Von
Heerke Hummel
(Erschienen in: „Das Blättchen“, Nr. 1/2017 - http://das-blaettchen.de/2016/12/zurueck-zu-keynes-38495.html)
Offenbar weil Politik und Wirtschaftswissenschaft
keine plausiblen Antworten auf brennende Tagesfragen mehr zu geben vermögen,
haben Kabarettisten sich mehr und mehr der Sache angenommen - dabei nicht nur
die Lachmuskeln ihrer Zuschauer reizend.
Vielfach führen sie mit dem aufgedeckten Unsinn des Handelns von Politik und
Finanzwirtschaft den Ernst der Lage vor Augen, in der sich die Welt befindet.
Wenigstens sie haben die Bodenhaftung noch nicht verloren. Nun hat es sich mit
Ulrike Herrmann zu wiederholtem Male eine Journalistin zur Aufgabe gemacht,
aufzuklären. Mit ihrem Buch für die Studierenden der Ökonomie, wie sie es
nennt, will sie den Leser „das Abenteuer Kapitalismus“ erfahren lassen. Und das
könne am besten, wer „seine klügsten Theoretiker kennt. Also Smith, Marx,
Keynes.“ Der Titel des Buches, „Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung“, ist
einerseits ironisch gemeint. Denn er zielt auf die mathematisierte
Mainstream-Ökonomie mit ihren Wachstumsmodellen, die so tut, als könne man sich
in die heile Welt der kleinen Wochenmärkte zurückziehen, wo nur Äpfel und
Birnen gehandelt werden. Andererseits spielt der Artikel, so die Autorin, auch
darauf an, „dass es nicht so einfach ist, den Kapitalismus abzuschaffen“. Denn
er sei „ein totales System, das nicht nur die Wirtschaft, sondern alle
Lebensbereiche durchdringt.“
Nach solcher Einleitung beleuchtet U. Herrmann Leben
und Werk ihrer Favoriten und würdigt deren Verdienste. Dies verdient besondere
Anerkennung in einer Zeit, in der die dominierende ökonomische Theorie
weitgehend von der erzeugenden Realwirtschaft abgehoben und die ganze
Komplexität volkswirtschaftlicher Reproduktion aus dem Auge verloren hat; in
einer Zeit, in der Wirtschaftswissenschaftler, Politiker, Banker und sonstige
„Investoren“, ja, mehr und mehr das breite öffentliche Bewusstsein, sich vor
allem für Konten und Finanzwerte interessieren und eben davon leiten lassen –
anstelle von sachlichen Strukturen und Problemlösungen der Gesellschaft als Gesamtheit.
Diese Gesellschaft hat verlernt, wirklich ökonomisch in des Wortes ursprünglicher Bedeutung zu denken. Darum ist
es so wichtig, ein Umdenken von der Wurzel her bei denen einzuleiten, die noch
nicht in alten Mustern erstarrt sind - den heute Studierenden, die es zu
begeistern gilt. Das könnte tatsächlich ein Abenteuer sein.
Möge das Buch dazu beitragen!
Die Autorin könnte ihr Anliegen nicht zum Erfolg
führen ohne das theoretische und praktische Versagen der sogenannten Neoklassik
aufzudecken. Ihre wesentliche Kritik: Die Neoklassik, also die bürgerliche
Wirtschaftstheorie, welche sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von
der „Arbeitswertlehre“ verabschiedet hatte, rückte statt dieser den Konsumenten
ins Zentrum der Aufmerksamkeit und verharrte in der Mikroökonomie. Sie stecke
„in einem amüsanten Dilemma: Zwar kann sie erklären, warum Schuhe billiger sind
als Häuser – aber sie kann nicht herleiten, wie Schuhe und Häuser überhaupt zu
einem Preis kommen.“ Und weiter stellt sie fest, dass die Neoklassiker den real
existierenden Kapitalismus ausblendeten und stattdessen eine reine
Tauschwirtschaft beschrieben. Die Neoklassik kenne kein Wachstum, keine
Technik, keine Großkonzerne und dominiere bis heute, obwohl sie schon 1914 von
Schumpeter verächtlich gemacht wurde. Doch trotz solcher Kritik sei auch dieser,
sich auf den einzelnen Unternehmer konzentrierend, in der Mikroökonomie stecken
geblieben, ungeachtet dessen, dass er wesentliche Ideen von Marx übernommen
habe.
