30. Oktober 2015
Sehr geehrte Frau
Bundeskanzlerin!
Ihre standhafte Haltung in
der Flüchtlingsfrage verdient große Anerkennung und Unterstützung, zumal die
Widerstände in Deutschland zuzunehmen scheinen und die europäische Solidarität
auf sehr schwachen Füßen steht. Angesichts der ungeheuren Herausforderung, vor
der Europa und insbesondere Deutschland stehen, drängt es mich, Sie in
der gebotenen Kürze auf einen möglichen Lösungsansatz für die Krise
hinzuweisen, der von der Bedeutung der Europäischen Zentralbank ausgeht. Von
dieser Institution war im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsproblem noch nichts zu
hören. Und ich möchte feststellen:
Wer den Euro retten konnte
muss auch Millionen Flüchtlinge retten!
Als Volkswirt sehe ich die
entscheidenden Ansatzpunkte für die Lösung des Flüchtlingsproblems auf
ökonomischem Gebiet. Die Politik muss dabei mit eigener Philosophie auch in der
Wirtschaft den Ton angeben, die Prämissen formulieren und darf sich nicht zum
Handlanger kurzsichtiger ökonomischer Interessen degradieren lassen. Das gilt
für die Ebene der Europäischen Union und ihrer Institutionen ebenso wie für die
einzelnen Mitgliedsländer.
Kann man europäische
Solidarität in der Flüchtlingsfrage unter den heutigen systemischen Bedingungen
in der EU wirklich erwarten? Wohl kaum, angesichts der gravierenden
Ungleichgewichte und Widersprüche! Deutschland als Exportweltmeister hat im
ökonomischen Wettbewerb seine europäischen Partner an die Wand gespielt, an den
Krisen der letzten Jahre auf Kosten der anderen gewonnen, mit seinen
Rüstungsexporten gut verdient und sich auch für die Flüchtlingsströme mitverantwortlich
gemacht. Zum bevorzugten Ziel der Flüchtenden ist Deutschland durch deutsche
Wirtschaftspolitik geworden.
Daraus folgt als Konsequenz:
Die europäische Solidarität kann nur mit ökonomischen Mitteln erreicht werden,
die es politisch im Rahmen der EU zu gestalten gilt. Und der Schlüssel dazu
liegt bei der Europäischen Zentralbank. Diese Bank ist ein Ergebnis
gravierender Veränderungen im System (nicht nur) der europäischen Wirtschaft
und Gesellschaft allgemein im Verlaufe des ganzen vorigen Jahrhunderts.
Vollzogen haben sich die Veränderungen auf zwei Wegen: Im Westen Europas als kontinuierlicher,
reformatorischer Prozess in der Funktionsweise der Wirtschaft als
„Marktwirtschaft“, im Osten auf der Basis politischer Gewalt und Gestaltung
einer zentralen staatlichen Wirtschaftsplanung. Dem östlichen System mangelte
es an Flexibilität bei der Durchsetzung des wissenschaftlich-technischen
Fortschritts. Und mit den Reformen des östlichen „Realsozialismus“, der
Rückkehr zur „Marktwirtschaft“, sollten westliche Flexibilität und Leistungsfähigkeit
erreicht werden. Die qualitativen Veränderungen, welche das Wirtschaftssystem (dasjenige
im Westen ebenso wie das im Osten) im Verlaufe von rund hundert Jahren erfahren
hatte, wurden von der Wirtschaftswissenschaft nicht in aller Konsequenz
herausgearbeitet. Ich meine damit vor allem die Erkenntnis, dass sich ein
grundlegender Wandel im Wesen Geldes vollzogen hat, dessen Kulminationspunkt 1971
mit der Abkopplung des US-Dollars und der an ihn gebundenen Währungen vom
Goldstandard erreicht wurde. Mit der
damaligen Notmaßnahme von US-Präsident R. Nixon wurden das Geld- und
Finanzsystem revolutioniert und mit ihm die Gesellschaft in ihren ökonomischen
Grundlagen umgestaltet. Ich habe dies in Veröffentlichungen ausführlich
dargestellt.
Auch wenn sich damals wohl
niemand über die grundlegende politökonomische Bedeutung des
Präsidentenerlasses im Klaren war und man Geld immer noch als Reichtum
betrachtete statt als Arbeitsquittung und damit Anspruchsbescheinigung beziehungsweise
Beleg für Teilhabe am sachlichen Reichtum der Gesellschaft, kam doch sehr
schnell die Erkenntnis, dass das System seine Grenzen verloren hatte. Und
gewiss nicht zufällig waren es zuerst amerikanische Banker, die mit viel
Erfindergeist die offenen Grenzen des Geldes ganz pragmatisch für unbegrenzte
Spekulationsgeschäfte zu nutzen verstanden. Ökonomischer Sinn und
wirtschaftliche Vernunft spielen bei diesen Geschäften keine Rolle mehr. Warum?
Weil Geld immer noch für das gehalten wird, was es vor hundert Jahren einmal
war, und weil ein neues Denken nicht auf dem Markt entsteht, weder auf dem
Warenmarkt noch auf dem sogenannten Geld- und Finanzmarkt!
