Dienstag, 3. November 2015

Offener Brief



                                                                                                    30. Oktober  2015

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin!

Ihre standhafte Haltung in der Flüchtlingsfrage verdient große Anerkennung und Unterstützung, zumal die Widerstände in Deutschland zuzunehmen scheinen und die europäische Solidarität auf sehr schwachen Füßen steht. Angesichts der ungeheuren Herausforderung, vor der Europa und insbesondere Deutschland stehen, drängt es mich, Sie in der gebotenen Kürze auf einen möglichen Lösungsansatz für die Krise hinzuweisen, der von der Bedeutung der Europäischen Zentralbank ausgeht. Von dieser Institution war im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsproblem noch nichts zu hören. Und ich möchte feststellen:

Wer den Euro retten konnte muss auch Millionen Flüchtlinge retten!


Als Volkswirt sehe ich die entscheidenden Ansatzpunkte für die Lösung des Flüchtlingsproblems auf ökonomischem Gebiet. Die Politik muss dabei mit eigener Philosophie auch in der Wirtschaft den Ton angeben, die Prämissen formulieren und darf sich nicht zum Handlanger kurzsichtiger ökonomischer Interessen degradieren lassen. Das gilt für die Ebene der Europäischen Union und ihrer Institutionen ebenso wie für die einzelnen Mitgliedsländer.

Kann man europäische Solidarität in der Flüchtlingsfrage unter den heutigen systemischen Bedingungen in der EU wirklich erwarten? Wohl kaum, angesichts der gravierenden Ungleichgewichte und Widersprüche! Deutschland als Exportweltmeister hat im ökonomischen Wettbewerb seine europäischen Partner an die Wand gespielt, an den Krisen der letzten Jahre auf Kosten der anderen gewonnen, mit seinen Rüstungsexporten gut verdient und sich auch für die Flüchtlingsströme mitverantwortlich gemacht. Zum bevorzugten Ziel der Flüchtenden ist Deutschland durch deutsche Wirtschaftspolitik geworden.

Daraus folgt als Konsequenz: Die europäische Solidarität kann nur mit ökonomischen Mitteln erreicht werden, die es politisch im Rahmen der EU zu gestalten gilt. Und der Schlüssel dazu liegt bei der Europäischen Zentralbank. Diese Bank ist ein Ergebnis gravierender Veränderungen im System (nicht nur) der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft allgemein im Verlaufe des ganzen vorigen Jahrhunderts. Vollzogen haben sich die Veränderungen auf zwei Wegen: Im Westen Europas als kontinuierlicher, reformatorischer Prozess in der Funktionsweise der Wirtschaft als „Marktwirtschaft“, im Osten auf der Basis politischer Gewalt und Gestaltung einer zentralen staatlichen Wirtschaftsplanung. Dem östlichen System mangelte es an Flexibilität bei der Durchsetzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Und mit den Reformen des östlichen „Realsozialismus“, der Rückkehr zur „Marktwirtschaft“, sollten westliche Flexibilität und Leistungsfähigkeit erreicht werden. Die qualitativen Veränderungen, welche das Wirtschaftssystem (dasjenige im Westen ebenso wie das im Osten) im Verlaufe von rund hundert Jahren erfahren hatte, wurden von der Wirtschaftswissenschaft nicht in aller Konsequenz herausgearbeitet. Ich meine damit vor allem die Erkenntnis, dass sich ein grundlegender Wandel im Wesen Geldes vollzogen hat, dessen Kulminationspunkt 1971 mit der Abkopplung des US-Dollars und der an ihn gebundenen Währungen vom Goldstandard  erreicht wurde. Mit der damaligen Notmaßnahme von US-Präsident R. Nixon wurden das Geld- und Finanzsystem revolutioniert und mit ihm die Gesellschaft in ihren ökonomischen Grundlagen umgestaltet. Ich habe dies in Veröffentlichungen ausführlich dargestellt.

Auch wenn sich damals wohl niemand über die grundlegende politökonomische Bedeutung des Präsidentenerlasses im Klaren war und man Geld immer noch als Reichtum betrachtete statt als Arbeitsquittung und damit Anspruchsbescheinigung beziehungsweise Beleg für Teilhabe am sachlichen Reichtum der Gesellschaft, kam doch sehr schnell die Erkenntnis, dass das System seine Grenzen verloren hatte. Und gewiss nicht zufällig waren es zuerst amerikanische Banker, die mit viel Erfindergeist die offenen Grenzen des Geldes ganz pragmatisch für unbegrenzte Spekulationsgeschäfte zu nutzen verstanden. Ökonomischer Sinn und wirtschaftliche Vernunft spielen bei diesen Geschäften keine Rolle mehr. Warum? Weil Geld immer noch für das gehalten wird, was es vor hundert Jahren einmal war, und weil ein neues Denken nicht auf dem Markt entsteht, weder auf dem Warenmarkt noch auf dem sogenannten Geld- und Finanzmarkt!