Erst John Maynard Keynes ist, folgt man U. Herrmann,
ein Ausbruch aus der gedanklichen mikroökonomischen Enge der Neoklassik
gelungen. Es sei „kein Zufall, dass Keynes als Erster erkannte, wie wichtig das
Geld ist“. Da stellt sich die Frage: Hatte nicht bereits Karl Marx, den Keynes
nie gelesen haben soll, in seinem „Kapital“ die Rolle des Geldes im
kapitalistischen Reproduktionsprozess ausführlich entwickelt und mit seiner
Formel G-W-G‘ das Geld quasi als im Zentrum kapitalistischen Denkens und
Handelns stehend qualifiziert?
Gewiss hat Keynes, wie es im Buch heißt, gegenüber der
Neoklassik die gesamte Ökonomie verändert und „eine neue ökonomische Weltsicht
entworfen – wie vor ihm nur Adam Smith und Karl Marx“. Aber hat er tatsächlich
die Theorie kapitalistischen
Wirtschaftens weiterentwickelt? „Das Kapital“ von Karl Marx nannte er „ein
überholtes Lehrbuch, von dem ich weiß, dass es nicht nur wissenschaftlich
falsch, sondern auch ohne Belang oder Anwendbarkeit für die moderne Welt ist“. Zugegeben,
Unternehmer und Kapitalgesellschaften werden mit Marx, dessen Theorie zu der
Konsequenz einer Vergesellschaftung des Eigentums führte, nicht viel anfangen
können; und Regierungen im Dienste des Kapitals auch nicht. Auch Keynes wollte
dem Kapital dienen, es funktionsfähig halten durch die Geldpolitik der
Zentralbanken einerseits und durch die Fiskalpolitik der Regierungen sowie
staatliche Investitionen andererseits. Man mag ihm ja zugutehalten, dass mit
ihm endlich einmal wieder ein Ökonom auch an die Reproduktion der Arbeitskraft
dachte. 1923 mokierte er sich, wie U. H. vermerkt, „über die Neigung der
Neoklassiker, große Opfer von den Beschäftigten zu verlangen – mit dem vagen
Versprechen, dass in einer fernen Zukunft alles besser würde.“ Für Laien
verständlich habe Keynes erklärt, wer gewinnt und wer verliert, wenn die Löhne
und damit die Preise um 10 Prozent fallen. Die Profiteure wären die
Vermögenden, die Geldbesitzer, die für jedes Pfund plötzlich mehr kaufen
könnten. Die Verlierer wären nicht nur die Arbeiter, sondern auch alle
Unternehmer, die Kredite aufgenommen haben, um zu investieren. Der Autorin
zufolge erkannte J. M. Keynes im Geld „ein Mittel des Klassenkampfs“ und
zitiert ihn folgendermaßen: „Die Wahrheit ist, dass wir auf halbem Wege
zwischen zwei ökonomischen Gesellschaftstheorien stehen. Die eine Theorie hält
daran fest, dass Löhne so festgesetzt werden sollten, dass es ‚fair‘ und
‚angemessen‘ zwischen den Klassen zugeht. Die andere Theorie … (Auslassung – H.
H.) sagt, dass Löhne durch wirtschaftlichen Druck bestimmt werden sollten,
durch die sogenannten ‚harten Fakten‘, und dass unsere mächtige Maschine alles
niedermalmen sollte, im Dienste eines allgemeinen Gleichgewichts und ohne
Rücksicht auf die zufälligen Folgen für einzelne Gruppen. Mit seinem Vertrauen
auf reine Zufälligkeiten, mit seinem Glauben an ‚automatische Anpassungen‘ und
mit seinem allgemeinen Desinteresse an sozialen Phänomenen ist der Goldstandard
ein zentrales Symbol und Idol jener, die die obersten Ränge in unserem System
einnehmen.“
Für die Zeitgenossen von J. M. Keynes im bürgerlichen
Lager mögen solche Worte 1925 ungeheuerlich und revolutionär geklungen haben. Doch
zeugen sie von größerer theoretischer Durchdringung der kapitalistischen
Produktionsweise als sie ein halbes Jahrhundert vorher im „Kapital“ von Karl
Marx dargelegt wurde? Als Zeitgenosse einer viele Jahrzehnte späteren Welt und
professioneller Spekulant mit außergewöhnlichen Einfällen und Einsichten
vermochte er es besser als seine neoklassischen Kontrahenten, die ganz neuen
Erscheinungen einer damals noch sehr jungen „Finanzindustrie“ zu deuten und praktische Schlussfolgerungen für ihre
Beherrschung zu ziehen. Ihren Niederschlag fanden sie in seinem 1936
erschienenen Hauptwerk „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und
des Geldes“, das er selbst für eine theoretische Revolution hielt. „Das Buch“,
stellt U. Herrmann fest, „löste sofort eine weltweite Debatte aus und hat die
Wirtschaftswissenschaften bleibend verändert“. Keynes habe die Finanzmärkte ins
Zentrum gerückt: „Er beschrieb den Kapitalismus als ein soziales System, das
durch die Börsen, die unkontrollierte Geldschöpfung und die Spekulation
getrieben wird. Keynes verstand als Erster, wie Geld und Produktion
zusammenhängen.“
Solche Einschätzung und ähnliche, etwa die Wert-,
Preis- und Werttheorie von K. Marx oder die Ursache von Arm und Reich in
unserer Gesellschaft betreffend, lassen vermuten, dass die Autorin entweder ihr
Wissen aus der Sekundärliteratur geschöpft oder Marx nicht verstanden hat.