In dieser Situation ist die
Politik zu handeln gefordert. Sie hat dem ökonomischen System gesetzlich
Grenzen zu setzen, die gewährleisten, dass es nicht kollabiert. Dabei kommt es
meines Erachtens vor allem darauf an, Wirtschaftsentwicklung als einheitliches,
komplexes Problem sachlich-struktureller und
finanzieller Entscheidungen zu verstehen und zu organisieren. Das heißt,
Wirtschafts- und Finanzpolitik müssen als unmittelbare Einheit betrachtet,
organisiert und betrieben werden. Eine zentrale Bedeutung kommt in diesem
Zusammenhang der Europäischen Zentralbank zu. Deren Status und Statut gilt es im
Interesse einer harmonischen Entwicklung im System der Europäischen Union den
Erfordernissen anzupassen. Die EZB müsste in die Lage versetzt werden, mit
ihrer Geldpolitik Wirtschaftspolitik zu betreiben. Sie müsste direkt zweckgebundene,
zinslose Kredite für große europäische Investitionsvorhaben zur Verfügung
stellen, um die eigentlichen Ursachen der gravierenden ökonomischen, sozialen
und Haushaltsprobleme Europas zu lösen. Solche Vorschläge wurden auch schon von
anderen öffentlich unterbreitet. Doch das entscheidende Problem besteht in der
Notwendigkeit, das Statut der Europäischen Zentralbank zu verändern, diese
Notwendigkeit anzuerkennen und durchzusetzen. Und gerade Deutschland hat sich
in der Vergangenheit solchem neuen Denken vehement entgegen gestellt. Nun ist
es dringend an der Zeit, diesen Kurs zu ändern, damit die Staatshaushalte
saniert, die zunehmende Verarmung großer Teile der Bevölkerung Europas
gestoppt, die soziale und politische Spaltung Europas abgebaut und auf
europäischer Ebene die Bewältigung der Flüchtlingskrise finanziert werden können.
Frau Bundeskanzlerin, darum
müssen politischer Wille und politische Macht eine Kursänderung herbei führen.
Und niemand verfügt zurzeit wohl über mehr Macht und Einfluss in Europa und auf
die Politik der EU als Sie. US-Präsident Nixon hatte 1971 den Mut, den
(internationalen) Vertrag von Bretton Woods kurzerhand zu brechen, um den
Abfluss von rund 8000 t Gold aus den USA zu stoppen. Für die
wirtschaftswissenschaftlichen Eliten der Welt war so etwas undenkbar gewesen. Dennoch
war es eine historische Tat, weil sie den Schlusspunkt einer schleichenden,
hundertjährigen Evolution des Weltfinanzsystems setzte und einen qualitativen
Sprung, eine Revolution bedeutete. EZB-Präsident Mario Dragi hatte 2014 den
Mut, das Statut der Europäischen Zentralbank zu brechen, indem er erklärte,
jede Menge von Staatsanleihen aufkaufen zu wollen, die notwendig wäre, um den
Euro zu retten. Wenn es der europäischen Politik nicht bald gelingt, eine
Statutenänderung der EZB herbeizuführen, müsste die Führung der Europäischen
Zentralbank zur Rettung der Europäischen Union und ihrer gemeinsamen Währung
eigentlich bereit sein, den Gründungsvertrag noch viel gravierender als 2014 zu
verletzen und eigenmächtig das Finanzsystem der EU schrittweise umzugestalten,
damit sie die solidarische Bewältigung der Flüchtlingskrise finanziell
erzwingen und absichern und die ökonomischen und sozialen Ungleichgewichte in
Europa ausgleichen kann.
Bei den Brüsseler
Verhandlungen zur Lösung der griechischen Schuldenkrise im Frühling dieses
Jahres hat die Regierung Griechenlands ein
Minimalprogramm vorgeschlagen, das keinerlei Veränderungen an den bestehenden
europäischen Verträgen verlangt, doch die Architektur der Eurozone grundlegend
umbauen würde. Es ist ein Programm mit realistischem Weitblick, es könnte die
Eurozone zukunftsfähig machen und würde auf einer zutreffenden Einschätzung der
aktuellen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation Europas basieren. Auch
mit deutschem Votum wurde dieses Minimalprogramm abgelehnt. Angesichts der
inzwischen eingetretenen europäischen Dramatik sollte verantwortungsvolles
politisches Denken und Handeln vielleicht auch darin bestehen, dass man sich
auf die griechischen Vorschläge rückbesinnt, um die notwendige
Weiterentwicklung des europäischen Projekts wenigstens mit einem ersten Schritt
einzuleiten; nicht zuletzt auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass
gerade Griechenland eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung des
Flüchtlingsstroms spielt.
Frau Bundeskanzlerin, ich
hoffe auf Ihr Verständnis, wenn ich dieses Schreiben öffentlich zur Diskussion
stelle, und verbleibe
Hochachtungsvoll
Heerke Hummel
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