In dieser Situation ist die Politik zu handeln gefordert. Sie hat dem ökonomischen System gesetzlich Grenzen zu setzen, die gewährleisten, dass es nicht kollabiert. Dabei kommt es meines Erachtens vor allem darauf an, Wirtschaftsentwicklung als einheitliches, komplexes Problem sachlich-struktureller und finanzieller Entscheidungen zu verstehen und zu organisieren. Das heißt, Wirtschafts- und Finanzpolitik müssen als unmittelbare Einheit betrachtet, organisiert und betrieben werden. Eine zentrale Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Europäischen Zentralbank zu. Deren Status und Statut gilt es im Interesse einer harmonischen Entwicklung im System der Europäischen Union den Erfordernissen anzupassen. Die EZB müsste in die Lage versetzt werden, mit ihrer Geldpolitik Wirtschaftspolitik zu betreiben. Sie müsste direkt zweckgebundene, zinslose Kredite für große europäische Investitionsvorhaben zur Verfügung stellen, um die eigentlichen Ursachen der gravierenden ökonomischen, sozialen und Haushaltsprobleme Europas zu lösen. Solche Vorschläge wurden auch schon von anderen öffentlich unterbreitet. Doch das entscheidende Problem besteht in der Notwendigkeit, das Statut der Europäischen Zentralbank zu verändern, diese Notwendigkeit anzuerkennen und durchzusetzen. Und gerade Deutschland hat sich in der Vergangenheit solchem neuen Denken vehement entgegen gestellt. Nun ist es dringend an der Zeit, diesen Kurs zu ändern, damit die Staatshaushalte saniert, die zunehmende Verarmung großer Teile der Bevölkerung Europas gestoppt, die soziale und politische Spaltung Europas abgebaut und auf europäischer Ebene die Bewältigung der Flüchtlingskrise finanziert werden können.  

Frau Bundeskanzlerin, darum müssen politischer Wille und politische Macht eine Kursänderung herbei führen. Und niemand verfügt zurzeit wohl über mehr Macht und Einfluss in Europa und auf die Politik der EU als Sie. US-Präsident Nixon hatte 1971 den Mut, den (internationalen) Vertrag von Bretton Woods kurzerhand zu brechen, um den Abfluss von rund 8000 t Gold aus den USA zu stoppen. Für die wirtschaftswissenschaftlichen Eliten der Welt war so etwas undenkbar gewesen. Dennoch war es eine historische Tat, weil sie den Schlusspunkt einer schleichenden, hundertjährigen Evolution des Weltfinanzsystems setzte und einen qualitativen Sprung, eine Revolution bedeutete. EZB-Präsident Mario Dragi hatte 2014 den Mut, das Statut der Europäischen Zentralbank zu brechen, indem er erklärte, jede Menge von Staatsanleihen aufkaufen zu wollen, die notwendig wäre, um den Euro zu retten. Wenn es der europäischen Politik nicht bald gelingt, eine Statutenänderung der EZB herbeizuführen, müsste die Führung der Europäischen Zentralbank zur Rettung der Europäischen Union und ihrer gemeinsamen Währung eigentlich bereit sein, den Gründungsvertrag noch viel gravierender als 2014 zu verletzen und eigenmächtig das Finanzsystem der EU schrittweise umzugestalten, damit sie die solidarische Bewältigung der Flüchtlingskrise finanziell erzwingen und absichern und die ökonomischen und sozialen Ungleichgewichte in Europa ausgleichen kann.

Bei den Brüsseler Verhandlungen zur Lösung der griechischen Schuldenkrise im Frühling dieses Jahres hat die Regierung Griechenlands ein Minimalprogramm vorgeschlagen, das keinerlei Veränderungen an den bestehenden europäischen Verträgen verlangt, doch die Architektur der Eurozone grundlegend umbauen würde. Es ist ein Programm mit realistischem Weitblick, es könnte die Eurozone zukunftsfähig machen und würde auf einer zutreffenden Einschätzung der aktuellen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation Europas basieren. Auch mit deutschem Votum wurde dieses Minimalprogramm abgelehnt. Angesichts der inzwischen eingetretenen europäischen Dramatik sollte verantwortungsvolles politisches Denken und Handeln vielleicht auch darin bestehen, dass man sich auf die griechischen Vorschläge rückbesinnt, um die notwendige Weiterentwicklung des europäischen Projekts wenigstens mit einem ersten Schritt einzuleiten; nicht zuletzt auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass gerade Griechenland eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung des Flüchtlingsstroms spielt.
Frau Bundeskanzlerin, ich hoffe auf Ihr Verständnis, wenn ich dieses Schreiben öffentlich zur Diskussion stelle, und verbleibe

Hochachtungsvoll

Heerke Hummel


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