Natürlich veränderte sich die zu untersuchende ökonomische Realität in der Welt
im Verlaufe der vielen Jahrzehnte, die zwischen Marx und Keynes lagen,
gewaltig. Und gewiss war es ein Verdienst des Briten, die neuen, weltweiten
Bedingungen des Wirtschaftens ins Visier seiner Untersuchungen genommen zu
haben. Doch er hat weder auf Marx aufgebaut (etwa wie Marx sich von den Gedanken
eines Adam Smith und David Ricardo hatte inspirieren lassen) noch einen ganz
neuen Denkansatz für das Verständnis des „modernen Kapitalismus“ und die Lösung
seiner Widersprüche sowie für die Überwindung des heutigen Desasters der
Weltgesellschaft gefunden – auch wenn er, wie U. H. schreibt, den gesamten
Kapitalismus umbauen, die Macht der Finanzmärkte einschränken, die großen
Vermögen besteuern und die öffentlichen Unternehmen stärken wollte. Letzteres natürlich
im Interesse des Kapitals. Er war eben ein ausgezeichneter Beobachter und
erfahrener Praktiker, der sogar die Psychologie, zum Beispiel den Herdentrieb
der Spekulanten, in seine Überlegungen einbezog.
In den letzten 40 Jahren ist, wie Frau Herrmann formuliert,
„exakt eingetreten, was Keynes theoretisch beschrieben hatte: Der Kapitalismus
wird von den Finanzmärkten dominiert – und verwandelt sich in ein globales
Casino.“ (Bedurfte es für solche Feststellung wirklich einer neuen, Marx
ignorierenden Theorie?) Trotzdem werde Keynes an den Universitäten kaum
gelehrt. Stattdessen dominiere eine moderne Variante der Neoklassik, die das
Thema Geld entweder ignoriere oder verstümmele.
Daraus schlussfolgert die Autorin, die Ökonomie müsse
zu Smith, Marx und Keynes zurückkehren. Allerdings dürfe man nicht den
neoklassischen Fehler wiederholen, nun ebenfalls nach „Wahrheiten“ zu suchen. Der
Kapitalismus sei so dynamisch, dass sich die Perspektiven und Themen ständig
ändern. Jede Generation müsse ihre eigene Wirtschaftswissenschaft erfinden,
doch Smith, Marx und Keynes könnten wesentliche Anregungen liefern. Das ist vielleicht
die wichtigste Feststellung Ulrike Herrmanns in ihrem Buch und sollte Aufforderung
und Orientierung besonders für die eigentliche Zielgruppe des Buches, die
Studierenden sein. Denen ist es sehr zur Lektüre zu empfehlen. Doch sollten sie
es kritisch lesen, vorsichtig mit Wertungen der Autorin umgehen und keinesfalls
auf ein Studium der Originalwerke der drei von ihr protegierten Theoretiker
verzichten. Das gilt besonders für Karl Marx. Denn ihm wirft Ulrike Herrmann
drei „Irrtümer“ vor: Die Arbeiter seien nicht verelendet, Ausbeutung gebe es,
aber nicht den Mehrwert, und Geld sei keine Ware. Mit solchen Aussagen der
Autorin sollten sich – nicht nur, aber vor allem – Studierende sehr kritisch
und dennoch kreativ auseinandersetzen. Dabei wird die Kunst darin bestehen,
Karl Marx nicht nur als Theoretiker der Ökonomie seiner Zeit zu begreifen,
sondern auch als vorausdenkenden Gesellschaftswissenschaftler. Als solcher
konnte er nämlich das Wesen der erwarteten, neuen Gesellschaft theoretisch charakterisieren
