – wird nicht die erste Verzichtsaktion großen Stils sein. Im Jahre 2005 erließen die Finanzminister der sieben führenden Industriestaaten und Rußlands (G8) den 18 ärmsten Ländern der Welt alle ihre Schulden bei der Weltbank, beim Internationalen Währungsfonds und bei der Afrikanischen Entwicklungsbank im Umfang von mehr als 40 Milliarden Dollar. Verglichen mit den 2008/ 2009 beschlossenen Billionen-Rettungspaketen für Banken und Industrie in aller Welt handelte es sich damals zwar um einen lächerlichen Betrag, doch wurde ein Prinzip bestätigt: Verzicht auf unerfüllbare finanzielle Ansprüche, ohne daß sachlicher Schaden entsteht.

Im Internetforum des Blättchens schrieben Cordula und Rolf Franke, ihre Phantasie reiche für diesbezügliche praktikable Vorstellungen »leider nicht aus«.

Am ehesten wären wohl eine kompetente Gesetzgebende Körperschaft und internationale Vereinbarungen denkbar, die schrittweise zu einer »internationalen

Finanzarchitektur« führen. Über deren Einzelheiten kann und will ich nicht spekulieren. Mir geht es um das Prinzip einer neuen ökonomischen Denkweise, die Finanzberge nicht für wirklichen Reichtum hält und Schuldenberge nicht für Klippen, an denen, wie auch Thomas Rüger (ebenfalls im Blättchen-Internetforum) befürchtete, die Zukunft unserer Kinder zerbricht. Letztere ist gefährdet vor allem durch mangelndes realwirtschaftliches Denken und Handeln, durch realwirtschaftliche Sünden an den natürlichen Ressourcen, an der Umwelt und durch Versäumnisse im Sozialbereich, im Bildungswesen, in der Ausbildung sowie in der Forschung.

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