Donnerstag, 22. Oktober 2009

Links mal anders

(Besprechung des Buches "Störfall Zukunft" von  Ulrich Scharfenorth in: Das Blättchen, Heft 3/2009)

Was uns seit geraumer Zeit an kritischer Auseinandersetzung mit der heutigen Gesellschaft angeboten wird, ähnelt sich meist sehr. Gegeißelt wird vor allem ein räuberischer, von Gier getriebener Finanzmarktkapitalismus, der nun schon oft in allen seinen Erscheinungen beschrieben wurde und der in der Zukunft von etwas abgelöst werden soll, von dem niemand so recht weiß, wie es aussehen und funktionieren soll.


Zumindest gehen die Ansichten darüber ziemlich stark auseinander. Man nennt es auf Seiten der Linken gern - aus überkommenem Denken heraus und als ganz Anderes gegenüber dem Heutigen und Bisherigen - „Sozialismus“, gelegentlich auch einen wahren, echten, demokratischen oder auch menschlichen. Von der jüngsten Buchvorstellung Sahra Wagenknechts etwa war zu lesen, eines hätten alle Zuhörer mit nach Hause genommen: die Erkenntnis, dass der Finanzkapitalismus durch keinen Dompteur zu bändigen ist. Was, frage ich mich, soll denn sonst geschehen? Noch einmal Gehabtes? Aus dem sich sozialistisch verstehenden Norden Koreas erreichte uns zur gleichen Zeit die Nachricht, Staatschef Kim Jong Il, einst selbst vom Vater ins Amt gehoben, habe seinen 24-jährigen Sohn Kim Jong Un nun wiederum zu seinem Nachfolger nominiert. Und damit nicht genug – dieser Sohn habe eine internationale Schule in der Schweiz besucht. Dies alles könnte man ganz verschieden deuten in Bezug auf sozialistische Wege und Perspektiven. Streben wir nach einem himmlischen Ziel, oder sind wir auf dem Weg in eine Zukunft, von der wir nicht genau wissen, wie sie aussieht, die uns aber täglich herausfordert, Steine unterschiedlichster Art und Größe je nach Ort und Zeit, mitunter Felsen, wegzuräumen oder sie zu umgehen? Es dürfte sich also, was die Menschheit betrifft, nicht um einen, sondern um viele, ziemlich unterschiedliche Wege handeln.

Ulrich Scharfenorth, Jahrgang 1941 und in der DDR-Stahlindustrie als Technologe, Forscher und Gutachter tätig gewesen, verzichtet auf Systembenennungen, die den einen illusionieren, den anderen vielleicht schrecken könnten. Er legte nun eine sehr umfassende Analyse dessen vor, was wir im weiteren Sinne als die menschliche Gesellschaft zu betrachten haben, nämlich die Gemeinschaft in ihren wissenschaftlich-technischen, biologisch-medizinischen, bildungspolitischen, ökologischen, ökonomischen und sonstigen Erscheinungen bzw. Existenzbedingungen. Für einen Einzelnen ist das ein mutiges und sehr selbstbewusstes Unterfangen. Der Autor sieht das selbst so und beansprucht durchaus nicht die geistige Urheberschaft des immensen Analysematerials, das er gewissenhaft dokumentiert. Aber selbst dieses Zusammentragen und die Aufbereitung für das Allgemeinverständnis einer breiten Leserschaft verdient Anerkennung.

Wer das Buch als Fachmann einer bestimmten Disziplin liest, wird manche Einwände erheben und noch mehr Ergänzungen vorschlagen können. Das tut dem Buch und seinem Anliegen kaum Abbruch. Denn es soll nicht den Spezialisten über sein Fachgebiet informieren, sondern der Allgemeinheit ihre Existenzbedingungen in deren vielseitiger Verflechtung und Dynamik vor Augen führen, vor allem denen, die sich für das Ganze der Gesellschaft verantwortlich fühlen und engagieren. Und tatsächlich vermittelt das Werk nicht nur das Wissen, sondern es erzeugt durch die Vielfalt der Gesichtspunkte auch ein tiefes Gefühl für das, was wir oftmals so ganz lapidar als Vergesellschaftung der menschlichen Existenzweise bezeichnen. Und es vermag den, der logisch denkt, davon zu überzeugen, dass hier Kräfte wirken, die sich nicht durch Geld und Wertgesetz über den Markt von selbst regeln bzw. einer Selbstregulierung überlassen werden können.

Wer beim Nachdenken über das Morgen so den Blick weitet, wird kaum ein Modell einer Gesellschaft des 21. Jahrhunderts entwerfen. Auch für Scharfenorth ist die Entwicklung offen. Was wie in fünfzig oder hundert Jahren sein wird, ist davon abhängig, was wir alle heute, morgen und übermorgen tun. Scharfenorth zeigt dafür Möglichkeiten auf – solche, die Andere beschreiben, und solche, die er selbst für wahrscheinlich hält. Er reflektiert eine Menschheit, die künftig abstürzen, in großen Teilen dahinvegetieren oder – was er für wahrscheinlicher hält – gesunden kann. Seine eigenen Erwartungen entstammen weder eigenen Hochrechnungen, noch erheben sie Anspruch darauf, einer umfassenden wissenschaftlichen Evaluation zu genügen. Sie entspringen der Logik eines Betrachters, der natürlich lebt und weiterdenkt, schreibt Scharfenorth. Das ist viel, aber nicht zu viel versprechend, und es sollte hier als Leseanreiz genügen; dies auch deshalb, weil, wie uns ziemlich am Schluss mitgeteilt wird, Zukunft störe. Damit wird denn schließlich auch ein Hinweis auf den nicht ganz leicht verständlichen Titel gegeben: Auch Politiker lehnten es vielfach ab, ihr (der Zukunft) grundlegend nachzuspüren. Ernstzunehmende Wissenschaftler blieben vor der Tür, weil Tagesgeschäft und Wahlkämpfe wichtiger schienen. Folglich seien die „Staatenlenker“ über wichtige, weitreichende Trends schlecht informiert und anfällig für „schnelle Einflüsterungen“. Wenn man dann hinzunehme, dass Politiker, z. B. Wirtschafts- und Finanzminister, zumeist Erfüllungsgehilfen/Galionsfiguren von Wirtschaft und Finanzwelt sind, lasse sich leicht ausmachen, wohin die Reise (zunächst) geht. Hatte der Autor bereits Einsicht in die Planungen für jüngste Rettungsanker und Krisenschirme der Bundesregierung gehabt?

(Ulrich Scharfenorth, Störfall Zukunft – Schlussfolgerungen für einen möglichen Anfang, Heiner Labonde Verlag, Grevenbroich 2008, ISBN 978-3-937507-15-6, 630 S.)

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