Von Heerke
Hummel
(Erschienen in: „Das Blättchen“,
Nr. 22/2915 - http://das-blaettchen.de/2015/10/deutschland-ueber-alles-34259.html)
Wer glaubt, das Thema
„Griechenland“ sei mit dem Ausgang der dortigen Septemberwahl vom Tisch, dürfte
sich schon bald über seine Kurzsichtigkeit Gedanken machen. Denn solange das
von der EU unter Federführung Deutschlands verhängte Spardiktat aufrecht
erhalten wird, kann dieses Land, kann Europa nicht zur Ruhe kommen. Das ist die
Quintessenz aus einem Taschenbuch, das seit kurzem in deutscher Übersetzung
vorliegt und dessen Autoren Yanis Varoufakis, Stuart Holland und James K.
Galbraith sind. Sein Titel: „Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise“.[i]
a) Europa
sehr viel weniger kosten würde als die vormalige, erfolglose „Rettung“
Griechenlands mit einem Kredit in Höhe von 240 Milliarden Euro,
b) Europa zu
einer schnellen Erholung verhelfen und
c) keine
mühsamen Änderungen an den bestehenden europäischen Verträgen und Institutionen
erfordern würde.
„Die Krise in der Eurozone“, schreiben die
Autoren, „entfaltet sich auf vier miteinander verbundenen Feldern.“ Es handle sich
dabei um eine Bankenkrise, eine Schuldenkrise, eine Investitionskrise und um
eine soziale Krise.
Das neueste Phänomen, die
Flüchtlingskrise (als Erscheinung der sozialen), war seinerzeit in ihren
Dimensionen für denkende Menschen sicherlich absehbar, aber für die praktische
Politik (noch!) von geringerer Bedeutung. Von den Autoren wird sie daher auch
nicht erwähnt. Heute unterstreicht aber auch dieses Drama, das von manchen als
viel größere Herausforderung für Europa betrachtet wird als die griechische
Krise, mit seinem obszönen Feilschen um Flüchtlingsquoten, nach denen Menschen
in Europa „verteilt“ werden sollen, die Warnung der Autoren vor den
zentrifugalen Kräften in der EU, die heute am Werk sind und den Euro zu
zerreißen drohen. Auf der Grundlage der bestehenden Institutionen und
politischen Strategien, schreiben sie, könne der Euro keinen Bestand haben.
Entweder werde es radikale Veränderungen bei den Institutionen der Eurozone
geben, oder die gemeinsame Währung werde zwangsläufig scheitern, was verheerend
für Europa wäre. „Wir müssen rasch handeln“, fahren sie fort, „nicht nur weil
die Kluft zwischen den Wirtschaftssystemen der Länder im Zentrum Europas und
den Ländern an der Peripherie tiefer wird und die Eurozone zu zerreißen droht,
sondern auch weil – und das wiegt noch schwerer – die durch die Krise
verursachten sozialen Probleme immer größer werden. Tatsächlich steht nicht nur
die Zukunft der Eurozone auf dem Spiel. Wenn der Euro durch die zentrifugalen
Kräfte zerrissen wird, …, werden die Folgen seines Zusammenbruchs so schwerwiegend
sein und der Aufstieg des Nationalismus so bedrohlich, dass es eine Illusion
ist zu glauben, von der EU könne mehr übrig bleiben als ihre Initialen.“
Als Ausweg aus dem Dilemma, dass
im System der EU radikale Veränderungen hin zu einer föderalen Struktur
notwendig wären, diese aber in der aktuellen Situation nicht zu erreichen sind,
unterbreiten Varoufakis und seine Co-Autoren mit ihrem „Bescheidenen Vorschlag“
ein Minimalprogramm zur Lösung der
Eurokrise, das „keinerlei Veränderungen an den bestehenden europäischen
Verträgen“ verlangt, doch die Architektur der Eurozone grundlegend umbauen
würde. Es ist ein Programm mit realistischem Weitblick, könnte die Eurozone
zukunftsfähig machen und würde „auf einer zutreffenden Einschätzung der
aktuellen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation Europas“ basieren.
Varoufakis, Holland und
Galbraith schlagen „vier politische Strategien“ (entsprechend den vier von
ihnen ausgemachten Krisenfeldern) vor, denen sie jeweils eine spezielle
„Vorgabe“ zu Grunde legen, in welcher die Bedingungen formuliert werden, damit
ihr Projekt tatsächlich den derzeit gültigen Vertragsbedingungen in der
Eurozone entspricht. Verhandlungen über Vertragsänderungen würden sich nämlich
aller Voraussicht nach unabsehbar in die Länge ziehen und eine rasche Überwindung der Krise, auf die es
dringend ankommt, unmöglich machen. Mit diesen Vorgaben wird gezielt
nachgewiesen, dass man gerade auch die deutschen Interessen und Standpunkte bei
der ursprünglichen Ausarbeitung der bestehenden Verträge auch jetzt
berücksichtigt und auf keinen Fall verletzen will; beispielsweise was
Deutschlands strikte Ablehnung einer „Transferunion“ anbelangt. Die Autoren
sprechen in diesem Zusammenhang vom „Prinzip der komplett getrennten
Staatsschulden“, das unbedingt zu akzeptieren sei. Und sie denken, „wenn eine
Lösung verlangen würde, das Prinzip der komplett getrennten Schulden eines
jeden Landes zu verletzen, würde Berlin lieber den Euro aufgeben als diese
Lösung zu akzeptieren.“
Mit der ersten Strategie,
einem Fall-zu-Fall-Programm für die Banken, soll die von den Autoren
ausgemachte derzeitige Sackgasse der Bankenunion umgangen werden, indem sie die
Staatsschulden und die Rekapitalisierung der Banken entkoppelt und die
Möglichkeit eröffnet, später in Ruhe doch noch eine „echte“ Bankenunion zu
schaffen. Die zweite Strategie betrifft ein Beschränktes
Umschuldungsprogramm, um den Schuldenberg der Eurozone schmelzen zu lassen,
und zwar durch die Umschuldung der „Maastricht-konformen Staatsschulden“ mit
Hilfe von Europäischer Zentralbank und Europäischem Stabilitätsmechanismus. Die
dritte Strategie beinhaltet ein Investitionsgestütztes Rettungs- und Konvergenzprogramm,
um globale Kapitalressourcen in Investitionsvorhaben in Europa, insbesondere in
der Peripherie, zu leiten. Und schließlich soll die vierte Strategie mit einem Notprogramm
für soziale Solidarität Gelder erschließen, die durch die Asymmetrien im
europäischen System der Zentralbanken aufgelaufen sind, um die von der Krise
erzeugte Not der Menschen zu lindern.