(so wie er das Wesen des Kapitalismus
seiner Zeit beschrieb) – auch wenn deren praktische Erscheinungsformen für ihn
weder erfassbar noch voraussehbar waren. Auch darin besteht eben der
Unterschied von Wesen und Erscheinung der uns umgebenden Welt (den zu verstehen
U. Herrmann schwerzufallen scheint, etwa bei ihrer Analyse von Wert und Preis).
Diese Dialektik im Heute aufzuspüren, also Momente des Wesentlichen einer
„neuen Gesellschaft“ (Marx) in der heutigen, scheinbar alten, zu erkennen und die
Gegenwart kreativ marxistisch zu erklären, um so einen Wandel im Bewusstsein –
und hier besonders im ökonomischen Denken - der Gesellschaft als ganze herbeizuführen,
dürfte die große Herausforderung junger Wirtschaftswissenschaftler sein. Ansätze
zu solch neuen Sichtweisen auf die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts finden
sich beispielsweise bei H. Hummel, „Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion
vom Reichtum“, (Projekte-Verlag, Halle 2005, ISBN 3-86634-048-6). Spannend
dürfte ebenfalls eine kritische, zugleich aber objektive Auseinandersetzung mit
der ökonomischen Theorie und Praxis des Realsozialismus sein. Diese Frage wurde
von Ulrike Herrmann leider vollständig ausgeblendet, obwohl mit Russland und
China zwei ökonomische und politische Großmächte aus diesem allgemein für einen
Fehlversuch gehaltenen Gesellschaftsmodell hervorgegangen sind und auch der von
ihr gewählte Buchtitel zu einer solchen Analyse eingeladen hätte. Ein Blick auf
diese scheinbar ganz andere ökonomische Welt hätte vielleicht die wirtschaftstheoretische
Frage aufkommen lassen können, wie es möglich sein konnte, dass gegen Ende des
vorigen Jahrhunderts ausgerechnet jenes System, welches sich siebzig Jahre lang
für das zukunftsträchtige gehalten hatte, sich - nach härtesten, feindseligen,
auch ideologischen Auseinandersetzungen mit dem Widerpart - von innen heraus
binnen äußerst kurzer Zeit selbst in das lange für überholt gehaltene
Wirtschaftsmodell transformierte und dabei noch zum „Motor“ der Weltwirtschaft
wurde. Praktische Erklärungen dafür gibt es viele. Doch wo liegt die theoretische Logik dieses „Wunders“? Schlussfolgerungen
aus dem Tatbestand dürften jedenfalls sein:
-
Die Unterschiede zwischen beiden
Wirtschaftssystemen waren wohl nicht so groß beziehungsweise prinzipiell wie
allgemein angenommen wurde. Das betrifft vor allem das Wesen des vom
Gold-Standard befreiten Geldes als Information über gesellschaftliche Arbeit
und Teilhabe am gesellschaftlichen Produkt.
-
Beide Systeme hatten sich im Verlaufe von
sieben Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts einen erbarmungslosen Kampf und Wettlauf
auf zwei verschiedenen Wegen der Vergesellschaftung von Produktion und Eigentum
geliefert, dem gleichen Ziel entgegen, der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts.
(Siehe auch:
H. Hummel, „Gesellschaft im Irrgarten. Die Tragik nicht nur linker Missverständnisse", NORA Verlagsgemeinschaft Dyck & Westerheide, Berlin 2009, ISBN 978-3-86557-201-1)
H. Hummel, „Gesellschaft im Irrgarten. Die Tragik nicht nur linker Missverständnisse", NORA Verlagsgemeinschaft Dyck & Westerheide, Berlin 2009, ISBN 978-3-86557-201-1)
-
Chinas großer ökonomischer Erfolg beruht auf
der Verbindung von zentraler, langfristig handlungsfähiger wirtschafts- und
finanzpolitischer Führung einerseits mit hoher Eigenverantwortung der
Unternehmen andererseits.
Wenn das Buch von Ulrike Herrmann nun eine
Initialzündung für ein neues Nachdenken und zu allgemeiner Rück- und
Neubesinnung brächte, hätte es sein von der Autorin gestelltes Ziel schon erreicht.
Eine sachliche, emotionslose Auseinandersetzung mit dem Realsozialismus wäre
insofern interessant, als dieser besonders stark von einem sach- und
problembezogenen ökonomischen Denken – insbesondere der Praktiker – geprägt
war. Seine theoretische Schwäche dürfte in der von Marx und Engels
überkommenen, dogmatisierten Vorstellung von einer zentralisierten ökonomischen
(Fein-)Planung ganzer Volkswirtschaften bei gleichzeitiger Unterschätzung, ja
Verteufelung von Prozessen der Selbstregulierung und gefürchteter Spontaneität gelegen
haben. Freilich gibt es auch dafür Ursachen und Erklärungen aus den Umständen
der Zeit heraus.
Ulrike
Herrmann, Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen
Ökonomie oder Was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können, Westend Verlag
GmbH, Frankfurt/Main 2016, ISBN 978-3-86489-141-0, 287 S., € 18,00
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