Von
Heerke Hummel
(Erschienen in: „Das Blättchen“, Nr. 25/2013 - http://das-blaettchen.de/16-jahrgang-2013/25-2013.html)
Nun soll er also laut Koalitionsvertragsentwurf
kommen, der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 € pro Stunde; wenn auch nur sehr
schleppend ab dem Jahr 2015 im Verlaufe einer zweijährigen Übergangsphase bis
2017. Was alles in dieser Zeit in der Wirtschaft wirklich geschehen wird, weiß
heute niemand. Gutgläubige hoffen, Kritiker – besonders aus dem Lager der
Unternehmer – sorgen sich und warnen vor dem Verlust von Arbeitsplätzen. Wenn es
dazu Einestages und mit großer Wahrscheinlichkeit tatsächlich kommt, wird es
dem Kapital nicht schwer fallen, den Mindestlohn dafür verantwortlich zu machen.
In diesem Fall möge man sich dann daran erinnern, dass laut neuester Mitteilung
der Bundesagentur für Arbeit (BA) sich die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland
im November 2013 gegenüber dem Vormonat um 5.000 und gegenüber dem Vorjahr
sogar um 55.000 erhöht hat – auch ohne Einführung eines gesetzlichen
Mindestlohns und trotz konjunkturellen Aufschwungs seit geraumer Zeit.
Gewiss, auch die niedrigsten Löhne sind ein
Kostenfaktor, der im Überlebenskampf auf dem Markt noch negativ zu Buche
schlägt. Aber sie sind nur ein Faktor
unter vielen und können durch positive Effekte bei anderen günstig beeinflusst
werden. Zum Beispiel lassen sich Kostensteigerungen bei den untersten Löhnen
durch entsprechend langsameres Wachstum der oberen Einkommen, durch Reduzierung
der Gewinnmargen und Dividendenausschüttungen gut und gerne ausgleichen – von
allgemeinen Produktivitätssteigerungen und Kostensenkungen ganz abgesehen. Und
darüber hinaus: Sind die staatlichen Ausgleichzahlungen der Arbeitsagenturen
beziehungsweise Sozialämter für Löhne unter dem Existenzminimum etwa kein
Kostenfaktor für die Gesellschaft als Ganze? Sie führten schon seit Jahren zu
einer Sozialisierung der Kosten bei Privatisierung der Gewinne. Dieses Phänomen
war durchaus nicht nur an den „Rettungsschirmen“ für die Bankensanierung im
Zuge der Finanzkrise festzumachen! Es war seit Jahrzehnten die Folge einer
deutschen Wirtschaftspolitik, die sich ihr Handeln mehr und mehr von der
Interessenlobby des Kapitals diktieren ließ, aller gesamtgesellschaftlichen und
auch ökonomischen Vernunft zum Trotz und egal in welcher parteipolitischen
Koalition. Die ökonomische Notwendigkeit gebietet einen politisch-ökonomischen
Paradigmenwechsel. Ein halbes Jahrzehnt Finanz- und Staatsschuldenkrise ohne
sichtbares Ende scheint nun dem politischen und auch dem ökonomischen Establishment
dieser Gesellschaft die „Erkenntnis“ förmlich aufgezwungen zu haben, dass es
ein „weiter so“ nicht geben kann. Von wirklicher Einsicht in ökonomische
Zusammenhänge kann keine Rede sein angesichts des blinden Eifers, mit dem
private Interessen bis zur Absurdität verfolgt werden.
Deutschland ist Exportweltmeister – also auf dem
Weltmarkt außerordentlich konkurrenzfähig, dank des technischen und
qualitativen Höchststandes seiner Erzeugnisse, aber auch dank seiner günstigen
Produktionskosten, die unter anderem dem niedrigen Lohnniveau zu verdanken
sind. Und in einer solch starken ökonomischen Situation sollte man sich keinen
Mindestlohn leisten können, der existenzsichernd ist?
Wer Handelsbilanzüberschüsse realisiert, konsumiert
weniger als er erzeugt, gibt mehr als er nimmt, liefert auf Kredit, wird zum
Gläubiger seiner Schuldner. Wie lange kann das funktionieren? Bis es niemanden
mehr gibt, der bei ihm kaufen kann! Deutschland sägt an dem Baum, an dem sein
Wohlstand wächst. Bedauernswerte Unternehmer, die das nicht verstehen wollen!
Bedauernswert auch, wer aus Habgier den sozialen
Frieden aufs Spiel setzt. In Portugal treibt eine neue Sparorgie die
Staatsdiener und die Rentner zu Demonstrationen auf die Straße, weil der
verarmte Staat sich auf ihre Kosten sanieren zu müssen glaubt. Und die
Besserverdienenden gehen mit ihrem Geld, das sie dank Steuerungerechtigkeit im
Überfluss haben, an die Börse und ins Ausland. Für Deutschland konstatiert der
jüngste Armutsbericht der Regierung eine wachsende Verelendung. Eine Zunahme
der gesellschaftlichen Spannungen hier und in aller Welt ist absehbar und
vielerorts seit geraumer Zeit bereits sichtbar.