Hier wird sichtbar: Der
unterbreitete Bescheidene Vorschlag zeichnet sich unter anderem auch dadurch
aus, dass er das Wohl aller in der
Eurozone lebenden Menschen im Auge hat. In ihrer Zustandsanalyse sprechen die
Autoren von „einer sozialen Krise unerhörten Ausmaßes, die zuerst die
verwundbaren Länder in der Peripherie zu spüren bekamen (zum Beispiel
Griechenland, Portugal, Irland), dann aber auch die arbeitenden Schichten in
Überschussländern wie Deutschland (wo die Quote der ‚working poor‘, der
Menschen, die von ihrem Lohn nicht leben können, in die Höhe geschossen ist).“
Die strikte Sparpolitik der letzten Jahre und eine Rezession, die sich selbst nährt, hätten von den Europäern ihren Tribut gefordert. Zum ersten Mal innerhalb von zwei Generationen, heißt es, stellten die Europäer das europäische Projekt infrage. Nichts bedrohe den Fortbestand der EU mehr als der stetig wachsende Zweifel der Europäer, ob die EU funktionsfähig ist und ob sie gute Absichten hegt. Als Konsequenz aus dem Versagen der europäischen Politiker und der europäischen Institutionen, der Krise rational zu begegnen – insbesondere der sozialen Krise -, erlebe der Nationalismus eine „Blüte“, die oft sogar im Vormarsch von Neonazi-Parteien ihren Ausdruck findet. Und wenn Europa nicht rasch und geeint handelt, um die soziale Krise zu bekämpfen, die es mit seiner Politik erzeugt hat, würden die Europäer die EU bald als einen Feind betrachten und den Nationalismus als die einzige mögliche Alternative. Das müsse verhindert werden, sofort.
Die strikte Sparpolitik der letzten Jahre und eine Rezession, die sich selbst nährt, hätten von den Europäern ihren Tribut gefordert. Zum ersten Mal innerhalb von zwei Generationen, heißt es, stellten die Europäer das europäische Projekt infrage. Nichts bedrohe den Fortbestand der EU mehr als der stetig wachsende Zweifel der Europäer, ob die EU funktionsfähig ist und ob sie gute Absichten hegt. Als Konsequenz aus dem Versagen der europäischen Politiker und der europäischen Institutionen, der Krise rational zu begegnen – insbesondere der sozialen Krise -, erlebe der Nationalismus eine „Blüte“, die oft sogar im Vormarsch von Neonazi-Parteien ihren Ausdruck findet. Und wenn Europa nicht rasch und geeint handelt, um die soziale Krise zu bekämpfen, die es mit seiner Politik erzeugt hat, würden die Europäer die EU bald als einen Feind betrachten und den Nationalismus als die einzige mögliche Alternative. Das müsse verhindert werden, sofort.
Die Brüsseler (deutsch
geprägte) Antwort auf solche Warnungen und auf Angebote für eine von Vernunft,
Weitblick und Realitätssinn getragene Lösung der griechischen Schuldenkrise ist
bekannt: Nein, nein, weiter sparen! Wo ist dafür der Grund zu suchen? Wenn es
nicht die persönliche Dummheit von Politikern war, muss es wohl die Absicht
gewesen sein, die Herrschaftsinteressen bestimmter Eliten in und über Europa um
vermeintlicher nationaler Vorteile Willen unbedingt zu sichern; komme was da
wolle. Inzwischen hat die Weltflüchtlingskrise auch Europa erreicht und
insbesondere Deutschland, das sich mit seiner Wirtschaftspolitik und mit seiner
EU-Strategie seit Jahrzehnten selbst zum bevorzugten Ziel des Flüchtlingsstroms
gemacht hat und sich nun mit dem Problem überfordert fühlt. Mag sein – und es wäre
zu hoffen -, dass die Not und der Druck vieler Millionen flüchtender Menschen
nun ein Umdenken und vielleicht auch ein Besinnen auf die hier nur grob
skizzierten „bescheidenen“ Vorschläge erzwingt.
[i] Yanis
Varoufakis, Stuart Holland, James K. Galbraith, Bescheidener Vorschlag zur
Lösung der Eurokrise, Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2015, ISBN
978-3-95614-051-8, 63 S., 5,00 EUR
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