Dienstag, 15. September 2015

Gratulation, Herr Varoufakis!



Von Heerke Hummel
(Erschienen in: „Das Blättchen“ – www.das-blaettchen.de - Nr.19/2015)

Mit einem Buch hat Yanis Varoufakis, bei Europas Konservativen als kurzzeitiger Skandal-Finanzminister Griechenlands verschrien, bereits 2013 versucht, der Welt klarzumachen, warum es an der Zeit ist, einen Wandel im ökonomischen Denken sowie in der Wirtschafts- und Finanzpolitik einzuleiten. Verbal ist ihm das im Kreis seiner EU-Ministerkollegen während der diesjährigen Brüsseler Verhandlungen zur Lösung der griechischen Schuldenfrage dennoch nicht gelungen. Nun ist die deutsche Übersetzung seines Werks erschienen.[i]

Kurz und knapp und leicht verständlich erläutert der Autor das Funktionieren und das gesellschaftliche Verständnis von Wirtschaft in Vergangenheit und Gegenwart. Ohne sich auf Karl Marx zu beziehen und ohne mit dessen ökonomischen Begriffen zu operieren, vermittelt er dem Leser ein anschauliches und im Wesentlichen marxistisches Bild ökonomischen Denkens und volkswirtschaftlicher Beziehungen in – wie er es nennt – „Marktgesellschaften“ im Unterschied zu „Gesellschaften mit Märkten“. Überzeugend führt er dabei dem Leser den Zusammenhang von Politik und Ökonomie vor Augen sowie die Rolle des Staates, heute als Vertreter der Interessen der Reichen im Allgemeinen und der Banker im Besonderen. Um Varoufakis folgen zu können, bedarf der Leser nicht besonderer ökonomischer Kenntnisse. Denn der Autor argumentiert nicht mit theoretischen Lehrsätzen, sondern zeigt ganz praktisch und anschaulich, welche ursächlichen Veränderungen in der Art und Weise des Wirtschaftens bei der Herausbildung der „Marktgesellschaften“ im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts dem Elend von Millionen Enteigneten und Existenzlosen ursächlich zu Grunde lagen. Und es wird uns auch vorgeführt, welche Wandlungen in jüngster Zeit ganze Staaten, unseren Kontinent, ja die Welt in eine neue Krise geführt haben.
Varoufakis spricht nicht von Kapitalismus, sondern von Marktgesellschaft. Warum? Er äußert sich dazu nicht, aber wahrscheinlich weil das, was Marx analysierte, nicht mehr existiert. Was wir gerade erleben, ist eine Totalität des Marktes und magische Macht des Geldes in bisher nicht dagewesenem Maße: Kaufen, nicht weil wir etwas brauchen, sondern weil Shoppen einfach Spaß macht, unterhaltsame Freizeitbeschäftigung geworden ist. Kaufen, um Wegwerfen zu können. Der Wirtschaft geht es weniger darum, Bedürfnisse zu befriedigen als um die Schaffung neuer. Das ist gefragt, egal wie sinnlos, destruktiv da gehandelt wird. Wir arbeiten nicht um zu leben, sondern um Bedürfnisse zu befriedigen, die wir gar nicht hatten, sondern uns suggeriert wurden. Wir leben nicht, um durch Bildung und Kreativität etwas Sinnvolles zu schaffen, sondern um uns dem Diktat einer Technik zu unterwerfen, die den Menschen eigentlich von mühseliger Arbeit befreien sollte. Und so wurde unser Leben zu einem ständigen Rennen im Hamsterrad der Märkte, auf dass diese wachsen, wachsen, wachsen – und mit ihnen nichts weiter als die Zahlenkolonnen auf den Konten von Milliardären; während das Leben von Milliarden Menschen verarmt, die Natur geschändet wird und unser Planet zugrunde zu gehen droht. Varoufakis sagt seiner Tochter: „Viele werden dir erzählen, dein Vater wüsste nicht, was er sagt. Die Ökonomie oder Wirtschaftstheorie sei eine Wissenschaft. Wie die Physik eine Wissenschaft sei, die die Natur methodisch und mit mathematischen Mitteln analysiere, kombiniere auch die Ökonomie Mathematik, Statistik und Logik, um die sozioökonomischen Phänomene wissenschaftlich zu analysieren. Nonsens!“ Die erdrückende Mehrheit seiner Kollegen, der Wirtschaftswissenschaftler, fährt er schließlich fort, wirke wie „Theologen, die mathematische Beweise über die Existenz Gottes ins Feld führen …“