Bemerkenswert in dieser von Unruhen in allen Teilen
der Welt gekennzeichneten Situation ist die jüngste Kritik des Papstes am
derzeitigen Wirtschaftssystem: Das Nein des Oberhauptes von mehr als einer
Milliarde Katholiken in der ganzen Welt zur Vergötterung des Geldes und sein
Nein zur sozialen Ungerechtigkeit. Seine Aufforderung zur Reform des
Dogmatismus mag nicht nur im religiösen Sinne verstanden werden. Auch das
tonangebende, verkrustete ökonomische Denken gilt es zu reformieren und es den
Veränderungen in der Welt zu öffnen, die sich seit Jahrzehnten bereits
vollzogen haben. Könnte die Botschaft von Papst Franziskus vielleicht doch zum
Aufbruch in eine neue Welt beitragen? Auch für den Unternehmerflügel von CDU
und CSU gäbe sie Grund zur Hoffnung, wäre er denn bereit, sich mit dem Herzen
und mit dem Verstand den Bedingungen des 21. Jahrhunderts zu öffnen. Denn der
erforderliche Wandel läge auch in ihrem eigenen Interesse.
Mindestlöhne reflektieren doch immer auch die darin enthaltene Wertschoepfung oder? Also je höher die Bildung, Qualifikation, desto weiter bin ich auch weg vom Mindestlohn. Ist somit nicht auch die Pflicht eines jeden, das Maximum aus seinen Potentialen zu machen (Marie Curie) ein ganz persönlicher Beiträge eines jeden, nicht vom Mindestlohn leben zu muessen, zumindest in Deutschland!? Natürlich kann man für alles Unternehmer und Gesellschaft verantwortlich mache , aber nicht für mangelnden Leistungswillen.
AntwortenLöschenHerzliche Gr
Lieber Herr Held, vielen Dank für Ihren Kommentar! Mangelnden Leistungswillen halte ich allerdings nicht für die wesentliche Ursache der verbreiteten Zahlung von Niedriglöhnen, die nicht existenzsichernd sind. Die große Mehrzahl betroffener Beschäftigter halte ich durchaus für leistungswillig, möglicherweise nicht in der Lage, „mehr“ zu leisten; sei es, weil sie vom Schicksal nicht mit größeren Gaben bedacht wurden, keine Möglichkeiten zu größerer Qualifizierung hatten oder trotz Qualifizierung das „Pech“ hatten, in dieser Qualifikation nicht gebraucht zu werden und so zu schlecht bezahlter Arbeit verdammt zu sein.
LöschenDarüber hinaus ist die von Ihnen angesprochene Wertschöpfung nicht von der Qualifizierung einzelner Mitarbeiter abhängig, sondern vom Markterfolg des Produkts des betrieblichen Gesamtarbeiters. Wie sich dessen (ich nenne es mal so) Wertprodukt aufteilt in Unternehmergewinn und Arbeitslohn der einzelnen Beschäftigtengruppen, ist abhängig von den Kräfte- und Machtverhältnissen. Dass diese Auseinandersetzung um die Verteilung des erzeugten Neuwerts die Schwächsten zu den Ärmsten macht, liegt auf der Hand. Doch wie die Relationen der Verteilung zu sein haben, halte ich nicht – wie etwa linke Politiker – für eine Frage der Gerechtigkeit, sondern der ökonomischen Vernunft bzw. Notwendigkeit. Vor allem muss die Bezahlung existenzsichernd sein. Die Vergütung muss aber auch gewährleisten, dass das Gesamtprodukt einer Gesellschaft von der Gesamtheit ihrer Mitglieder verbraucht, also gekauft werden kann. Bekommen die einen so viel Geld, dass sie „ihren Anteil“ nicht verbrauchen wollen oder können, also nicht kaufen, während die anderen mit ihrem Einkommen nicht auskommen, so gerät der Reproduktionsprozess ins Stocken, und die Gesellschaft als ganze hat ein Reproduktionsproblem, eine Krise am Hals. Und das liegt in niemandes Interesse, auch nicht der Unternehmer.
Diese will ich durchaus nicht für das Problem der Dumpinglöhne verantwortlich machen. Jeder einzelne von ihnen muss sich „marktgerecht“ verhalten. Aber „der Markt“ vermag die Wirtschaft nicht krisenfrei zu regulieren. Eben darum muss die Politik gesetzgeberisch eingreifen. „Arme Unternehmer“ war von mir durchaus nicht nur ironisch gemeint. Wir brauchen sie, die Organisatoren der gesellschaftlichen Produktion. Aber sie brauchen auch die Einsicht in gesellschaftliche Erfordernisse. Andernfalls sind sie zu bedauern.