Man muss dem Autor nicht in allem zustimmen, was er schreibt, beziehungsweise wie er manches erklärt; etwa was die die Arbeit, die Arbeitskraft und die Schaffung des „Überschusses“, des Mehrprodukts und des Mehrwerts betrifft. Und man kann an manchen Stellen sicherlich auch zu noch weiterführenden Sichtweisen kommen. Indem man beispielsweise im heutigen Geld-, Finanz- und Bankensystem die Keime einer allgemeinen Buch- und Rechnungsführung über den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess erkennt, die es sinnvoll zu entwickeln gilt. Doch solche offenen Wünsche sind völlig zweitrangig. Denn das Entscheidende an diesem Buch sind die Denkweise, die hier vermittelt wird, und die Problemlösungen, zu denen es damit hinführt. So kommt Varoufakis in Bezug auf das Geld, seine Schöpfung und seine Verteilung zu dem Schluss, dass „das Geld nur politisiert sein kann und sein Umfang von einem staatlichen System überwacht werden muss ...“ Und: „… unsere einzige Hoffnung auf eine passable Verwaltung des Geldes (liegt) in der demokratischen Kontrolle derer, die im Interesse der Gesellschaft das unvermeidlich politische Geld verwalten.“
Mit seiner Leidenschaft und mit beeindruckenden Bezugnahmen auf Filme wie „The Terminator“  und „Matrix“, auf so bedeutende literarische Konflikte wie den zwischen Doktor Faustus und Mephistopheles in Christopher Marlowes Theaterstück  aus dem 16. Jahrhundert oder im „Zauberlehrling“ von Goethe dürfte es Varoufakis gelingen, ein breit gefächertes Publikum nicht nur für Fragen der Wirtschaft im Allgemeinen zu interessieren. Vor allem jüngere Leute dürfte sein Buch anregen mitzudenken, nachzudenken und sowohl die augenscheinliche Realität der Gegenwart einerseits wie auch die vom Mainstream vorgegebenen Erklärungen und Problemlösungen andererseits kritisch zu hinterfragen. Es dürfte ihnen helfen, das Wirtschaften als etwas zu begreifen, bei dem es wohl verstanden nicht um Plus und Minus von Rechengrößen geht, also Geld, sondern um unsere Lebensgrundlagen, die es zu schaffen und zu erhalten gilt. Bei Varoufakis ist Ökonomie sehr eng mit Politik und Philosophie verbunden. Daher kann sein Buch gerade jungen Menschen bei der Entscheidung zwischen zwei Wegen helfen: zu leben „in einer trügerischen Scheinwelt wie die, die glauben, was die Wirtschaftshandbücher über die Gesellschaft erzählen, die ‚ernsthaften‘ Wirtschaftsanalytiker, die Europäische Kommission, die erfolgreichen Werbefritzen.“ Dann ist man „nicht mit dem sadistischen Absolutismus der herrschenden Ideologie konfrontiert. Das Leben wird schmerzlos verlaufen, unkompliziert, in Harmonie mit den Erwartungen der Machtausübenden.“ Oder: Entscheide dich für „die Denk- und Sichtweise dieses Buches …, und dich erwartet ein schwieriges und gefährliches Leben.“
Yanis Varoufakis selbst hat ein Beispiel gegeben. Für ein Leben als Finanzminister von Herrn Schäubles Gnaden im Hamsterrad dieser Marktgesellschaft war er nicht zu haben - und nahm seinen Hut. Auch dafür gebührt ihm hohe Anerkennung.


[i] Yanis Varoufakis, Time for Change. Wie ich meiner Tochter die Wirtschaft erkläre, Carl Hanser Verlag, München 2015, ISBN 978-3-446-44524-6, 179 S., 17,90 €

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